Vermeidbarkeit der außergewöhnlichen Umstände bei Flugannullierung

AG Hannover: Vermeidbarkeit der außergewöhnlichen Umstände bei Flugannullierung

Flugreisende forderten eine Ausgleichszahlung für eine 3-stündige Flugverspätung von Hannover nach London. Die Ausgleichspflicht der Fluggesellschaft hing davon ab, ob sich der Begriff der Vermeidbarkeit auf die Waldbrände um Rom als außergewöhnlichen Umstände oder auf die Verspätung selbst bezog.

AG Hannover 406 C 2140/16 (Aktenzeichen)
AG Hannover: AG Hannover, Urt. vom 22.09.2016
Rechtsweg: AG Hannover, Urt. v. 22.09.2016, Az: 406 C 2140/16
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Amtsgericht Hannover

1. Urteil vom 22. September 2016

Aktenzeichen 406 C 2140/16

Leitsatz:

2. Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass sich die Vermeidbarkeit nur auf den Eintritt der außergewöhnlichen Umstände oder aber auch auf die Folgen der außergewöhnlichen Umstände bezieht?

Letzterenfalls: Wenn durch die außergewöhnlichen Umstände das auf dem Vorflug befindliche Luftfahrzeug betroffen ist, muss sich dann das ausführende Luftfahrtunternehmen bereits nach Eintritt der außergewöhnlichen Umstände im Vorflug um eine Ersatzmaschine bemühen oder kann es abwarten, bis feststeht, dass die außergewöhnlichen Umstände zu einer erheblichen Verspätung im nachfolgenden Flug führen?

Ist die Buchung eines Subcharters unzumutbar, wenn die Kosten etwa dreimal so hoch sind, wie die Kosten des eigentlichen Flugs?

Zusammenfassung:

3. Die Kläger hatten für den 29. Juli 2015 bei der Beklagten einen Flug von Hannover nach London Stansted gebucht. Dieser wurde um 3,5 Stunden verspätet durchgeführt. Die Kläger begehrten eine Ausgleichszahlung, die beklagte Fluggesellschaft verwies auf Waldbrände um Rom als außergewöhnlichen Umstand, weil deretwegen der Vorflug der Maschine aufgehalten worden war. Die Verspätung des Vorfluges war zwar abzusehen, die Beklagte war jedoch der Auffassung, zur Beschaffung eines Subcharters erst verpflichtet gewesen zu sein, als die Verspätung des streitgegenständlichen Fluges ebenfalls abzusehen war. Außerdem sei die Buchung eines Subcharters unzumutbar, da sich die Kosten hierfür auf das Dreifache des normalen Fluges wären.

Das Amtsgericht Hannover setzte das Verfahren aus, weil es auf die höchstrichterliche Auslegung europäischen Flugrechtes ankam. So war einerseits festzustellen, ob sich der Begriff der (Un-)Vermeidbarkeit in Bezug auf außergewöhnliche Umstände nur auf eben diese oder auch auf deren Folgen, also die Verspätung, bezieht. Letzterenfalls schlossen sich die Fragen an, ob die Beschaffung eines Subcharters nach Eintritt der außergewöhnlichen Umstände oder erst mit Abzeichnen der Verspätung erforderlich wird und ob sie zumutbar ist, wenn der Preis das Dreifache der normalen Kosten übersteigt. Die Fragen wurden dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt.

Tenor:

4. Das Verfahren wird ausgesetzt.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:

1.

Ist Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass sich die Vermeidbarkeit nur auf den Eintritt der außergewöhnlichen Umstände oder aber auch auf die Folgen der außergewöhnlichen Umstände, nämlich die Annullierung oder die große Verspätung, bezieht?

2.

Sollte der Gerichtshof die Frage 1 dahingehend beantworten, dass sich die Vermeidbarkeit auf die Verspätung bezieht: Wenn durch die außergewöhnlichen Umstände das auf den Vorflug befindliche Luftfahrzeug betroffen ist, muss sich dann das ausführende Luftfahrtunternehmen bereits nach Eintritt der außergewöhnlichen Umstände im Vorflug um eine Ersatzmaschine bemühen oder kann es zuwarten, bis feststeht, dass die außergewöhnlichen Umstände zu einer erhebliche Verspätung im nachfolgenden Flug führen?

3.

Sollte der Gerichtshof die Frage 1 dahingehend beantworten, dass sich die Vermeidbarkeit auf die Verspätung bezieht: Ist die Buchung eines Subcharters unzumutbar, wenn die Kosten etwa dreimal so hoch sind, wie die Kosten des eigentlichen Flugs?

Gründe:

1.

5. Die Kläger buchten für den 29.07.2015 bei der Beklagten einen Flug von Hannover nach London Stansted unter der Flugnummer 4U 3370. Dieser sollte planmäßig um 19:25 Uhr (MESZ) = 17:25 Uhr UTC starten und um 19:45 Uhr = 18:45 Uhr UTC landen. Der Flug wurde jedoch verspätet durchgeführt. Er startete in Hannover um 22:45 Uhr (MESZ) = 20:45 Uhr UTC und landete in London um 23:12 Uhr = 22:12 Uhr UTC.

6. Aufgrund dieser Verspätung begehren die Kläger von der Beklagten jeweils eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250,- EUR.

7. Die Verspätung beruht darauf, dass aufgrund eines Waldbrandes in Rom die dort befindlichen Luftfahrzeuge der Beklagten nicht starten konnten. Daher hat sich bereits der Vorflug verzögert.

8. Die Beklagte ist der Ansicht, dass sie nicht hafte, da sich die außergewöhnlichen Umstände, nämlich der Waldbrand, nicht hätten vermeiden lassen.

9. Hilfsweise behauptet die Beklagte, dass sie alles unternommen habe, um die Verspätung zu vermeiden.

10. Die ursprünglich eingeplante Maschine D-​AGWX sei aufgrund des Waldbrandes im Rom erst um 20:49 UTC in Hannover gelandet. Der streitgegenständliche Flug sei daher mit der Ersatzmaschine D-​AGWP durchgeführt worden, die um 20:15 UTC in Hannover landen konnte.

11. Für die Beklagte sei zwar bereits um 14:05 UTC erkennbar gewesen, dass der Vorflug nicht planmäßig durchgeführt werden könne, jedoch sei erst um 16:35 UTC klar gewesen, dass der Vorflug eine derartige Verspätung haben werde, dass auch der nachfolgende Flug mehr als drei Stunden Verspätung haben werde. Die Beklagte sei daher erst zu diesem Zeitpunkt verpflichtet gewesen, sich nach einem Subcharter zu kümmern. Zu diesem Zeitpunkt sei jedoch kein Subcharter mehr zu erhalten gewesen.

12. Zudem sie der Einsatz eines Subcharters unverhältnismäßig, da zwei Flugstunden für den Subcharter dreimal so teuer seien wie entsprechende Flugstunden mit einem eigenen Gerät.

3.

13. Das Gericht geht derzeit davon aus, dass durch den Waldbrand außergewöhnliche Umstände gemäß Art. 5 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 auf dem Vorflug eingetreten sind, die sich unmittelbar auf den nachfolgenden Flug ausgewirkt haben.

4.

14. Die Entscheidung über den Entschädigungsanspruch hängt von der Frage ob, sich die Vermeidbarkeit gemäß Art 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nur auf die außergewöhnlichen Umstände oder auch auf die Verspätung bezieht. Würde sich die Vermeidbarkeit nur auf die außergewöhnlichen Umstände an sich beziehen, wäre keine Vermeidbarkeit gegeben, da sich die Waldbrände nicht vermeiden lassen.

a)

15. Gemäß Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

16. Dieser Norm wird durch den 15. Erwägungsgrund insoweit ergänzt, dass vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ausgegangen werden sollte, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.

b)

17. Ob sich die Exkulpation nur auf die außergewöhnlichen Umstände (OLG Koblenz RRa 2008, 181, 182; AG Köln, Urteil vom 17.07.2007, Az. 118 C 473/06; Urteil vom 31.07.2007, Az. 118 C 547/06; AG Bremen NJW-​RR 2012, 378, 380; Urteil vom 02.05.2013, Az. 9 C 523/12; AG Rüsselsheim RRa 2012, 238; RRa 2014, 43, 45 f.; AG Hamburg RRa 2014, 255, 256; Müller-​Rostin, NZV 2007, 221, 224; ders., 2009, 430, 433; Schmid, RRa 2008, 187, 188; Woitkewitsch, MDR 2012, 193, 195; Bosch/Lorz, NZV 2013, 105, 108) oder aber auch auf die Folgen (LG Berlin, Urteil vom 28.08.2007, 53 S 242/06; LG Köln RRa 2008, 185, 186; RRa 2008, 89, 93; AG Köln, Urteil vom18.05.2011, Az. 132 C 314/10; AG Geldern, Urteil vom 28.11.2007, Az. 14 C 273/07; AG Hamburg RRa 2014, 255, 256 ebenso D/S/H, Fluggastrechte, Art. 5 Rdn. 88; Schmid RRa 2012, 239, 240) bezieht, ist bisher umstritten. Die Frage ist jedoch die entscheidende Weichenstellung, welche Umstände durch das betroffene Luftfahrtunternehmen dargelegt werden müssen. Zutreffend hat der BGH bereits im Jahr 2008 ausgeführt, dass es unerheblich wäre, ob auch die Annullierung im Sinne einer Außerbetriebsetzung des betroffenen Flugzeugs und die Streichung des Flugs wegen Fehlens einer Ersatzmaschine bei Ergreifen aller zumutbarer Maßnahmen vermieden worden wären, wenn es nur darauf ankäme, ob sich nur die außergewöhnlichen Umstände bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätten vermeiden lassen (BGH RRa 2009, 91 f. Rdn. 27).

18. Der Wortlaut der Norm spricht zunächst dafür, die Exkulpation nur auf den Umstand selbst zu beziehen. Das Relativpronomen, mit welchem der Ausschluss der Unvermeidbarkeit eingeführt wird, bezieht sich allein auf die Umstände. Die Folgen werden in der Norm nicht angesprochen. Insoweit scheint der Wortlaut der Norm die Exkulpation auf die Umstände zu beziehen.

19. In dieselbe Richtung scheint auch der EuGH zu tendieren, ohne dass die Frage bisher endgültig geklärt wurde (EuGH RRa 2009, 35, 40 Rdn. 41 – Wallentin-​Hermann/Alitalia; ebenso EuGH RRa 2011, 125, 127 Rdn. 25 – Eglitis/Air Baltic). So führte der EuGH aus: „Da nicht alle außergewöhnlichen Umstände zu einer Befreiung führen, obliegt es demnach demjenigen, der sich darauf berufen möchte, darüber hinaus den Nachweis zu führen, dass sie sich jedenfalls nicht durch der Situation angepasste Maßnahmen hätten vermeiden lassen, d. h. solche, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechenden außergewöhnlichen Umstände auftreten, für das betroffene Luftfahrtunternehmen insbesondere in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar sind. Dieses hat nämlich nachzuweisen, dass es ihm auch unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel offensichtlich nicht möglich gewesen wäre, ohne angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht Maßstab tragbare Opfer die außergewöhnlichen Umstände zu vermeiden, mit denen es konfrontiert war und die zur Annullierung des Fluges geführt haben.“ Aus dem letzten Satz kann geschlossen werden, dass der EuGH die Vermeidbarkeit nicht auf die Folgen, sondern den eingetretenen Umstand bezieht.

20. Der BGH hat in der Entscheidung vom 25.03.2010 erstmals explizit Ausführungen zu dieser Problematik gemacht, jedoch die Frage offen gelassen, da sie nicht entscheidungserheblich war (BGH RRa 2010, 221, 233 Rdn. 16). In der Folgezeit wurde die Frage nicht mehr thematisiert. Vielmehr hat der BGH zunächst zurückhaltend (BGH RRa 2011, 33, 36 Rdn. 29; RRa 2012, 288, 292 Rdn. 33), dann immer stärker darauf abgestellt, dass sich die Vermeidbarkeit auf die Annullierung bzw. Verspätung bezieht. So führt er nunmehr in ständiger Rechtsprechung aus, dass außergewöhnliche Umstände nicht per se zum Wegfall der Ausgleichspflicht führen, sondern dass dies nur der Fall sei, wenn sich ihre Folgen für die planmäßige Durchführung des Flugplans des Luftfahrtunternehmens auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn von diesem alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (BGH RRa 2014, 78, 80 Rdn. 13; ZLW 2014, 638, 639 Rdn. 10; RRa 2015, 19, 20 Rdn. 10; ähnlich bereits BGH RRa 2012, 288, 292 Rdn. 33).

c)

21. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist hinsichtlich der Vermeidbarkeit nicht auf die außergewöhnlichen Umstände, sondern auf die Folge abzustellen.

22. Die Verordnung soll ein möglichst hohes Schutzniveau für die Fluggäste garantieren. Dieses wäre jedoch gefährdet, könnte sich das ausführende Luftfahrtunternehmen darauf berufen, dass eine Ausgleichspflicht aufgrund nicht vermeidbarer außergewöhnlicher Umstände ausgeschlossen ist, obwohl die Folgen in Form der Verspätung vermeidbar gewesen wären. Gerade in dieser Situation bedarf der Fluggast eines besonderen Schutzes.

23. Der Verordnungsgeber scheint selbst von dieser Auslegung ausgegangen zu sein, da in Erwägungsgrund 15 explizit auf die Vermeidbarkeit der Folgen abgestellt wird

5.

24. Sollte die erste Frage dahin beantwortet werden, dass es auf die Vermeidbarkeit der Folgen ankommt, ist im vorliegenden Fall weiterhin unklar, ab welchem Zeitpunkt das ausführende Luftfahrtunternehmen verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.

25. Vorliegend war bereits um 14:05 Uhr UTC erkennbar, dass der Vorflug Verspätung haben würde. Indes war für das ausführende Luftfahrtunternehmen noch nicht absehbar, ob diese Verspätung auch zu einer ausgleichspflichtigen Verspätung im nachfolgenden Flug führen würde. Da noch ein Puffer vorhanden war, stand für die Beklagte erst um 16:35 Uhr UTC fest, dass es zu einer ausgleichspflichtigen Verspätung im Folgeflug kommt.

26. Das erkennende Gericht geht indes davon aus, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen bereits zu dem Zeitpunkt verpflichtet ist, Maßnahmen zu ergreifen, zu dem erkennbar ist, dass der Folgeflug nicht störungsfrei wird ausgeführt werden können. Die Luftfahrtunternehmen sind verpflichtet, sämtliche Störung im Luftverkehr zu vermeiden und nicht erst ausgleichspflichtige Verspätungen im Sinne von Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 261/2004.

6.

27. Schließlich beruft sich die Beklagte noch auf eine Unzumutbarkeit aufgrund der hohen Kosten bei einem Subcharter. Auch dies sieht das erkennende Gericht als nicht erheblich an, da ein dreifaches Kostenrisiko noch nicht unangemessen ist. Anderenfalls wären im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nahezu nie ein Subcharter einzusetzen.

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