Verspäteter Flug nach Griechenland wegen Krankenmeldungen des Flugpersonals

LG Frankfurt: Verspäteter Flug nach Griechenland wegen Krankenmeldungen des Flugpersonals

Der Kläger hatte bei einem Reiseveranstalter eine Pauschalreise gebucht, deren Hinflug durch die Beklagte durchgeführt werden sollte. Wegen eines Streiks wurde dieser aber annulliert. Der Kläger erhielt von dem Reiseveranstalter Zahlungen für einen Ersatzurlaub. Er verlangt zudem Ausgleichszahlungen von der Beklagten.

Das Amtsgericht hatte der Klage stattgegeben. Das Landgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise statt, mit dem Ergebnis, dass auf den Ausgleichsanspruch des Klägers die Zahlungen des Reiseveranstalters anzurechnen sind.

LG Frankfurt 2-24 S 109/17 (Aktenzeichen)
LG Frankfurt: LG Frankfurt, Urt. vom 20.08.2018
Rechtsweg: LG Frankfurt, Urt. v. 20.08.2018, Az: 2-24 S 109/17
AG Frankfurt, Urt. v. 4.5.2017, Az: 29 C 3673/16 (19)
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Landgericht Frankfurt

1. Urteil vom 20. August 2018

Aktenzeichen 2-24 S 109/17

Leitsatz:

2. Ein Flugunternehmen kann Leistungen eines Reiseveranstalters wegen Flugausfall auf den gegen es selbst gerichteten Ausgleichsanspruch nach der Fluggastrechteverordnung anrechnen.

Zusammenfassung:

3. Der Kläger hatte bei einem Reiseveranstalter eine Pauschalreise nach Griechenland gebucht, deren Hinflug durch die Beklagte durchgeführt werden sollte. Wegen eines wilden Streiks, das heißt der massenweisen Krankmeldung von Angestellten, wurde dieser aber annulliert. Der Kläger erhielt von dem Reiseveranstalter Zahlungen für einen Ersatzurlaub. Er verlangt zudem Ausgleichszahlungen von der Beklagten.

Das Amtsgericht hatte der Klage stattgegeben. Insbesondere liege in dem Streik keine höhere Gewalt. Das Landgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise statt, mit dem Ergebnis, dass auf den Ausgleichsanspruch des Klägers die Zahlungen des Reiseveranstalters anzurechnen sind. Hinsichtlich der Ansicht, dass ein wilder Streik keine höhere Gewalt sei, folgte es dem Amtsgericht.

Tenor:

4. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 4.5.2017, Aktenzeichen 29 C 3673/16 (19), teilweise abgeändert und insgesamt unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 442 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.11.2016 zu zahlen.

Die Beklagte wird außerdem verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von weiteren 255,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.01.2017 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagte zu 28% und der Kläger zu 72% zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils für den Vollstreckungsgläubiger vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

1.

5. Der Kläger buchte bei der …für sich und seine Familie eine Pauschalreise nach Griechenland in der Zeit vom 7. bis 14. Oktober 2016. Die Flugbeförderung sollte durch die Beklagte erfolgen. Geplant war der Hinflug am 7. Oktober mit einer planmäßigen Ankunftszeit um 19:20 Uhr.

6. Ab dem 2. Oktober 2016 meldete sich eine Vielzahl des Flugbesatzungspersonals bei der Beklagten krank. Dies geschah aufgrund in der Öffentlichkeit bekannt gewordener Pläne der Beklagten für Umstrukturierungsmaßnahmen über eine Zusammenarbeit mit der Fluggesellschaft …. Nach Verhandlungen der Geschäftsführung der Beklagten mit den Arbeitnehmervertretern nahm die Zahl der Krankmeldungen ab dem 9. Oktober 2016 wieder ab.

7. Am Abend des 6. Oktober 2016 wurde der Kläger telefonisch informiert, dass der Hinflug für den Folgetag gestrichen worden sei und die Reise deshalb nicht stattfinden könne. Grund sei der „wilde“ Streik bei der Beklagten.

8. Der Kläger wurde nicht entsprechend Art. 14 II der Verordnung (EG) 261/2004 (fortan die „Fluggastrechte-Verordnung“) über seine Rechte informiert.

9. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 11. November 2016 forderte der Kläger die Beklagte zur Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechte-Verordnung bis zum 25. November 2016 auf.

10. Die …zahlte im Juli 2017 an den Kläger einen Betrag von 1.158 Euro als Ausgleich für die Mehrkosten für einen Ersatzurlaub, die die Familie des Klägers infolge der Stornierung der bei der …gebuchten Reise auf sich nehmen musste.

11. Erstinstanzlich hat der Kläger beantragt,

12. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.600 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.11.2016 zu zahlen.

13. die Beklagte weiter zu verurteilen, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 255,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

14. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

15. Das Amtsgericht hat der Klage in dem angegriffenen Urteil stattgegeben. Dabei hat es insbesondere einen Fall des Art. 5 III Fluggastrechte-Verordnung abgelehnt.

16. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

17. Die Beklagte meint im Wesentlichen, dass es ihr nicht verwehrt werden könne, sich auf Art. 5 III der Fluggastrechte-Verordnung berufen zu dürfen, weil der „wilde“ Streik nicht ihrem Verantwortungsbereich zuzuordnen sei. Darüber hinaus meint die Beklagte, dass sich der Kläger die geleistete Zahlung des Reiseveranstalters in Höhe von 1.158 Euro anrechnen lasse müsse.

18. Die Beklagte ist außerdem der Rechtsauffassung, dass der Kläger keinen Ersatz wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangen könne, auch nicht auf Grundlage einer Verletzung von Hinweispflichten nach Art. 14 II Fluggastrechte-Verordnung. Hierfür behauptet die Beklagte erstmalig mit Schriftsatz vom 15. Mai 2018 in der Berufungsinstanz, dass eine entsprechende Information mittels eines DIN A4-Informationsblattes „Information für Fluggäste zur EU-Verordnung 261/2004“ erfolgt sei.

19. Die Beklagte hat die Klageforderung in Höhe von 442 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.11.2016 anerkannt.

20. Die Beklagte beantragt,

21. das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 04.05.2017 – 29 C 3673/16 (19) abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit sie die Klageforderung nicht anerkannt hat.

22. Der Kläger beantragt,

23. die Berufung zurückzuweisen.

24. Der Kläger verteidigt im Wesentlichen das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seiner erstinstanzlichen Argumentation.

25. Ergänzend wird auf die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Urteil verwiesen.

2.

26. Die zulässige Berufung ist im tenorierten Umfang begründet.

27. Soweit die Beklagte die Klageforderung anerkannt hat, war sie gemäß ihres Anerkenntnisses zu verurteilen (§ 307 S. 1 ZPO).

28. Über das Anerkenntnis hinaus ist die Berufung der Beklagten zum Klageantrag zu 1. begründet.

29. Einen Ausgleichsbetrag nach Art. 7 I 1 lit. b) Fluggastrechte-Verordnung kann der Kläger aus eigenem und abgetretenem Recht nur im tenorierten Umfang beanspruchen. Die Beklagte beruft sich zu Recht darauf, dass der von dem Reiseveranstalter (…) bereits gezahlte Betrag von insgesamt 1.158 Euro nach Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung auf den insgesamt zu gewährenden Ausgleichsbetrag anzurechnen ist.

30. Nach deren Art. 12 gilt die Verordnung unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann allerdings auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.

31. Sinn und Zweck dieser Anrechnungsvorschrift ist es sicherzustellen, dass Fluggäste Ansprüche für denselben Sachverhalt nicht auf Grundlage verschiedener Rechtsvorschriften kumulieren, wenn diese Rechte das gleiche Interesse schützen oder das gleiche Ziel haben. Ziel des historischen Gesetzgebers war es insofern, mit der Normierung der Anrechnungsmöglichkeit die Fluggastrechte-Verordnung mit dem nationalen Leistungsstörungs- und Gewährleistungsrecht abzustimmen. Der Absatz 1 Satz 2 des Artikels 12 dieser Verordnung beruht auf einer deutschen Initiative (vgl. hierzu im Einzelnen Bollweg, in Staudinger/Keiler, Fluggastrechte-Verordnung, 1. Aufl. 2016, Art. 12 Rn. 3). Durch die dadurch eingeführte Anrechnungsmöglichkeit sollte der schadensersatzrechtliche Ausgleichsgedanke möglichst weitgehend zur Geltung kommen, um eine Überkompensation eines Fluggastes zu verhindern. Eine solche Überkompensation würde sich aber einstellen, wenn ein Fluggast wegen des Sachverhalts, der ihn bereits zur Geltendmachung des Ausgleichsbetrages nach Art. 7 Fluggastrechte-Verordnung berechtigt, eine weitere Entschädigung gemäß einer anderen (nationalen) Rechtsgrundlage beanspruchen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2014, X ZR 126/13).

32. Die Frage der Reichweite des Art. 12 Fluggastrechte-Verordnung auf die vorliegende Konstellation ist bisher allerdings noch nicht umfassend höchstrichterlich entschieden.

33. Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, dass der reiserechtliche Minderungsanspruch nach § 651d I BGB als „weiter gehender Schadensersatz“ im Sinne des Art. 12 der Fluggastrechte-Verordnung zu qualifizieren ist (BGH, Urteil vom 30. September 2014, X ZR 126/13, RRa 2015, 17). Eine allein wegen großer Verspätung gewährte Ausgleichsleistung ist danach auf den Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreise wegen Minderung nach § 651d BGB auf Grund derselben großen Verspätung nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung anzurechnen.

34. Lediglich die Frage der Anrechnung einer bereits durch einen Reiseveranstalter gezahlten Entschädigung auf eine später eingeklagte und zu gewährende Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechte-Verordnung ist bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden. Sowohl die vom Bundesgerichtshof (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2013, X ZR 111/12, RRa 2013, 233 und Beschluss vom 30. Juli 2013, X ZR 113/12, BeckRS 2013, 14699) als auch die von der hiesigen Kammer (LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 6. Juni 2013, 2-24 S 208/12) hierzu zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtssachen sind vom Europäischen Gerichtshof aufgrund vorheriger Erledigung nicht zur Entscheidung gelangt.

35. Erstinstanzlich liegen hierzu abweichende Entscheidungen vor. Die Kammer hat bereits die Anrechnung eines nachfolgend geltend gemachten weiteren Schadensersatzanspruches zugelassen (LG Frankfurt am Main, Urteil vom 05. Dezember 2014, 2-24 S 66/14). Ferner haben für die Zulassung der Anrechnung in der vorliegenden Konstellation geurteilt das Landgericht Berlin (Urteil vom 20. Januar 2015, 55 S 2/14, BeckRS 2016, 07184), das Amtsgericht Rüsselsheim (Urteil vom 10. August 2011, 3 C 237/11 (36), RRa 2011, 244  [AG Königs Wusterhausen 08.06.2011 – 9 C 113/11] ) und das Amtsgericht Köln (Urteil vom 18. August 2006, 121 C 502/05, RRa 2007, 44).

36. Die Anrechnung in der vorliegenden Konstellation nicht zugelassen haben das Landgericht Darmstadt (Urteil vom 6. April 2011, 7 S 122/10, RRa 2011, 290 und vom 1. Dezember 2010, 7 S 66/10, RRa 2011, 89), das Amtsgericht Frankfurt a. M. (Urteil vom 17. Januar 2014, 30 C 2462/13, RRa 2014, 254 und vom 4. Dezember 2013, 31 C 2243/13 (17), RRa 2014, 183), das Amtsgericht Hannover (13. August 2015, 518 C 3469/15) und das Amtsgericht Rüsselsheim (Urteil vom 24. Februar 2011, 3 C 734/10, RRa 2011, 94 und vom 10. August 2010, 3 C 1528/09-32, RRa 2010, 290).

37. Auch in der Literatur bestehen hierzu unterschiedliche Auffassungen. Für die Zulassung der Anrechnung sprechen sich aus Staudinger/Staudinger (BGB, § 651f Rn. 8 ff.), Staudinger/Schürmann (NJW 2011, 2769), Wahl (RRa 2013, 262), Bollweg (RRa 2009, 10) und Leffers (RRa 2008, 258). Gegen die Anrechnung argumentiert Maruhn (in BeckOK Fluggastrechte-VO/Maruhn, 4. Ed. 1.10.2017, VO (EG) 261/2004, Art. 12 Rn. 22a).

38. Nach Auffassung der Kammer sprechen die besseren Argumente dafür, auch in der vorliegenden Konstellation eine Anrechnung nach Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung zuzulassen. Demgemäß muss sich der Kläger den gezahlten Betrag von 1.158 Euro in Anrechnung bringen lassen.

39. Diesen Betrag zahlte der Reiseveranstalter nämlich als Ausgleich für die Mehrkosten für einen Ersatzurlaub, die die Familie des Klägers infolge der Stornierung der bei der … gebuchten Reise auf sich nehmen musste. Findet ein Flug infolge von dessen Annullierung nicht statt, gehen hiermit typischerweise Änderungen für den von einem Fluggast im Weiteren geplanten Reiseverlauf einher. Kann der Reisende die Gesamtheit an Reiseleistungen nicht in der gebuchten Form in Anspruch nehmen, wenn der Flug Teil einer Pauschalreise war und der Hinflug annulliert wurde, beruhen Kosten für einen sodann gebuchten Ersatzurlaub ebenfalls auf der Annullierung des Fluges. Mehrkosten für einen Ersatzurlaub, die der Reiseveranstalter zahlen muss und tatsächlich gezahlt hat, und die pauschalierten Ausgleichsbeträge nach der Fluggastrechte-Verordnung ergeben sich somit auf Grundlage desselben Sachverhalts, nämlich der Flugannullierung. Die Kammer geht auch davon aus, dass es sich bei diesem materiellen Ersatz, den der Reiseveranstalter an den Kläger leistete, um einen „Schadensersatz“ im Sinne des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung handelt. Es ist nicht anzunehmen, dass dieser Vorschrift eine im autonomen deutschen Recht verankerte Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Schäden zugrunde liegt (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 30. Juli 2013, X ZR 111/12). Auch geleisteter Ersatz wegen materieller Schäden kann auf die pauschalierten Ausgleichsbeträge nach der Fluggastrechte-Verordnung in Anrechnung gebracht werden, weil diesen Ausgleichsbeträgen Genugtuungsfunktion nicht nur für entstandene immaterielle, sondern auch für entstandene materielle Schäden zukommt. Davon geht nach Auffassung der Kammer auch der Europäische Gerichtshof aus (EuGH, Urteil vom 13.10.2011, Az. C-83/10, NJW 2011, 3776 [EuGH 13.10.2011 – Rs. C-83/10]; vgl. auch Maruhn, BeckOK Fluggastrechte-Verordnung, Schmid, 7. Edition, Stand 01.07.2018 Art. 12 Rn. 10).

40. Aufgrund des mit der Vorschrift in Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung verfolgten Zwecks, eine Überkompensation des Fluggastes zu verhindern, ist kein Grund ersichtlich, warum der Kläger vor diesem Hintergrund berechtigt sein sollte, eine Doppelentschädigung zu verlangen und den Ausgleichsbetrag von 400 Euro pro Person ungekürzt geltend zu machen.

41. Diesem Regelungszweck des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung muss dabei Vorrang vor einer reinen Wortlautauslegung eingeräumt werden. Orientiert man sich nur an diesem Wortlaut sieht dieser ausdrücklich nur eine Anrechnung des Ausgleichsbetrages auf einen „weiter gehenden Schadensersatzes“, nicht aber umgekehrt eine Anrechnung eines solchen Schadensersatzes auf den Ausgleichsbetrag erfolgen.

42. Eine solche nur am Wortlaut des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung orientierte Rechtsanwendung würde aber weder dem Regelungszweck dieser Vorschrift entsprechen, noch zu sachgerechten Ergebnissen führen. Dass Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung ausdrücklich nur eine Anrechnung des Ausgleichsbetrages auf einen „weiter gehenden Schadensersatz“ vorsieht, hat seinen Ursprung in der gesetzgeberischen Intention, dass der Ausgleichsbetrag auf Grundlage der Fluggastrechte-Verordnung vom Fluggast schnell und unkompliziert geltend gemacht werden soll. Typischerweise sollen „weiter gehende Schadensersatzansprüche“ erst im Nachgang hierzu eingefordert werden. Es gibt aber keinen Hinweis, dass der europäische Gesetzgeber bei Abweichungen von diesem Regelfall – d.h. erst bei späterer Geltendmachung des Ausgleichsbetrages nach der Fluggastrechte-Verordnung – eine spiegelbildliche Anrechnungsmöglichkeit ausschließen wollte (so auch Bollweg, RRa 2009, 10; a.A. Maruhn, a.a.O.).

43. Würde man dem Wortlaut des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung zudem dahingehende Ausschlusswirkung beimessen, dass ein solcher Schadensersatz nicht auf einen erst später geltend gemachten Ausgleichsbetrag angerechnet werden könnte, würde dies zu einer Besserstellung von Fluggästen führen, die erst „weiter gehende Schadensersatzansprüche“ und sodann den Ausgleichsbetrag geltend machen, gegenüber solchen Fluggästen, die erst den Ausgleichsbetrag und sodann den „weiter gehenden Schadensersatz“ beanspruchen. Es ist jedoch nicht sachgerecht, den Zahlungsbetrag, den ein Fluggast nach Annullierung insgesamt beanspruchen kann, davon abhängig zu machen, in welcher Reihenfolge er ihm zustehenden Ansprüche geltend macht. Maßgebend muss vielmehr sein, welcher Zahlungsbetrag insgesamt eine angemessene Kompensation für die Unannehmlichkeiten und Vermögensnachteile einer Annullierung ist. Einer Überkompensation, für die kein schutzwürdiges Interesse des Fluggastes streitet, ist insofern durch eine am Sinn und Zweck orientierte Rechtsanwendung des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung zu begegnen.

44. Aus diesen Gründen kann sich der Kläger hier nicht darauf berufen, dass der Reiseveranstalter ihm einen Entschädigungsbetrag für die Mehrkosten eines Ersatzurlaubs gewährte und er erst dann Ausgleichsansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung geltend gemacht hat.

45. Die Berufung der Beklagten ist aber nicht im Hinblick auf den Klageantrag zu 2. begründet.

46. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten im geltend gemachten Umfang.

47. Die Kammer geht dabei zunächst nicht davon aus, dass sich dieser Anspruch unmittelbar auf Grundlage von Art. 14 II Fluggastrechte-Verordnung ergibt (vgl. bereits Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 18. Januar 2018, 2-24 S 235/17 und Urteil vom 9. April 2015, 2-24 S 53/14). Für eine solche Anwendung dieser Vorschrift fehlt es daran, dass die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Geltendmachung von Ausgleichsbeträgen in adäquat-kausaler Weise auf der Verletzung von Hinweispflichten nach Art. 14 II Fluggastrechte-Verordnung beruht, die ein ausführendes Luftfahrtunternehmen treffen. Verletzt ein Luftfahrtunternehmen diese Hinweispflichten, darf sich ein Fluggast nur herausgefordert fühlen, einen Rechtsanwalt zu beauftragen, damit dieser ihn auf seine Rechtspositionen nach der Fluggastrechte-Verordnung hinweist, wie es an sich dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach deren Art. 14 II abverlangt war. Die weiter gehende Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Geltendmachung von entsprechenden Ansprüchen auf Grundlage dieser Verordnung gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen beruht sodann nicht in adäquat-kausaler Weise auf der Verletzung von Hinweispflichten, sondern auf der durch entsprechende Hinweiserteilung erlangte Kenntnis über die eigenen Rechte nach der Fluggastrechte-Verordnung. Auch bei ordnungsgemäßer Hinweiserteilung durch die Beklagte wäre die Beauftragung eines Rechtsanwalts durch den Kläger zur Durchsetzung von dessen Ansprüchen nötig gewesen.

48. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Februar 2016, X ZR 35/15. Zwar hat der Bundesgerichtshof in diesem Urteil ausgeführt, dass die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe bei der ersten Geltendmachung des Anspruchs auf Ausgleichszahlung unter bestimmten Voraussetzungen in Betracht kommen könnte (BGH, Urteil vom 25. Februar 2016, X ZR 35/15, Rn. 21 und 22, juris). Der Bundesgerichtshof hat sich aber mit der hier entscheidenden Frage der Kausalität gerade nicht auseinandergesetzt, denn in dem dort entschiedenen Fall kam es hierauf nicht an.

49. Ein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten ergibt sich hier aber aus § 280 I BGB i.V.m. Art. 5 I, Art. 7 Fluggastrechte-Verordnung (vgl. bereits Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 18. Januar 2018, 2-24 S 235/17).

50. Die Anwendbarkeit von § 280 I BGB i.V.m. Art. 5 I, Art. 7 Fluggastrechte-Verordnung lässt sich begründen, da von einem gesetzlichen Schuldverhältnis zwischen Fluggast und ausführendem Luftfahrtunternehmen auf der Grundlage der Fluggastrechte-Verordnung auszugehen ist. Bei den Ansprüchen auf Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung handelt es sich jedenfalls um gesetzliche Ansprüche auf vertraglicher Grundlage (BGH, Beschluss vom 18. August 2015, X ZR 2/15, RRa 2015, 297 Rn. 9 mwN; Urteil vom 18. Januar 2011, X ZR 71/10, NJW 2011, 2056).

51. Auf dieser Grundlage verletzt das ausführende Luftfahrtunternehmen seine gesetzliche Pflicht zur rechtzeitigen Beförderung durch eine Annullierung, wie diese im vorliegenden Fall gegeben ist.

52. Die Kosten, die einem Fluggast durch Einschaltung eines Rechtsanwalts zur Durchsetzung seiner Ansprüche entstehen, stellen sich dann als ein adäquat-kausaler Schaden aus der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der Pflichten aus der Fluggastrechte-Verordnung dar.

53. Grundsätzlich ist es einem Fluggast wie jedem Gläubiger gestattet, sich zur Durchsetzung seiner Ansprüche anwaltlicher Hilfe zu bedienen. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass bei gesetzlichen wie bei vertraglichen Schuldverhältnissen zu den ersatzpflichtigen Aufwendungen eines Geschädigten unter bestimmten Voraussetzungen auch durch das Schadensereignis erforderlich gewordene Rechtsverfolgungskosten gehören können. Das gilt grundsätzlich auch für Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechte-Verordnung, bei denen es sich – wie festgestellt – um gesetzliche Ansprüche auf vertraglicher Grundlage handelt. Es ist auch davon auszugehen, dass die Rechtsanwaltskosten aus der Sicht des Geschädigten, hier der des Fluggastes, zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (BGH, NJW 2006, 1065 = MDR 2006, 929 [BGH 10.01.2006 – VI ZR 43/05] Rn. 5; NJW 2011, 3657 [BGH 12.07.2011 – VI ZR 214/10] = GRUR-RR 2012, 90 Rn. 20; BGH, Urteil vom 25. Februar 2016, X ZR 35/15, NJW 2016, 2883, beck-online). Anhaltspunkte, dass dies im vorliegenden Fall anders sein sollte, sind nicht ersichtlich.

54. Zahlungsansprüche wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten muss sich der Kläger auch nicht gemäß Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung in Anrechnung bringen lassen, weil es sich bei solchen Rechtsanwaltskosten nicht um einen „weiter gehenden Schadensersatz“ im Sinne dieser Vorschrift handelt. Die Kammer hält insoweit an ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht mehr fest (vgl. Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 18. Januar 2018, 2-24 S 235/17).

55. Schon nach dem Wortlaut des Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung muss eine solche Anrechnung unterbleiben, weil vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten keinen „weiter gehenden“ Ersatz betreffen. Solche Rechtsanwaltskosten dienen gerade dazu, Zahlungsansprüche auf Grundlage der Fluggastrechte-Verordnung durchzusetzen. Insofern beruht die Inanspruchnahme rechtsanwaltlicher Hilfe und der dadurch verursachten Kosten nicht adäquat-kausal auf dem zum Ersatz nach der Fluggastrechte-Verordnung berechtigenden Umstand (hier einer Annullierung), sondern auf der unterbleibenden Zahlung des ausführenden Luftfahrtunternehmens trotz dieses Umstands. Mit Blick hierauf droht auch keine unangemessene Überkompensation des Fluggastes, der auf Grund des gleichen Umstands eine Doppelentschädigung verlangen könnte.

56. Auch im Übrigen gebietet es der Sinn und Zweck von Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung, eine Anrechnung nicht vorzunehmen. Beim Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geht es dem Fluggast nämlich nicht darum, weiter gehende Vorteile aus einem zum Ersatz berechtigenden Umstand zu erzielen, als sie sich bereits durch Geltendmachung von Ausgleichbeträgen nach deren Art. 7 I ergeben. Vielmehr geht es einem Fluggast lediglich darum, keine finanziellen Nachteile zu erleiden, die zu einer Reduzierung des ihm nach Art. 7 I Fluggastrechte-Verordnung in einer bestimmten Höhe zustehenden Ausgleichsbetrages führen würden. Demgemäß droht auch keine Überkompensation des Fluggastes. Durch die Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Ersatz wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu leisten, wird nur sichergestellt, dass die Durchsetzung des Ausgleichsanspruchs nach der Fluggastrechte-Verordnung für den Fluggast kostenneutral erfolgt.

57. Eine andere Beurteilung würde zudem ein zum Ersatz verpflichtendes Luftfahrtunternehmen, das sofort entsprechenden Ersatz leistet, gegenüber einem Luftfahrtunternehmen schlechter stellen, das sich zu einer sofortigen Ersatzleistung weigert und den Fluggast deshalb herausfordert, rechtsanwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zahlt ein Luftfahrtunternehmen sofort, muss es den vollen Ausgleichsbetrag nach Art. 7 I Fluggastrechte-Verordnung zahlen. Eine Anrechnung nach Art. 12 I 2 Fluggastrechte-Verordnung wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten muss ausscheiden, weil durch die sofortige Zahlung die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts nicht erforderlich war. Weigert sich ein Luftfahrtunternehmen aber zu zahlen und könnte sich sodann auf die Anrechnungsvorschrift berufen, müsste es nur den um die Höhe der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten reduzierten Ausgleichsbetrag zahlen. Ein solches Ergebnis wäre nicht sachgerecht, weil kein Grund ersichtlich ist, warum ein redlich handelndes Luftfahrtunternehmen, das seine Ausgleichsverpflichtung sofort erfüllt, schlechter gestellt werden soll als ein sich zur sofortigen Zahlung weigerndes Luftfahrtunternehmen.

58. Hinsichtlich der Höhe kann der Kläger Ersatz wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten unter Zugrundelegung eines Gegenstandswertes von 1.600 Euro verlangen, weil die außergerichtliche Zahlungsaufforderung seiner Prozessbevollmächtigten im November 2016 in dieser Höhe berechtigt war und die …ihre Zahlung erst im Juli 2017 vornahm.

59. Zinsen kann der Kläger hinsichtlich des Ausgleichsbetrages ab dem 26. November 2016 gemäß §§ 288 I, 286 BGB verlangen, weil die Prozessbevollmächtigten des Klägers der Beklagten mit Schreiben vom 11. November 2016 eine Zahlungsfrist bis zum 25. November 2016 gesetzt haben.

60. Im Hinblick auf den Ersatzanspruch wegen Rechtsanwaltskosten besteht der Zinsanspruch gemäß §§ 291, 288 I 2 BGB nach einer entsprechenden Anwendung des § 187 I BGB ab dem 13. Januar 2017, weil die Klageschrift der Beklagten am 12. Januar 2017 zugestellt worden ist.

61. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 I 1 ZPO.

62. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 und 2, 709 S. 2 ZPO. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen (§ 542 II ZPO).

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