Luftfahrtunternehmen bei CodeSharing

LG Berlin: Luftfahrtunternehmen bei CodeSharing

Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung und Schadensersatz wegen der Annullierung seines Fluges. Die Beklagte weigert sich der Zahlung, da sie die Ausführung des Fluges im Rahmen eines Code-Sharing-Verfahrens auf eine andere Airline übertragen hatte.

Das Landgericht Berlin hat dem Klägerbegehren entsprochen. Die Beklagte sei dem Kläger gegenüber als ausführendes Unternehmen aufgetreten und hafte entsprechend für die Verspätung.

LG Berlin 57 S 58/16 (Aktenzeichen)
LG Berlin: LG Berlin, Urt. vom 16.03.2017
Rechtsweg: LG Berlin, Urt. v. 16.03.2017, Az: 57 S 58/16
AG Wedding, Urt. v. 27.04.2016, Az: 5 C 125/15
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Landgericht Berlin

1. Urteil vom 16. März 2017

Aktenzeichen 57 S 58/16

Leitsätze:

2. Bei Code-Sharing ist diejenige Fluggesellschaft als ausführender Luftfrachtführer zu betrachten, die durch Bereitstellung von Flugzeug und Personal die Beförderung tatsächlich leistet.

Tritt der Vertragspartner eines bei einem Code-Sharing-Flug geschädigten Passagiers ohne Hinweis auf die Passivlegitimation des tatsächlich ausführenden Luftfahrtunternehmens als Anspruchsgegner auf, haftet er für die Schlechtleistung.

Die Anrechnung von pauschaler Ausgleichszahlung und Schadensersatz bei Ansprüchen aus der Fluggastrechteverordnung ist nur zulässig, wenn sich die Schäden inhaltlich decken.

Zusammenfassung:

3. Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung und Schadensersatz, weil er aufgrund der Annullierung seines Fluges eine Übernachtung bezahlen und Ersatztickets beschaffen musste. Die beklagte Fluggesellschaft berief sich in der vorgerichtlichen Korrespondenz mit dem Passagier zunächst auf außergewöhnliche Umstände und führte erst auf dessen Klage vor dem Amtsgericht Wedding hin an, dass der Flug im Rahmen von Code-Sharing von einer anderen Fluggesellschaft hätte durchgeführt werden sollen und bestritt die eigene Passivlegitimation.

Das Amtsgericht verurteilte die Beklagte zur Leistung der Ausgleichszahlung und des Schadensersatzes. Die Beklagte legte Berufung ein, die vom Landgericht Berlin jedoch zurückgewiesen wurde. Da für den Kläger stets die Beklagte als ausführendes Unternehmen aufgetreten war, musste sie auch als solches haften, auch wenn grundsätzlich das tatsächlich befördernde Unternehmen als ausführend anzusehen ist. Der Kläger erhielt sowohl die pauschale Ausgleichszahlung für die Unannehmlichkeiten der Annullierung, als auch Schadenserstz für die Mehrkosten, da eine Anrechnung von beidem nur bei inhaltlicher Übereinstimmung erfolgen kann und eine Überkompensation des Passagiers drohe.

Tenor:

4. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgericht Wedding vom 27.04.2016 – 5 C 125/15 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

5. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angegriffenen Urteil wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

6. Die Beklagte wendet sich unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags gegen das erstinstanzliche Urteil. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, die Beklagte sei nicht ausführendes Luftfahrtunternehmen für den annullierten Flug gewesen, sondern die … express. Es habe sich bei diesem Flug um einen sogenannten „Code-​Sharing-​Flug“ gehandelt, bei dem die aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: FluggastVO) folgenden Verpflichtungen nicht das beauftragte Flugunternehmen treffen, sondern dasjenige Flugunternehmen, das tatsächlich die Durchführung des Fluges unternehme. Es spiele auch keine Rolle, dass die … Express ein Tochterunternehmen der Beklagten sei, da es sich um rechtlich selbständige Unternehmen mit eigener Flugzeugflotte und Personal handle, und zudem eine im Flugverkehr „immanente Konzernhaftung“ mit den Grundsätzen des Schuld- und Schadensrechts nicht zu vereinbaren sei.

7. Hinsichtlich der Schadensersatzansprüche habe entgegen der Ansicht des Amtsgerichts eine Anrechnung gemäß Art. 12 Abs. 1 FluggastVO auf die Ausgleichszahlung zu erfolgen. Mit Schriftsatz vom 10.08.2015 (Bl. 73 d.A.) hat sie ausdrücklich die Anrechnung nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO erklärt.

8. Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Amtsgerichts Wedding vom 27.04.2016 – 5 C 125/15 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

9. Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

10. Er ist der Ansicht, ein Berufen auf die fehlende Passivlegitimation sei rechtsmissbräuchlich, da die Beklagte in der vorgerichtlichen Korrespondenz eine Ausgleichszahlung stets allein mit der Berufung auf außergewöhnliche Umstände abgelehnt habe, und erstmals 14 Monate später in der Klageerwiderung vom 18.01.2016 die fehlende Passivlegitimation eingewendet habe. Eine Anrechnung der Schadensersatzansprüche gemäß Art. 12 Abs. 1 FluggastVO habe nicht zu erfolgen, da es sich um materielle Schäden handle, während die FluggastVO immaterielle Schäden ausgleichen wolle. Eine doppelte Schadenskompensation, wie dies etwa im Fall einer zusätzlich geltend gemachten Reisepreisminderung der Fall sein könne, liege dadurch gerade nicht vor.

II.

11. Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 511, 513, 517, 519, 520 ZPO. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

12. Das Amtsgericht hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger gegen die Beklagte sowohl ein Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäß Art. 5 Abs. 1 c, 7 Abs. 1 c FluggastVO zusteht als auch ein Schadensersatzanspruch gemäß §§ 631, 280 Abs. 1 BGB.

1.

13. Die Beklagte ist passivlegitimiert. Der – vorliegend dem Grunde und der Höhe nach unstreitige – Ausgleichsanspruch besteht grundsätzlich gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, das nach Art. 2 lit. b FluggastVO als das Luftfahrtunternehmen definiert ist, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt.

14. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist im – hier gegebenen – Fall des sog. CodeSharing dasjenige Luftfahrtunternehmen als „ausführend“ im Sinne der Verordnung zu betrachten, welches mit dem von ihm bereitgestellten Flugzeug und Personal die Beförderungsleistung tatsächlich erbringt (BGH, Urteil vom 26.11.2009 – Xa ZR 132/08 – RRa 2010, 85 Rdnr. 8a). Das Abstellen auf tatsächliche, und nicht etwa vertragliche Kriterien, führt auch in den meisten Fällen zu sachgerechten Ergebnissen, weil es grundsätzlich sinnvoll ist, dass dasjenige Unternehmen Ansprüchen nach der Verordnung ausgesetzt ist, das als vor Ort tatsächlich präsentes und agierendes Unternehmen auch in der Lage ist, Nichtbeförderungen, Annullierungen und Verspätungen zu verhindern. Daher wird teilweise vertreten, dass der Begriff „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ rein tatsächlich zu bestimmen sei, und dadurch möglicherweise entstehende Unbilligkeiten hinzunehmen seien, bzw. mit Hilfe des Schuldrechts (Mängelgewährleistungs-​, Schadensersatzansprüche) zu lösen seien (vgl. z.B. Wahl, RRa 2013, 262 ff.).

15. Nach Auffassung der Kammer darf diese objektive Beurteilung allerdings nicht dazu führen, dass Fluggesellschaften sich durch die Beauftragung Dritter mit der physischen Durchführung des Fluges relativ leicht der Haftung nach der Fluggastrechteverordnung entziehen können. Mit der Verordnung war ein hohes Niveau an Verbraucherschutz intendiert (vgl. Erwägungsgrund 1 VO (EG) Nr. 261/2004 vom 11.02.2004). Der Fluggast, dem Ansprüche nach der Verordnung zustehen, muss daher auch in der Lage sein, diese unproblematisch geltend machen zu können. Hierfür ist es entscheidend, dass er ohne Schwierigkeiten den richtigen Anspruchsgegner identifizieren kann. Dies ist ihm nur dann möglich, wenn ihm die entsprechenden Informationen bei der Buchung oder eventuell später durch das Luftfahrtunternehmen mitgeteilt worden sind (vgl. Bezirksgericht für Handelssachen Wien, Urteil vom 23.04.2014 – 11 C 413/13k – juris; AG Frankfurt a.M., Urteil vom 27.04.2014 – 32 C 3719/23 -).

16. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird in Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2111/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.12.2005 der Vertragspartner für die Beförderung im Luftverkehr dazu verpflichtet, die Fluggäste bei der Buchung über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu unterrichten (vgl. auch BGH, Urteil vom 26.11.2009 – Xa ZR 132/08, – juris Rdnr. 11 a.E.). Dass es sich dabei um das den Flug tatsächlich durchführende Unternehmen handelt, wird in den Erwägungsgründen 11, 13 und 14 zu dieser Vorschrift ausdrücklich erwähnt. Die Vorschrift des Art. 11 VO 2111/2005 ist daher Grundlage dafür, dass in ihrem Geltungsbereich – d. h. bei Verträgen über eine Beförderung, die in der Gemeinschaft begonnen hat (Art. 10 Abs. 1 VO 2111/2005) – in den Buchungsunterlagen das Luftfahrtunternehmen anzugeben ist, das im Rahmen eines Code-​Sharings den Flug auf dem betreffenden Streckenabschnitt tatsächlich ausführt.

17. Vorliegend weist nicht nur das Kürzel der Flugnummer … auf die Beklagte hin, sondern der gesamte Buchungsvorgang hat über die Beklagte stattgefunden, und auf den als Anlage K1 (Bl. 9 d.A.) eingereichten Buchungsunterlagen ist entgegen der oben genannten Verpflichtung aus der VO 2111/2005 nicht erkennbar, dass ein anderes Unternehmen als die Beklagte den Flug ausführen würde. Darüber hinaus hat die Beklagte die gesamte Korrespondenz im Rahmen der vorgerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Kläger übernommen, ohne auf ihre angeblich fehlende Passivlegitimation hinzuweisen. Die Beklagte hat also zu keinem Zeitpunkt vorprozessual erkennen lassen, dass jemand anderes als sie die Verantwortung für die Durchführung des Fluges tragen sollte.

18. Um eine Umgehung der Haftung aus der Fluggastrechteverordnung mittels Code-​Sharing durch Unterlassen von vorgeschriebenen Informationen zu verhindern, wird teilweise eine Beweislastumkehr befürwortet, mit der Folge, dass bei unterlassenen Informationspflichten hinsichtlich des ausführenden Luftfahrtunternehmens ausnahmsweise die Fluggesellschaft, die sich nach außen gegenüber dem Fluggast als ausführendes Luftfahrtunternehmen geriert habe, beweisen müsse, dass es tatsächlich nicht das ausführende Unternehmen sei (vgl. LG Düsseldorf, Urteil vom 13.12.2013 – 22 S 234/12 – BeckRS 2014, 17370; LG Berlin, Urteil vom 02. September 2014 – 57 S 277/13 -, Rdnr. 9, juris, wobei es hier im Ergebnis nicht darauf ankam, da das ausführende Unternehmen aus den Buchungsunterlagen ersichtlich war). Teilweise wird auch vertreten, dass Folge einer Informationspflichtverletzung lediglich ein Schadensersatzanspruch auf Ersatz der Prozesskosten sei (LG Düsseldorf, Urteil vom 13.12.2013 – 22 S 234/12 – BeckRS 2014, 17370, aber ohne nähere Begründung).

19. Überzeugender erscheint es hingegen, in diesen Fällen von einer Haftung des vertraglichen Luftfahrtunternehmens als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ nach der Fluggastrechteverordnung auszugehen (vgl. Bezirksgericht für Handelssachen Wien, Urteil vom 23.04.2014 – 11 C 413/13k – juris; zustimmend Staudinger/Röben, NJW 2014, 2839 ff.; LG Bremen, NJW-​RR 2014, 239; AG Frankfurt a.M., Urteil vom 27.04.2014 – 32 C 3719/23 -; Ullenboom, NZV 2015, 319; ähnlich LG Hamburg, Urteil vom 08.02.2012 – 318 S 84/11, Rz. 47 – juris). Die Kammer schließt sich dieser Ansicht an, da nur so durch die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene wirksam sichergestellt werden kann, dass die vertraglichen Fluggesellschaften ihre Informationspflichten nach Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/05 einhalten. Dabei ist entscheidend zu berücksichtigen, dass die Einhaltung der Informationspflichten für den Fluggast essentiell für die effektive Wahrnehmung seiner Rechte aus der Fluggastrechteverordnung ist. Diesem Umstand würde weder durch eine Beweislastumkehr hinreichend Rechnung getragen, noch durch einen Verweis auf schuldrechtliche Schadensersatzansprüche, zumal letzteres die Fluggäste mit der Führung weiterer Prozesse belasten würde (vgl. hierzu ausführlich Ullenboom, NZV, 2015, 319 ff, 321).

20. Entgegen der Ansicht der Beklagten steht dem auch nicht die Rechtsprechung des BGH zur formalen Betrachtungsweise des „ausführenden Luftfahrtunternehmens“ entgegen. In der Entscheidung vom 26.11.2009 (Xa ZR 132/08, NJW 2010, 1522), musste sich der BGH nicht mit den Folgen einer Informationspflichtverletzung auseinandersetzen, da in dem Fall das ausführende Luftfahrtunternehmen aus den Buchungsunterlagen erkennbar war, mithin gerade keine Informationspflichtverletzung nach Art. 11 VO (EG) Nr. 2111/05 vorlag (vgl. BGH, Urteil vom 26.11.2009, a.a.O., Rdnr. 2).

21. Nach dem vorstehend Gesagten kommt es auf das erstmals in der Berufungsbegründung als Anlage B1 (Bl. 71 d.A.) vorgelegte Datenblatt des Fluges – abgesehen von einem möglichen Verspätungseinwand – insofern nicht an, als nicht erkennbar ist, inwiefern der Kläger vorprozessual von dessen Inhalt Kenntnis erhalten haben soll. Der einzige vorprozessuale Hinweis auf die Iberia Express findet sich in der Annullierungsbestätigung, Anlage K2, Bl. 11 d.A. Dort hat die „acciona Airport Services“ „Im Namen von / on behalf of“ „… express“ die Annullierung des Fluges bestätigt. Aus den oben bereits näher dargelegten Gesamtumständen, musste der Kläger aber allein aus dieser einzelnen handschriftlichen Mitteilung, die zudem nicht von der Beklagten oder … Express ausgefüllt wurde, sondern von Mitarbeitern eines externen Dienstleistungsunternehmens am Flughafen, nicht den Schluss ziehen, die … Express sei das ausführende Flugunternehmen gewesen. Insbesondere im Hinblick auf die oben erwähnte außergerichtliche Korrespondenz zwischen den Parteien, hat sich die Beklagte gegenüber dem Kläger über mehr als ein Jahr als das Unternehmen präsentiert, das Ansprechpartner für die Verpflichtungen nach der FluggastVO ist, und damit als ein solches, das über entsprechende Einflussmöglichkeiten verfügt. Ein nunmehriges Berufen darauf, dass der Kläger allein aus der Mitteilung eines Dritten hätte erkennen müssen, dass nicht sie, sondern die Iberia Express ausführendes Flugunternehmen gewesen sei, erscheint treuwidrig, und ist im Hinblick auf das oben genannte Ziel der Verhinderung von Umgehungskonstellationen nicht zu berücksichtigen bei der Frage, wer als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ haftet. Vor diesem Hintergrund kann die Beklagte auch nicht damit durchdringen, das Amtsgericht habe es unstreitig gestellt, dass der Flug nicht von ihr, sondern von … express ausgeführt werden sollte. Denn die Haftung der Beklagten nach der Fluggastrechteverordnung folgt hier eben nicht aus der formalen Bestimmung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, sondern aus der Informationspflichtverletzung gegenüber dem Kläger als Fluggast, um eine Umgehung der Haftung aus der Fluggastrechteverordnung zu verhindern.

2.

22. Daneben hat der Kläger gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß Art. 19 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen) vom 28.05.1999 bzw. §§ 631, 280 Abs. 1 BGB in Höhe von insgesamt EUR 137,80.

23. Unstreitig hat der Kläger seinen Anschlussflug in Panama verpasst, weshalb ihm Umbuchungskosten entstanden sind. Auch die angefallenen Hotelkosten für das nicht genutzte Zimmer (nutzlose Aufwendungen) beruhen auf der Flugannullierung. Da die Beklagte keine Exkulpationsgründe vorgetragen hat, erfolgte die Annullierung auch schuldhaft. Die Höhe des entstandenen Verzugsschadens (EUR 137,80) ist ebenfalls unstreitig. Die nach der Fluggastrechteverordnung zu gewährende Ausgleichsleistung ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO auf diesen Schadensersatzanspruch anzurechnen.

24. Gemäß Art 12 Abs. 1 FluggastVO kann die nach der Verordnung gewährte Ausgleichsleistung auf einen weiter gehenden Schadensersatzanspruch angerechnet werden. Der Begriff „weiter gehender Schadensersatz“ ist nach Meinung des EuGH dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraussetzungen des Montrealer Übereinkommens oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrages entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen Schadens, zu gewähren (EuGH (3. Kammer), Urt. v. 13. 10. 2011 – C-​83/10 (Aurora Sousa Rodriguez u.a./Air France SA), NJW 2011, 3776; Maruhn in BeckOK FluggastrechteVO, Schmid, 1. Edition, Stand 01.01.2017, Art.12, Rdnr. 6).

25. Es handelt sich vorliegend insoweit um „weiter gehende“ Schadensersatzansprüche i.S.d. Art. 12 Art. 1 FluggastVO, als es sich bei den Umbuchungs- und Hotelkosten um einen Verzugsschaden wegen der verspäteten Ankunft in Panama im Sinne von Art. 19 Montrealer Übereinkommen bzw. §§ 631, 280 Abs. 1 BGB handelt. Es handelt sich hingegen nicht um Schadensersatz wegen nicht erbrachter Betreuungs- und Unterstützungsleistungen nach Art. 8 und 9 FluggastVO. Denn der Anschlussflug von Panama nach Bocas del Toro, und die Hotelübernachtung in Bocas del Toro vom 24. auf den 25.10.2014, waren von der Beklagten nicht geschuldet.

26. In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastVO nur dem Ausgleich immaterieller Schäden dienen soll, was im Ergebnis dazu führen würde, dass materielle Schäden nicht nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO anzurechnen wären. Der BGH hat die Frage, ob die Anrechnung nur für immaterielle oder auch für materielle Schadensersatzansprüche in Betracht kommt, wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (EuGH-​Vorlagebeschlüsse vom 30.07.2013 – X ZR 111/12 und X ZR 113/12). Dabei hat er deutlich gemacht, dass es für den Fall der Notwendigkeit einer Entscheidung über die Anrechnung nach nationalem Recht schließlich darauf ankomme, welche Beeinträchtigung die Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastVO kompensieren soll. Denn nach deutschem Recht könnten Ersatzleistungen für den materiellen Schaden nicht auf immaterielle Nachteile angerechnet werden und umgekehrt, weshalb eine Anrechnung ausschiede, wenn die Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastVO nur dem Ausgleich immaterieller Schäden diente.

27. Der EuGH hat über die Vorlagefrage letztlich nicht entscheiden müssen, weil das Verfahren vorher durch ein Anerkenntnis der beklagten Fluggesellschaft beendet wurde (BGH, Anerkenntnisurteil vom 27.05.2014 – X ZR 111/12 – juris). Teilweise wird vertreten, dass die Ausgleichszahlung pauschal sowohl die materiellen, als auch immateriellen Beeinträchtigungen durch eine Annullierung bzw. Verspätung kompensieren soll (vgl. LG Frankfurt a.M., Urteil vom 05.12.2014 – 2/24 S 66/14, beck-​online). Nach Auffassung des LG Frankfurt liefe die Anrechnungsregelung des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO weitgehend leer, wenn mit der Ausgleichszahlung nur immaterielle Unannehmlichkeiten (Zeitverlust) kompensiert werden sollten.

28. Bollweg (RRa 2009, 10 (11)) sieht beide Ansprüche als erfasst an, da die Vorschrift keine Unterscheidung treffe und auch Art. 7 Abs.1 nicht differenziere (siehe auch Leffers RRa 2008, 258 (259)). Die Anrechnungsregelung in Art 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO sei im Ergebnis eine Klarstellung von Art. 12 Abs. 1 Satz1 FluggastVO (weiter gehender Schadensersatz). Aus Beidem ergebe sich, dass der Fluggast, soweit es um den Ausgleich desselben Schadens gehe, zwar den weitreichendsten Anspruch geltend machen dürfe, jedoch keinen doppelten Ersatz verlangen könne. Auf die Differenzierung von materiellem und immateriellem Schaden komme es insofern nicht an, weil es im Ergebnis darum gehe, eine Überkompensation des Fluggastes auszuschließen.

29. Allerdings soll nach der Rechtsprechung des EuGH die Ausgleichszahlung zumindest überwiegend eine Kompensation für durch die Flugzeitverlängerung erlittenen Unannehmlichkeiten sein (EuGH ECLI:EU:C:2012:657, BeckRS 2012, 82188 = NJW 2013, 671 – Nelson ./. Lufthansa). Daher geht etwa Maruhn davon aus, dass eine Anrechnung von materiellen Schäden nicht in Betracht komme (Maruhn in BeckOK, a.a.O., Rdnr. 11).

30. Die Kammer folgt der vermittelnden Ansicht – wie von Bollweg vertreten – da hierdurch auch dem Umstand Rechnung getragen wird, dass in anderen nationalen Regelungen die sprachliche Unterscheidung von materiellem und immateriellen Schadensersatz teilweise so nicht besteht, und unabhängig von diesen Begrifflichkeiten auf den Zweck der Regelung (Verhinderung von Überkompensation) abzustellen ist. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BGH zur Frage der Anrechenbarkeit von Minderungsansprüchen nach dem Reisevertragsrecht (BGH, Urteil vom 30.09.2014 – X ZR 126/13). Darin hatte der BGH ausgeführt, dass beide auf der Verspätung (bzw. Annullierung) des Fluges adäquat kausal beruhenden Ansprüche gleichermaßen dem Ausgleich der dem Fluggast verspätungsbedingt entstandenen Unannehmlichkeiten dienten, eine gesetzliche Rechtfertigung für eine Kumulierung der Ansprüche bestehe nicht. In dieser Entscheidung hat der BGH zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Vorlagefrage aus den Vorlagebeschlüssen vom 30.07.2013 (s.o.), ob auch materielle Schäden von Art. 12 Abs. 1 FluggastVO umfasst sind, für diesen Fall keine Relevanz hatte, da es allein um einen Ausgleich verspätungsbedingter Unannehmlichkeiten der Fluggäste ging. Dies hatte jedoch nur Auswirkungen auf die Frage, ob die Sache aus Sicht des BGH entscheidungsreif war, oder dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen war.

31. Der Grundgedanke, dass durch Art. 12 Abs. 1 FluggastVO eine doppelte Entschädigung ausgeschlossen werden soll, lässt sich auch aus dieser Entscheidung entnehmen. Im Ergebnis kommt es daher darauf an, ob sich Ausgleichs- und Schadensersatzanspruch decken, also zum einen auf der Verspätung bzw. Annullierung des Fluges beruhen, und zum anderen die gleiche Art von Schaden kompensiert werden soll. Faktisch mag das nach deutschem Recht darauf hinauflaufen, dass letztlich nur immaterielle Schäden nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO auf die Ausgleichszahlung anzurechnen sind. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass – wie oben dargelegt – nach dem EuGH zumindest Hauptziel der Ausgleichszahlung nach Art.7 FluggastVO eine Kompensation der verspätungsbedingten Unannehmlichkeiten, also des Zeitverlustes ist, sachgerecht. Der hier von dem Kläger zusätzlich geltend gemachte Schaden (Umbuchungs-​, Hotelkosten) beruht zwar auf der Annullierung, denn wäre der Flug rechtzeitig gewesen, hätte er seinen bereits gebuchten Anschlussflug erreicht und wäre so rechtzeitig am eigentlichen Zielort gewesen, so dass er in dem gebuchten Hotelzimmer hätte übernachten können. Dieser (materielle) Schaden ist ihm unabhängig von und zusätzlich zu den Unannehmlichkeit wegen der Flugannullierung (14 h Warten auf dem Flughafen auf den Anschlussflug, später beginnende Urlaubsfreude, etc.) entstanden.

32. Ginge man mit dem LG Frankfurt a.M. in der oben zitierten Entscheidung davon aus, dass es sich bei der Ausgleichszahlung um eine pauschale Kompensation für immaterielle und materielle Schäden handelte, würde das im Ergebnis dazu führen, dass letztlich diejenigen Fluggäste besser gestellt würden, die keinen (zusätzlichen) materiellen Schaden neben dem Zeitverlust erlitten haben. Ihnen würde die Ausgleichszahlung in voller Höhe zustehen, während bei Eintritt eines weiteren (materiellen) Schadens durch die Anrechnung die Ausgleichszahlung sogar bis auf 0 herabzusetzen wäre, sofern der Schaden die Höhe der Ausgleichszahlung erreicht oder übersteigt. Das hieße, dass die geschädigten Personen zwar ihren materiellen Schaden ersetzt bekämen, aber mehr auch nicht. Je höher der materielle Schaden ist, desto weniger immaterielle Kompensation bliebe am Ende für die Geschädigten. Dies würde jedoch dem Zweck der Ausgleichszahlung zuwider laufen.

33. Nach Ansicht des EuGH (EuGH ECLI:EU:C:2012:657, BeckRS 2012, 82188 = NJW 2013, 671 = RRa 2012, 272 – Nelson ./. Lufthansa) unter Bezugnahme auf das Sturgeon-​Urteil zielt die Verordnung darauf ab, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder von einer Annullierung oder großen Verspätung eines Fluges betroffen sind, da insoweit von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr auszugehen ist. Es soll mit der Ausgleichszahlung nur der von den Fluggästen erlittene Zeitverlust kompensiert werden.

34. Nach alldem ist davon auszugehen, dass Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO so zu verstehen ist, dass eine Anrechnung von weiter gehenden Schadensersatzansprüchen nur dann erfolgen kann, wenn sich die Ausgleichsleistung und der Schadensersatzanspruch inhaltlich decken, das heißt, soweit es um den Ausgleich desselben Schadens geht. In diesem Fall darf der Fluggast den weitreichendsten Anspruch geltend machen; Ersatz kann aber nicht doppelt verlangt werden (so i.E. auch Bollweg, a.a.O.). Besteht aber – wie im vorliegenden Fall – neben den auf der Annullierung beruhenden Unannehmlichkeiten ein weiterer, materieller Schaden, der ebenfalls auf der nicht vertragsgemäßen Leistung der Fluggesellschaft beruht, so ist dieser Schaden nicht nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO anzurechnen. Die Gefahr einer doppelten Kompensation ist dann nämlich nicht gegeben, vielmehr werden dem Fluggast sämtliche Schäden ersetzt, die ihm aufgrund der vertragswidrigen Leistung entstanden sind (ebenso: Maruhn in BeckOK, a.a.O., Rdnr. 20).

35. Da nach dem Vorstehenden der materielle Schaden nicht auf den Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastVO anzurechnen ist, braucht nicht weiter erörtert zu werden, ob angesichts der Formulierung „kann“ in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO die Anrechnung zwingend erfolgen muss, wenn sich das Luftfahrtunternehmen darauf beruft, oder ob diese im gerichtlichen Ermessen liegt (vgl. zum Streitstand Maruhn in BeckOK, a.a.O., Rdnr. 32 ff.). Es kommt ebenfalls nicht darauf an, ob die erstmals mit Schriftsatz vom 10.08.2015 (Bl. 73 d.A.) in der Berufungsinstanz ausdrücklich erklärte Anrechnung durch die Beklagte verspätet sein könnte.

III.

36. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

IV.

37. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Danach ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

38. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann, oder wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren Interessen in besonderem Maße berühren und ein Tätigwerden des BGH erforderlich machen (BGH, Beschluss vom 11.05.2004, XI ZB 39/03, NJW 2004, 2222). Die hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind wegen der europarechtlichen Relevanz in einer Vielzahl von Fällen im Zusammenhang mit Ansprüchen von Fluggästen nach der Fluggastrechteverordnung klärungsbedürftig.

39. Der Tenor des Urteils des Landgerichts Berlin vom 16.03.2017 wird nach Anhörung der Parteien betreffend die vorläufige Vollstreckbarkeit (Ziff. 3.) wie folgt geändert:

3.

40. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

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