Begriff der „Annullierung“
BGH: Begriff der „Annullierung“
Vorliegend buchte der Kläger für sich und seine Familie einen Hin-und Rückflug bei der Beklagten. Der Rückflug wurde, anders als geplant, erst einen Tag später durchgeführt, sodass die Passagiere erst 25 Stunden später am Zielort eintrafen. Der Kläger verlangt nun eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro nach der Fluggastverordnung wegen Flugannullierung.
Der Bundesgerichtshof legt dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Es ist u.a. zu entscheiden, welche Umstände gegeben sein müssten bzw. wie lang die Verzögerungszeit sein müsste, um eine Flugannullierung und keine Flugverspätung (im Sinne der Fluggastverordnung) anzunehmen.
BGH | X ZR 95/06 (Aktenzeichen) |
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BGH: | BGH, Urt. vom 17.07.2007 |
Rechtsweg: | BGH, Urt. v. 17.07.2007, Az: X ZR 95/06 |
LG Darmstadt, Urt. v. 12.07.2006, Az: 21 S 82/06 | |
AG Rüsselsheim, Urt. v. 17.03.2006, Az: 3 C 109/06 (33) | |
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Leitsätze:
2. Ist bei der Auslegung des Begriffs „Annullierung“ entscheidend darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt?
Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?
Zusammenfassung:
3. Im vorliegenden Fall buchte der Kläger für sich, seine Ehefrau sowie für ihre beiden Kinder einen Hin- und Rückflug bei der Beklagten. Der Rückflug startete erst einen Tag später, sodass die Passagiere 25 Stunden später am Zielort ankamen. Die Beklagte hatte für diesen Tag keinen weiteren, neuen Flug unter der gleichen Flugnummer geplant. Die Passagiere wurden auch nicht auf einen von einer anderen Gesellschaft geplanten Flug umgebucht. Der Kläger verlangt nun eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro wegen Flugannullierung nach der Fluggastverordnung.
Das Amtsgericht entschied, dass es sich hier nicht um eine Annullierung, sondern um eine Verspätung handelt und dem Kläger folglich kein Ausgleichsanspruch zusteht. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung, da die Beklagte grundsätzlich den Flug durchführen wollte, dies aus plötzlich und unvorhersehbaren Ereignissen allerdings nicht konnte. Eine Verspätung schließt das Berufungsgericht jedoch nicht aus und lässt eine Revision zu, weil die Abgrenzung der Annullierung von einer Verspätung ungeklärt ist und grundsätzliche Bedeutung hat.
Der Bundesgerichtshof legt nun dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Dieser soll entscheiden, ob es bei dem Begriff der Annullierung nur darauf ankommt, dass der ursprüngliche Flugplan aufgegeben wird und es somit unerheblich ist, ob eine Verzögerung stattgefunden hat. Sollte diese Frage verneint werden ist weiterhin zu klären, ab welcher Verzögerungszeit von einer Flugannullierung ausgegangen wird bzw. welche Umstände vorliegen müssen um eine Flugannullierung anzunehmen.
Tenor:
4. Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung von Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist bei der Auslegung des Begriffs „Annullierung“ entscheidend darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt?
Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?
Gründe:
5. Die Kläger verlangen von der beklagten Charterfluggesellschaft unter anderem Ausgleichszahlungen nach Art. 7 VO (EG) 261/2004 (im Folgenden: VO), weil sie mit einer Verspätung von etwa 25 Stunden am Zielflughafen ankamen.
6. Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau, die ihre Ansprüche an ihn abgetreten hat, buchten für sich und ihre beiden Kinder, die Kläger zu 2 und 3, bei der Beklagten einen Flug von F. nach T. und zurück. Der für den 9. Juli 2005 mit der Abflugzeit 16:20 Uhr gebuchte Rückflug von T. erfolgte erst am nächsten Tag; die Kläger kamen etwa 25 Stunden später als geplant am 11. Juli 2005 um 7:00 oder 7:15 Uhr in F. an. Sie tragen vor, dass am 9. Juli 2005 gegen 23:30 Uhr der Flugkapitän mitgeteilt habe, der Flug werde annulliert („cancelled“). So stand es auch auf der Anzeigetafel. Das bereits abgegebene Gepäck wurde den Fluggästen gegen Mitternacht wieder ausgehändigt. Sie wurden per Bus zur Übernachtung in ein Hotel gebracht, wo sie erst gegen 2:30 Uhr eintrafen. Am nächsten Tage mussten sie – am Schalter einer anderen Fluggesellschaft – erneut einchecken, erhielten andere Sitzplätze zugeteilt als am Vortag und mussten die Sicherheitsüberprüfung wiederholen. Die Flugnummer des einen Tag später durchgeführten Rückflugs entsprach der Buchung. Die Beklagte hatte für diesen Tag keinen weiteren, neuen Flug unter der gleichen Flugnummer geplant. Die Passagiere wurden auch nicht auf einen von einer anderen Gesellschaft geplanten Flug umgebucht.
7. Die Kläger meinen, es habe sich aufgrund aller dieser Umstände, vor allem wegen der 25-stündigen Dauer der Verzögerung, nicht um eine Verspätung, sondern um eine Annullierung gehandelt, so dass ihnen die bei einer Annullierung geschuldete Ausgleichszahlung von 600,-- € pro Person zustehe. Daneben verlangen sie Schadensersatz für Verdienstausfall, nutzlose Sitzplatzreservierungen und verfallene Bahnfahrscheine. Hilfsweise stützen sie ihre Klage auf eine Minderung des Flugpreises um 30 %.
8. Die Kläger haben beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1 1.381,45 € und an die Kläger zu 2 und 3 je 600,-- € nebst Zinsen zu zahlen.
9. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
10. Nach Auffassung der Beklagten lag lediglich eine Verspätung vor. Nachdem die Beklagte diese vorgerichtlich mit einem Hurrikan in der Karibik erklärt hatte, hat sie im Prozess technische Defekte am Flugzeug und eine Erkrankung der Besatzung als Ursachen angegeben. Die Reparaturarbeiten seien am 9. Juli 2005 um 23:10 Uhr beendet gewesen, jedoch habe die vorgesehene Crew Grippesymptome gezeigt. Im ersten Rechtszug, aber nicht mehr im Berufungsverfahren hat die Beklagte weiter vorgetragen, es habe sich um außergewöhnliche, unvermeidbare Umstände gehandelt.
11. Das Amtsgericht hat eine Verspätung, keine Annullierung, angenommen und deshalb die Ausgleichsansprüche der Kläger zurückgewiesen. Es hat ihnen lediglich für Verdienstausfall und Bahnfahrkarten Schadensersatz wegen Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags zugesprochen, da die Beklagte den Entlastungsbeweis für ihr fehlendes Verschulden nicht geführt, nämlich zur Wartung des Flugzeugs nicht konkret vorgetragen habe. Weiter hat das Amtsgericht den Klägern einen Bereicherungsanspruch bezüglich der Sitzplatzreservierungen und eine Minderung des Flugpreises für den Rückflug um 30 % zuerkannt. Insgesamt hat es der Klage in Höhe von 350,75 € nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist vom Landgericht zurückgewiesen worden. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Kläger, mit der sie ihre Klage in vollem Umfang weiterverfolgen. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
12. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Das Amtsgericht sei zu Recht von einer bloßen Verspätung des Fluges ausgegangen. Nach Art. 2 lit. l VO sei unter „Annullierung“ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, zu verstehen. Deshalb sei mit „Flug“ die kollektive Beförderung einer Gruppe von Passagieren gemeint, die sich bei der Buchung für diesen Transport entschieden hätten, und sei darauf abzustellen, ob diese Gruppe, wie hier geschehen, im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert werde, möge dies auch zu einem anderen Zeitpunkt als ursprünglich vorgesehen erfolgen. Aus dem Erwägungsgrund 12 und aus Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung, deren Ziel es sei, die Flugunternehmen zu rechtzeitiger Unterrichtung der Fluggäste über die Annullierung zu veranlassen, folge weiter, dass mit „Annullierung“ nur solche Fälle gemeint seien, in denen sich die Fluggesellschaft aus eigenem Willen, z.B. aus wirtschaftlichen Gründen, entschließe, einen Flug nicht durchzuführen. Im vorliegenden Fall sei jedoch ein plötzlich und unvorhergesehen eingetretenes Ereignis der Grund dafür gewesen, dass der Flug am 9. Juli 2005 nicht mehr habe durchgeführt werden können, obwohl die Beklagte ihn grundsätzlich habe durchführen wollen. Ob es maximale zeitliche Grenzen für die Verspätung gebe, brauche im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, weil jedenfalls bei 25 Stunden eine Verspätung begrifflich noch nicht ausgeschlossen sei. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Abgrenzung der Annullierung von einer Verspätung ungeklärt sei und grundsätzliche Bedeutung habe.
13. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 2 lit. l und eventuell Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) ab. Das Revisionsverfahren ist deshalb auszusetzen, und es ist gemäß Art. 234 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuholen.
14. Die Kläger erheben den schadens- und verschuldensunabhängigen, in der Höhe standardisierten Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung, der bei einem Flug von mehr als 3.500 km Länge 600,-- € beträgt. Weder das deutsche autonome Recht noch internationale Abkommen sehen einen derartigen Anspruch vor (BGH, Beschl. v. 12.07.2006 – X ZR 22/05, NJW-RR 2006, 1719). Die Revision der Kläger ist daher nur begründet, wenn die Verordnung ihnen einen Ausgleichsanspruch gewährt. Nach dem Text der Verordnung sind Ausgleichsleistungen nur für den Fall einer Annullierung vorgesehen (Art. 5 Abs. 1 lit. c VO), während bei einer Verspätung den Fluggästen keine Ausgleichszahlungen, sondern lediglich Betreuungs- und Unterstützungsleistungen zustehen, die z.B. in Mahlzeiten, Hotelunterbringung, Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung zum Endziel sowie bei einer Verspätung von mehr als fünf Stunden in Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung bestehen (Artt. 6, 8, 9 VO).
15. Die Ausgleichsansprüche der Kläger sind somit nur begründet, wenn ihre verzögerte Rückbeförderung keine Verspätung war, sondern unter den Begriff der Annullierung einzuordnen bzw. wie eine solche zu behandeln ist. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die vorgelegte Frage 1, ob eine Annullierung bzw. die Behandlung einer Verzögerung als Annullierung in jedem Fall, insbesondere ungeachtet der Dauer der Verzögerung, ausscheidet, wenn der ursprüngliche geplante Flug nicht aufgegeben wird, ob also eine Verzögerung ohne Aufgabe der ursprünglichen Flugplanung niemals eine Annullierung darstellt. Falls dies verneint wird, soll die Vorlagefrage 2 klären, unter welchen besonderen Umständen die Verzögerung eines Fluges trotz Aufrechterhaltung der ursprünglichen Planung wie eine Annullierung zu behandeln ist. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob ab einer bestimmten Dauer der Verzögerung eine Verspätung in eine Annullierung umschlägt. Hierbei handelt es sich um Fragen, die im Wege der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung zu klären sind. Dazu ist nach Art. 234 EG der EuGH berufen. Eine Vorlagepflicht besteht nur dann nicht, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts so offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257 – CILFIT; BGHZ 153, 82, 92 und ständig). Das ist hier aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht der Fall.
16. Einerseits kommt eine am Wortlaut der VO orientierte Auslegung in Betracht, nach der bei einer 25-stündigen Verzögerung den Fluggästen kein Ausgleichsanspruch zustehen würde.
17. Art. 2 lit. l VO enthält folgende Legaldefinition der Annullierung: „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“. Die Fluggesellschaft muss also ursprünglich einen Flug geplant, d.h. in ihren Flugplan aufgenommen und somit nach Abflug- und Zielort, Abflugs- und Ankunftszeit festgelegt, mit einer Flugnummer versehen und zur Buchung freigegeben haben. Letzten Endes darf sie diesen geplanten Flug dann aber doch nicht durchgeführt haben.
18. Entscheidend für die Annullierung könnte somit sein, dass ein bestimmter Flug, den die Fluggesellschaft in ihren Flugplan aufgenommen und zur Buchung angeboten hatte, endgültig aufgegeben wird (so AG Charlottenburg, Urt. v. 15.11.2005 – 218 C 290/05, nicht veröffentlicht; für Unmaßgeblichkeit des Zeitfaktors auch Bezirksgericht für Handelssachen Wien, Urt. v. 04.08.2006 – 8 C 2016/05m, RRa 2006, 276; AG Frankfurt a.M., Urt. v. 31.08.2006 – 30 C 1370/06, nicht veröffentlicht; so auch Führich, MDR 7/2007 Sonderbeilage S. 8). Dies bedeutet nicht – worauf die Revision zu Recht hinweist -, dass die Buchungspassagiere von der Luftfahrtgesellschaft gar nicht zum Zielort befördert werden. Vielmehr muss die Luftfahrtgesellschaft bei einer Annullierung den Fluggästen, wenn diese nicht Erstattung des Flugpreises wählen, eine anderweitige Beförderung zum Endziel verschaffen (Artt. 5 Abs. 1 lit. a, 8 Abs. 1). Diese anderweitige Beförderung erfolgt mittels eines Fluges, der „neuer Flug“ (Art. 5 Abs. 1 lit. b) oder „Alternativflug“ (Art. 7 Abs. 2) genannt wird.
19. Das ausschlaggebende Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem alten, d.h. dem ursprünglich geplanten Flug und dem neuen bzw. Alternativflug könnte daher die Aufgabe der ursprünglichen Planung bzw. die Beförderung der Fluggäste auf einem vorher gar nicht oder auf einem von vornherein anders geplanten Flug sein, sei es dass dieser Alternativflug von einer anderen Fluggesellschaft gemäß deren Planung, sei es, dass er von der Vertragsgesellschaft, aber zu einer anderen Abflugzeit, von einem anderen Abflugort oder zu einem anderen Zielort als ursprünglich geplant durchgeführt wird. Werden die Passagiere zum Beispiel mit einem Flug der Vertragsgesellschaft befördert, der von vornherein für eine andere Abflugzeit, für einen anderen Tag oder für eine andere Route geplant war, oder werden die Passagiere auf den geplanten Flug eines anderen Luftfahrtunternehmens umgebucht, so würde es sich nach dieser Definition um eine Annullierung handeln, selbst wenn keine oder nur eine geringfügige Verspätung eintritt. Umgekehrt würde nur eine Verspätung vorliegen, wenn der Flug, mit dem die Passagiere schließlich befördert werden, weder von der Vertragsgesellschaft für eine andere Strecke oder Zeit noch von einer anderen Fluggesellschaft geplant war, selbst wenn der Flug außerordentlich viel später erfolgt als geplant.
20. Wäre das Kriterium der aufgegebenen Planung maßgeblich, so könnte daraus die Unmaßgeblichkeit anderer Umstände folgen, die indessen in Rechtsprechung und Schrifttum zum Teil als Indizien für eine Annullierung angesehen werden. Die Wiederausgabe des Gepäcks und eine neue Abfertigung können darauf zurückzuführen sein, dass die Passagiere im Hotel übernachten mussten. Die Ausgabe einer neuen Bordkarte ist notwendig, wenn ein andersartiges Ersatzflugzeug verwendet wird. Beides steht daher der Annahme einer bloßen Verspätung nicht zwingend entgegen (so auch Tonner, RRa 2006, 278 f.; a.A. Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Führich, aaO). Die Bezeichnung des Fluges durch den Piloten und/oder auf der Anzeigetafel als „cancelled“ statt „delayed“ kann auf einer falschen rechtlichen Einordnung der Störung durch Dritte, nämlich den Piloten oder das Flughafenpersonal, beruhen und dürfte daher allenfalls ein schwaches Indiz für eine Annullierung sein. Wenig Indizwirkung dürften auch die Auswechslung des Flugzeugs und die der Besatzung haben (a.A. AG Frankfurt am Main, Urt. v. 12.10.2006 – 30 C 1726/06-75, nicht veröffentlicht), da die Identität der Maschine und des Flugpersonals nichts mit der Planung des Fluges zu tun hat, sondern nur mit dessen Organisation und Durchführung.
21. Selbst die Beförderung durch ein anderes als dasjenige Luftfahrtunternehmen, mit dem die Fluggäste den Beförderungsvertrag geschlossen haben, indiziert nicht ohne weiteres eine Annullierung. Werden beispielsweise wegen eines Flugzeugdefektes die Passagiere statt von der vertragschließenden Fluggesellschaft mit dem Flugzeug einer anderen Gesellschaft befördert, das die vertragliche Gesellschaft als Ersatz für ihr eigenes defektes Flugzeug angemietet hat (sogenannte Subcharter), so liegt keine Annullierung vor (Schmid, aaO, S. 1843). Auch die vom Berufungsgericht für erheblich gehaltene Frage, ob der Veranstalter den Flug aus wirtschaftlichen Erwägungen oder gezwungenermaßen abgesagt hat, dürfte nicht maßgeblich sein. Erwägungsgrund 12 und Art. 5 Abs. 1 lit. c VO die das Berufungsgericht herangezogen hat, geben für dessen Ansicht, bei einer Annullierung müsse die Fluggesellschaft schon längere Zeit vor der geplanten Abflugszeit Kenntnis von dem Hindernis gehabt haben, nichts her; die jeweilige Erwähnung von Annullierungen, die auf außergewöhnliche Umstände zurückgehen – zu denen laut Erwägungsgrund 14 Wetterbedingungen und unerwartete Flugsicherheitsmängel gehören – spricht vielmehr dagegen.
22. Umgekehrt folgt aus der Beibehaltung der gleichen Flugnummer nicht zwingend eine Verspätung (so auch AG Frankfurt aaO; Tonner, aaO). Denn wenn eine Fluggesellschaft täglich zur gleichen Zeit den gleichen Flug durchführt, trägt der Flug auch jeden Tag die gleiche Nummer, so dass Fluggäste, die wegen des Ausfalls eines geplanten Fluges erst 24 Stunden später mit dem für diesen Tag geplanten Flug befördert werden, trotz Annullierung ihres Fluges unter der gleichen Flugnummer reisen (Schmid, aaO, S. 1843). Auch der Umstand, den das Berufungsgericht als wesentlich für die Annahme einer Verspätung angesehen hat, dass die Gruppe der ursprünglich gebuchten Passagiere im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert wird, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt, dürfte eine eindeutige Zuordnung nicht zulassen. Denn wenn diese Gruppe verhältnismäßig klein ist, kann es der Fluggesellschaft gelingen, sie insgesamt auf einem noch nicht ausgebuchten Alternativflug unterzubringen. Ein schwerwiegendes Indiz für eine Annullierung und gegen eine Verspätung wird demgegenüber eine andere Flugnummer sein (so auch Schmid, S. 1843), da eine solche in der Regel zu einem anders geplanten Flug gehört.
23. Andererseits kommt aber auch eine Auslegung in Betracht, nach der die im vorliegenden Fall geschehene Verzögerung von 25 Stunden nicht als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln wäre. Diese Auslegung wäre weniger am Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 VO und mehr am Schutzbedürfnis der Fluggäste orientiert.
24. Möglicherweise schlägt eine Verspätung unter besonders belastenden Umständen und insbesondere bei einer bestimmten Dauer in eine Annullierung um. Der Text der Verordnung enthält zwar keine ausdrückliche Obergrenze für die Dauer der Verspätung. Aus Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO ergibt sich lediglich, dass die Verspätung mehr als fünf Stunden betragen kann, und aus Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO sowie aus Erwägungsgrund 15 geht hervor, dass bei einer Verspätung der Abflug auch erst am nächsten Tag erfolgen kann. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass es für die Verspätung keine zeitliche Grenze gibt, jenseits derer es sich um eine Annullierung handelt.
25. Für die Behandlung einer besonders belastenden Verzögerung und insbesondere einer besonders langen Verzögerung als Annullierung könnte die Schutzlücke sprechen, die sich anderenfalls auftun würde.
26. Der allgemeine Schutzzweck der Verordnung ist es, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Erwägungsgrund 1). In den Erwägungsgründen wird weiter ausgeführt, dass Annullierungen und große Verspätungen für die Fluggäste ein Ärgernis seien und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachten (Grund 2), dass ihre Zahl immer noch zu hoch sei (Grund 3) und dass die Gemeinschaft deshalb die Schutzstandards erhöhen sollte, um die Fluggastrechte zu stärken (Grund 4). Speziell zum Zweck der Ausgleichszahlungen bei Annullierung besagt der an die Erörterung der Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste (Überbuchung) anschließende Erwägungsgrund 12: „Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“
27. Die Verordnung erklärt also nicht ausdrücklich, weshalb der Fluggast im Falle einer Annullierung weitergehende Ansprüche hat als bei einer Verspätung, nämlich unabhängig von seinem tatsächlichen Schaden eine Ausgleichszahlung beanspruchen kann (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006 – C-344/04 IATA v. Department of Transport, Slg. 2006, S. I-00403, LS 3 Rdn. 69 ff.). Die Besserstellung des Fluggastes bei Annullierung lässt sich indessen vernünftigerweise nur durch die Vorstellung des Gesetzgebers erklären, dass der Fluggast im Regelfall durch eine Annullierung schwerer beeinträchtigt wird als durch eine Verspätung. Dazu passt die Feststellung des EuGH (aaO Rdn. 85), dass der Umfang der vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegten Leistungen – von deren Art hat der Gerichtshof allerdings nicht ausdrücklich gesprochen – sich nach der Schwere des Schadens richtet, der den Fluggästen entstanden ist, und entweder anhand des Ausmaßes der Verspätung und der Wartezeit oder anhand der Frist, innerhalb derer die Betroffenen über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurden, bemessen werde. Der EuGH hat also zum einen die Dauer der Verspätung als Kriterium für die Schwere des Schadens und zum anderen die Schwere des Schadens als Maßstab für den Umfang der Leistung anerkannt.
28. Eine Vermutung, dass eine Annullierung in der Regel stärker belastet als eine Verspätung, könnte der Lebenserfahrung entsprechen. Dem Totalausfall eines Fluges gehen oft langwierige Reparaturversuche voraus, während derer die Fluggäste warten müssen. Erst nach deren letztendlichem Fehlschlag beginnt dann die Suche nach noch nicht ausgebuchten Alternativflügen. Diese sind häufig erst am nächsten Tage zu finden und führen dann nicht selten zu anderen Zielorten, von denen die Fluggäste zu dem von ihnen gebuchten Zielort weiterbefördert werden müssen. Demgegenüber erschöpfen sich die Unannehmlichkeiten einer Verspätung häufig in einer Wartezeit von wenigen Stunden am Abflughafen und der entsprechend späteren Ankunft am Zielort.
29. Im Einzelfall kann es aber umgekehrt liegen, wenn z.B. bei einer Annullierung der Fluggast in kürzester Frist einen Ersatzflug zum gewünschten Zielort antreten kann oder wenn andererseits, wie im vorliegenden Fall, eine Verspätung mehr als einen Tag lang andauert. Für diese Fälle würde dann eine Schutzlücke bestehen (Staudinger, DAR 2007, 1324 f.). Es könnte der Billigkeit widersprechen, dass eine Annullierung, deren belastende Auswirkungen sich in einer Verspätung von, je nach Entfernung, zwei, drei oder vier Stunden zuzüglich einer Minute erschöpfen, zum ungekürzten Ausgleichsanspruch führen würde und dass selbst bei rechtzeitiger Ankunft eine Annullierung das Luftfahrtunternehmen immerhin zur hälftigen Ausgleichszahlung verpflichtet wäre (Art. 7 Abs. 2 VO), während eine Verspätung von 25 Stunden, wie sie im vorliegenden Fall geschehen ist, überhaupt keinen Ausgleichsanspruch erzeugen würde. Eine Schutzlücke liegt aber möglicherweise auch schon darin, dass Passagiere einen für sie im Wesentlichen gleich belastenden Lebenssachverhalt, nämlich eine gleich lange Verzögerung ihrer Beförderung, erleben und doch ganz unterschiedliche Ansprüche erwerben können (Wagner, VUR 2006, S. 338).
30. Falls der Gesetzgeber die Schutzlücke erkannt und bewusst in Kauf genommen hat, wäre es den Gerichten möglicherweise versagt, sie im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen. Die Absicht des Gesetzgebers ist jedoch nicht klar.
31. Ambivalent ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Verordnung für den umgekehrten Fall der außergewöhnlich wenig belastenden Annullierung ausdrücklich eine Ausnahmeregelung vorsieht. Das Luftfahrtunternehmen darf die Ausgleichszahlungen um 50 % kürzen, wenn den Fluggästen ein Alternativflug zu ihrem Endziel angeboten wird, der, gestaffelt nach der Flugentfernung, nicht später als zwei, drei oder vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges ankommt (Art. 7 Abs. 2 VO). Diese ausdrückliche Ausnahmeregelung kann jedoch entweder darauf hindeuten, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit einer reziproken Regelung für ungewöhnlich belastende Verspätungen übersehen hat, oder sie kann im Gegenteil den Rückschluss erlauben, dass der Gesetzgeber sich bewusst dagegen entschieden hat.
32. Letzteres erscheint möglich, weil Art. 7 Abs. 2 VO zeigt, dass der Gesetzgeber bestrebt war, die finanzielle Belastung der Fluggesellschaften durch Ausgleichszahlungen in Grenzen zu halten. Dieselbe Absicht geht aus der Anspruchsversagung im Falle außergewöhnlicher und unvermeidlicher Umstände hervor (Art. 7 Abs. 3). Die Erstreckung der Ausgleichszahlungen auf besonders schwerwiegende Verspätungen würde die finanzielle Belastung der Luftfahrtunternehmen hingegen erhöhen. Zu berücksichtigen ist weiter, dass der Fluggast, der infolge einer nicht entschuldigten Verspätung nachweisliche Schäden erleidet, nicht leer ausgeht, sondern nach dem Montrealer Übereinkommen und nach deutschem Recht auch nach dem Werkvertragsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs Ersatz verlangen kann. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 schließt die Verordnung einen weitergehenden Schadensersatzanspruch des Fluggastes nicht aus. Die Verordnung enthält standardisierte sofortige Maßnahmen zur Wiedergutmachung, die neben etwaige Ansprüche auf Schadensersatz als individuelle Wiedergutmachung nach Art. 19 des Montrealer Übereinkommens treten (EuGH aaO Rdn. 44 ff.). Dasselbe gilt für Schadensersatzansprüche aus Beförderungsvertrag (vgl. Führich, aaO, S. 10). Nach Ansicht mehrerer deutscher Gerichte steht dem Fluggast außerdem eine Minderung des Flugpreises zu, wenn eine große Verspätung einen Mangel der Beförderungsleistung darstellt.
33. Dass gleichwohl nicht klar ist, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber die aufgezeigte Schutzlücke bewusst in Kauf genommen hat, wird auch an der deutschen Rechtsprechung deutlich, die schon mehrfach eine Auslegung des Begriffs Annullierung in dem Sinne vorgenommen hat, dass auch eine außerordentlich große Verspätung darunterfällt. Der beschließende Senat hat die Frage eines Zeitfaktors ausdrücklich offengelassen (Beschl. v. 12.07. 2006, aaO).
34. Hält man eine derartige Auslegung im Prinzip für zulässig und geboten, so stellt sich die weitere Frage, unter welchen Umständen bzw. ab welcher Dauer eine große Verspätung in eine Annullierung umschlägt.
35. Dem Text der Verordnung lässt sich nicht entnehmen, dass die etwaige Obergrenze für eine Verspätung bei 24 Stunden oder sogar bei mehreren Tagen liegt. Soweit bei der Beschreibung der Betreuungsleistungen die Hotelunterbringung bei einem Aufenthalt von mehreren Nächten erwähnt wird (Art. 9 Abs. 1 lit. b VO), braucht sich dies nicht auf eine Verspätung zu beziehen. Denn Hotelunterbringung schuldet das Luftfahrtunternehmen nicht nur bei einer Verspätung des Fluges (Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO), sondern auch bei Annullierung (Art. 5 Abs. 1 lit. b VO). Die Erwähnung eines Aufenthalts von mehreren Nächten kann sich daher auch nur auf den Fall der Annullierung beziehen.
36. Das Amtsgericht Frankfurt am Main (Urt. v. 12.10.2006, aaO) hat die Grenze bei 22 Stunden deutlich überschritten gesehen, das Amtsgericht Rüsselsheim (Urt. v. 07.11.2006 – 3 C 717/06 (32), nicht veröffentlicht) hat sie bei 48 Stunden gezogen. Im Schrifttum wird in Anlehnung an Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO die Grenze bei fünf Stunden gesehen (Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Wagner, VuR 2006, 337, 339) oder das Anderthalbfache der Zeiträume des Art. 6 Abs. 1 VO vorgeschlagen, so dass eine Annullierung je nach Länge des Fluges ab drei, viereinhalb oder sechs Stunden anzunehmen wäre (Tonner, aaO). Nach anderer Ansicht muss eine Annullierung jedenfalls dann angenommen werden, wenn sich der Flug um mehrere Tage verschiebt (Führich, aaO).
37. Nach alledem ist die richtige Auslegung der Verordnung nicht so offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum verbleibt.
38. Dies sieht auch die Kommission nicht anders. Nach ihrer gemäß Art. 17 VO erstatteten Mitteilung vom 4. April 2007 über die Anwendung und die Ergebnisse der Verordnung (KOM (2007) 168 endg.) lässt sich schwer bestimmen, ob ein Flug verspätet war oder annulliert wurde, da die Luftfahrtunternehmen bei der Einstufung von Verspätungen oder Annullierungen unterschiedliche Konzepte anwenden, was sich wiederum auf die Zahlungen von Ausgleichsleistungen auswirkt (Nr. 4.1.2.), besteht Unklarheit über die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen gegenüber den Fluggästen bei langen Verspätungen über 24 Stunden (Nr. 5.4.) bzw. haben Fluggäste, einzelstaatliche Durchsetzungsstellen und Luftfahrtunternehmen Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Verspätungen und Annullierungen und bei der Frage, ob eine Verspätung von 24 Stunden z.B. als Annullierung oder große Verspätung einzustufen ist (Nr. 7.3.). Die Kommission selbst geht möglicherweise davon aus, dass eine Verspätung in eine Annullierung umschlagen kann; denn sie beanstandet, dass in einigen Fällen Luftfahrtunternehmen Flüge um 48 Stunden „verschoben“, d.h. als verspätet behandelt hätten, um Entschädigungsforderungen der Fluggäste zu vermeiden, während der Flug in Wirklichkeit infolge technischer Probleme „annulliert“ gewesen sei (Nr. 7.3)
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