Technischer Defekt als außergewöhnlicher Umstand

AG Frankfurt: Technischer Defekt als außergewöhnlicher Umstand

Ein Flugreisender musste wegen eines technischen Defekts an der Maschine seines Anschlussfluges 26 Stunden Verspätung hinnehmen. Er erhielt 600 Euro, denn technische Defekte sind im Luftverkehr keine ungewöhnlichen Ereignisse.

AG Frankfurt 32 C 1923/11 (72) (Aktenzeichen)
AG Frankfurt: AG Frankfurt, Urt. vom 02.12.2011
Rechtsweg: AG Frankfurt, Urt. v. 02.12.2011, Az: 32 C 1923/11 (72)
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Amtsgericht Frankfurt am Main

1. Urteil vom 2. Dezember 2011

Aktenzeichen 32 C 1923/11 (72)

Leitsatz:

2. Ein technischer Defekt ist kein außergewöhnlicher Umstand.

Zusammenfassung:

3. Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung gemäß der europäischen Fluggastrechteverordnung, weil er bei seiner Flugreise am 17. Juli 2010 von Barbados nach Frankfurt am Main über Porlamar auf Isla Margarita 26 Stunden Ankunftsverspätung hinnehmen musste. Ursache war ein technischer Defekt, den die beklagte Fluggesellschaft als außergewöhnlichen Umstand geltend machte.

Das Amtsgericht Frankfurt am Main gab der Klage statt. Ein technischer Defekt stellt ein Ereignis dar, dass im Luftverkehrsbetrieb nicht ungewöhnlich ist. Gemessen an der Flugdistanz standen dem Kläger daher 600,- € zu. Die Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten konnte er jedoch nicht fordern, da er nicht hinreichend belegt hatte, die Beklagte vor der Einschaltung des Rechtsbeistandes erfolglos zur Zahlung aufgefordert zu haben.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 600,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank seit dem 12.08.2010 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger 12,3 Prozent und der Beklagte 87,7 Prozent auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert wird auf 600,00 EUR festgesetzt.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

5. Der Kläger nimmt die beklagte Fluggesellschaft auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600,00 EUR nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11. Februar 2004 (im Folgenden: VO (EG) Nr. 261/2004) in Anspruch.

6. Der Kläger buchte bei der Beklagten für den 17.07.2010 eine Flugreise von Barbados nach Frankfurt am Main mittels einer Beförderung durch den Flug … von Barbados nach Porlamar/Isla Margarita und durch den Flug … von Porlamar/Isla Margarita nach Frankfurt am Main. Den Flug von Barbados nach Porlamar/Isla Margarita führte die Beklagte pünktlich durch. Der Abflug des Fluges von Porlamar/Isla Margarita, der planmäßig am 16.07.2010 um 21.25 Uhr starten und am 17.07.2010 um 13.40 Uhr in Frankfurt am Main landen sollte und zu dem sich der Kläger rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden hatte, verspätete sich aufgrund eines technischen Defekts auf ca. 0.20 Uhr des 18.07.2010, so dass Frankfurt am Main erst mit einer Ankunftsverspätung von mehr als 26 Stunden am 18.07.2010 um 16.35 Uhr erreicht wurde. Mit anwaltlichem Schreiben vom 28.07.2010 forderte der Kläger die Beklagte erfolglos zu der Zahlung von 600,00 EUR zuzüglich 1,78 EUR Verzugszinsen bis zum 11.08.2010 auf.

7. Der Kläger behauptet, die Beklagte sei von dem Kläger selbst bereits vor dem 28.07.2010 unter entsprechender Fristsetzung zur Zahlung aufgefordert worden, woraufhin keine Zahlung erfolgte sei, so dass am 28.07.2010 bereits Zahlungsverzug vorgelegen habe.

8. Der Kläger beantragt,

1.

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank seit dem 16.07.2010 zu zahlen;

2.

den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 84,24 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank seit Rechtshängigkeit freizustellen.

9. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10. Die Beklagte stellt auf einen einheitlichen Flug von Barbados nach Frankfurt am Main ab und beruft sich in der Folge auf den pünktlichen Abflug des Fluges in Barbados, so dass es an einer relevanten Abflugverspätung am Ausgangsort fehle. Die Beklagte behauptet, dass kein wirksamer Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen dem Kläger und seinen Prozessbevollmächtigten zustande gekommen sei. Ferner sei dem Kläger kein Schaden entstanden, da er von einem Prozessfinanzierer von jeglichen Prozess- und Rechtsanwaltskosten freigestellt worden sei.

11. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

12. Die zulässige Klage ist hinsichtlich des Zahlungsanspruchs begründet und hinsichtlich der geltend gemachten Nebenforderungen im Wesentlichen unbegründet.

I.

13. Das Amtsgericht Frankfurt am Main ist gemäß § 29 ZPO örtlich zuständig.

14. Vorliegend ist der vereinbarte Ankunftsort in Frankfurt am Main unabhängig vom Vertragsstatut als der Ort der Erfüllung i. S. d. § 29 ZPO zu betrachten und begründet den Gerichtsstand für die Klage auf pauschalierten Ausgleich gemäß der VO (EG) Nr. 261/2004 (vgl. BGH, Urteil vom 18.01.2011 – X ZR 71/10, BeckRS 2011, 03880).

II.

15. Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Ausgleichsanspruch in Höhe von 600,00 EUR in entsprechender Anwendung der Art. 7 Abs. 1 Buchst. c), 5 Abs. 1 Buchst. c) VO (EG) Nr. 261/2004 zu.

16. Der Anwendungsbereich der Verordnung ist nach deren Art. 3 Abs. 1 Buchst. b) eröffnet.

17. Mit der Rechtsprechung des EuGH vom 19.11.2009 – C 402-​07 (EuZW 2009, 890) sind Art. 5, 6 und 7 VO (EG) Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h. wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Verspätet ist ein Flug gemäß Art. 6 der VO (EG) Nr. 261/2004 nur, wenn sich seine Abflugzeit verspätet.

18. Dies ist vorliegend aufgrund des über 26 Stunden verspäteten Abflugs in Porlamar/Isla Margarita – und der ebenso verspäteten Ankunft in Frankfurt am Main – der Fall. Für die Beurteilung der relevanten Abflugverspätung ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts auf den Flug … von Porlamar/Isla Margarita nach Frankfurt am Main abzustellen, da ein Ausgleichsansprüche begründender „Flug“ i. S. d. VO (EG) Nr. 261/2004 nicht mit der Flugreise gleichzusetzen ist, sondern jede einzelne Einheit der Luftbeförderung als eigenständiger Flug i. S. d VO anzusehen ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist damit nicht ein einheitlicher Flug von Barbados nach Frankfurt am Main zugrunde zu legen und auf einen pünktlichen Abflug des Fluges von Barbados abzustellen, sondern zwischen dem Kurz- und dem Langstreckenflug, mithin nach den jeweils einzelnen Flugsegmenten, zu unterscheiden. Das erkennende Gericht verweist insofern auf die überzeugenden Ausführungen des Landgerichts Frankfurt am Main im Urteil vom 23.09.2010 – 2-​24 S 28/10 (RRa 2010, 273), die den umgekehrten Fall der Verspätung des Kurzstrecken- und den rechtzeitigen Abflug des Langstreckenfluges betrifft:

19. „Im Übrigen lässt sich aus der Absicht des Europäischen Gerichtshofs, den Verbraucherschutz zu stärken, nicht ableiten, dass er nunmehr eine aus mehreren Segmenten bestehende Flugreise zu einem Flug im Sinne der FluggastVO zusammenfassen will. In seiner Entscheidung vom 19.11.09 definiert er unter Ziffer 30 einen „Flug“ als einen Beförderungsvorgang nach einer vom Luftfahrtunternehmen festgelegten Flugroute und verweist im Übrigen auf seine Entscheidung vom 10.7.08 (Az.: C-​173/07). Dort führt er unter Ziffern 32, 40 aus, dass sich eine Reise aus mehreren Flügen, die jeweils einen „Luftbeförderungsvorgang“ darstellen, zusammensetzen kann. Unter „Endziel“ ist der Zielort des letzten Fluges zu verstehen (Ziffer 33).

20. Einzelne Segmente der Flugreise werden zwar durch den mit dem Luftfahrtunternehmen abgeschlossenen Beförderungsvertrag zu einer Reise verbunden. Von dieser vertraglichen Ebene her lässt sich aber Beginn und Ende des Beförderungsvorgangs im Sinne der FluggastVO nicht herleiten. Der Ausgleichsanspruch ist kein vertraglicher Anspruch. Schuldner der Ausgleichszahlung ist nicht der Vertragspartner des Fluggastes, sondern der faktische Beförderer. Bei mehreren Abschnitten einer Reise können dies verschiedene Fluggesellschaften sein.“

21. Ebenso führt der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30.04.2009 – Xa ZR 78/08 (NJW 2009, 2740) aus:

22. „Denn der Flug im Sinne der Verordnung ist nicht mit der Flugreise gleichzusetzen, die die Fluggäste unternehmen (EuGH, NJW 2008, 2697 = RRa 2008, 237 Rdnr. 32 – Emirates Airlines/Schenkel). Flug ist vielmehr, wie auch Art. 2 lit. h VO zeigt, auch bei einem einheitlichen Beförderungsvertrag die einzelne „Einheit“ einer Luftbeförderung, die von einem Luftverkehrsunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Flugroute festlegt (EuGH, NJW 2008, 2697 = RRa 2008, 237 Rdnr. 40). (…)“

23. Unter Anwendung dieser Grundsätze und unter Berücksichtigung, dass aus Art. 2 Buchst. h) der VO (EG) Nr. 261/2004 deutlich wird, dass die Verordnung selbst zwischen „(Erst-​)Flug“und „Anschlussflug“unterscheidet und damit ihrerseits von einer Segmentierung ausgeht (AG Rüsselsheim, Urteil vom 10.08.2011 – 3 C 72/11, RRa 2011, 246) sowie dass das von der VO berücksichtigte Schutzbedürfnis eines Passagiers nach Absolvierung eines ersten Beförderungsabschnittes durch den Erstflug im Hinblick auf seine Weiterbeförderung mit dem Anschlussflug ebenso hoch ist wie bei dem Reiseantritt, ist auch nach Auffassung des erkennenden Gerichts für die Beurteilung des Vorliegens einer Abflugverspätung auf den Einzelflug … von Porlamar/Isla Margarita abzustellen, der erst mit einer über 26-​stündigen Verspätung startete und mit selbiger Verspätung landete. Die Voraussetzungen für die Begründung eines Ausgleichsanspruchs sind damit erfüllt.

24. Die Beklagte ist von ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichsleistungen nicht nach Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 befreit. Gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solch außergewöhnliche Umstände sind vorliegend nicht dargetan. Das Auftreten eines technischen Defekts stellt keinen außergewöhnlichen Umstand i. S. d. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 dar, sondern gehört zu denjenigen Ereignissen, die beim Betrieb eines Luftfahrtunternehmens typischerweise auftreten können und deshalb Teil des betrieblichen Alltags sind.

III.

25. Der Zinsanspruch in tenorierter Höhe ergibt sich aus §§ 286 Abs. 1, 288 BGB.

26. Ein Anspruch des Klägers auf Freistellung von den vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten besteht nicht. Ein vor Beauftragung der klägerischen Prozessbevollmächtigte eingetretener Verzugseintritt ist klägerseits nicht schlüssig dargelegt. Auf das erstmalige substantiierte Bestreiten der Beklagten im nachgelassenen Schriftsatz, dass diese durch den Kläger zur Zahlung aufgefordert wurden, kommt es daher nicht entscheidungserheblich an.

27. Der Kläger trägt vor, die Beklagte bereits vor Inanspruchnahme der anwaltlichen Vertretung zu der Zahlung der Entschädigungsleistung aufgefordert zu haben. Ungeachtet des Umstandes, dass der Vortrag nicht hinreichend substantiiert ist, da weder das Datum der klägerischen Zahlungsaufforderung noch die Länge der gesetzten Frist dargelegt wird, fehlt es bereits an der Schlüssigkeit dieses Vortrags. Der streitgegenständliche Flug vom 16.07.2010 landete aufgrund der Verspätung erst am Nachmittag des 18.07.2010. Die anwaltliche Zahlungsaufforderung datiert vom 28.07.2010. Selbst wenn der Kläger unverzüglich nach Ankunft in Frankfurt am Main noch am 18.07.2010 die Beklagte zur Zahlung aufgefordert hätte, kann – jedenfalls ohne nähere Darlegung der Klägerseite – nicht davon ausgegangen werden, dass bereits zehn Tage später am 28.07.2010 eine angemessene Frist zur Begleichung der begehrten Forderungen abgelaufen gewesen wäre. Jedenfalls eine vierzehntätige Frist wäre der Beklagten zur Prüfung der gegen sei geltend gemachten Ansprüche vor Einschaltung eines anwaltlichen Vertreters zu gewähren gewesen. Zum Zeitpunkt der Beauftragung der klägerischen Prozessbevollmächtigten, die am oder vor dem 28.07.2010 erfolgt sein muss, bestand damit kein Verzug.

28. Eines gerichtlichen Hinweises bedurfte es gemäß § 139 Abs. 2 ZPO nicht.

IV.

29. Die Kostenentscheidung beruht unter Zugrundelegung des die Nebenforderungen beinhaltenden fiktiven Streitwerts auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.

V.

30. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 48 Abs. 1 Satz 1 GKG, 3 ZPO.

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