Außerplanmäßige Zwischenlandung

AG Rüsselsheim: Außerplanmäßige Zwischenlandung

Ein Fluggast fordert eine Ausgleichszahlung wegen Flugverspätung, weil seine Maschine aufgrund eines randallierenden Fluggastes einen ungeplanten 20-stündigen Zwischenstopp eingelegt hatte.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat die Klage abgewiesen. Ein randallierender Fluggast sei von der Airline weder zu kontrollieren, noch vorherzusehen und stelle somit einen haftungsbefreienden außergewöhnlichen Umstand dar.

AG Rüsselsheim 3 C 742/16 (36) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 08.02.2017
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 08.02.2017, Az: 3 C 742/16 (36)
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Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 08. Februar 2017

Aktenzeichen: 3 C 742/16 (36)

Leitsatz:

2. Kommt es zu einer großen Flugverspätung, weil der Flugkapitän des Fluges zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung deshalb gezwungen ist, weil eine Flugpassagierin massiv begann zu randalieren, so geht die große Verspätung auf „außergewöhnliche Umstände“ i.S.d. Art. 5 Nr. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 zurück, so dass anderen betroffenen Passagieren keine Ausgleichsleistungsansprüche zustehen.

Zusammenfassung:

3. Eine Reisende buchte bei einer Airline einen Linienflug. Nachdem die Maschine planmäßig gestartet war, war der Pilot dazu gezwungen, einen Zwischenstopp einzulegen. Grund hierfür war ein randalierender Fluggast, der Drohungen aussprach. Ausgrund einer Überstrapazierung des Bordpersonals waren die Flugzeuginsassen dazu gezwungen, sich mehr als 18 Stunden auf dem Flugplatz aufzuhalten. Die Urlauberin verlangt nun eine Ausgleichszahlung wegen Flugverspätung im Sinne von Art. 5 der Fluggastrechte Verordnung.

Die Airline weigert sich der Zahlung. Das Randalieren eines aufgebrachten Fluggastes entspreche einem außergewöhnlichen Umstand, der eine Haftungsbefreiung zur Folge haben müsse.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat die Klage abgewiesen. Gemäß Art. 5 der Fluggastrechte Verordnung sei ein außergewöhnlicher Umstand in Ereignissen zu sehen, die von der Luftfahrtgesellschaft weder vorherzusehen, noch zu kontrollieren seien.
Der plötzliche Ausbruch eines Fluggastes sei für das Personal der Airline nicht vorherzusehen. Die Zwischenlandung sei eine angemessene Reaktion hierauf gewesen und führe somit zu einer Haftungsbefreiung auf Seiten der Beklagten.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten über Ausgleichsansprüche nach der EG- Verordnung 261/2004 (nachfolgend VO) infolge von Flugverspätungen.

6. Die Klägerin hatte bei der Beklagten für den 28. 08. 2015 (planmäßige Abflugzeit 14:30 Uhr) einen Flug von Las Vegas nach Frankfurt am Main gebucht, den die Beklagte auch selbst darstellen sollte. Die Maschine sollte Frankfurt planmäßig am Folgetag, dem 29. 08. 2015, um 10:15 Uhr erreichen. Tatsächlich landete die Maschine aber erst am 30. 08. 2015 um 14:25 Uhr und damit mit einer Verspätung von mehr als 28 h, obwohl sich die Klägerin rechtzeitig zum Abflug eingefunden hatte. Die Flugentfernung betrug mehr als 3.500 km.

7. Grund für die Verspätung war eine durch den Flugkapitän des in Rede stehenden Fluges eingeleitete außerplanmäßige Zwischenlandung in Denver, die wegen eines randalierenden Passagiers erforderlich geworden war.

8. Im Einzelnen:

9. Nachdem die Maschine in Las Vegas die Gateposition verlassen hatte, stellte die Crew fest, dass sich eine Katze, die nicht zum Transport angemeldet war, frei in der Kabine bewegte. Diese wurde zunächst eingefangen und zu ihrer Besitzerin, …, gebracht, welche versuchte, die Katze in ihrer Handtasche zu verstauen, wo sie indes nicht blieb und sich wiederum durch die Kabine bewegte. Nach Rücksprache mit dem Kapitän kam man überein, die Katze während des Fluges in einem für die Passagiere gesperrten Waschraum unterzubringen, wo für das Tier eine Katzentoilette, Fress- und Wassernapf bereitgestellt wurden; Crew- Mitglieder sollten die Katze während des Fluges versorgen.

10. … hielt sich an diese Absprache mehrfach nicht und suchte die Katze in dem Waschraum auf, obwohl Crew- Mitglieder ihr eindringlich versicherten, sich um das Tier zu kümmern. Unter anderem stürmte sie kurz nach dem Start in den Waschraum. Auf die Aufforderung, sich nicht alleine dorthin zu begeben, begann die Passagierin, die Crew lautstark zu beschimpfen und zu beleidigen. Zudem warf sie dem Personal vor, ihre Katze entführt zu haben und diese zu quälen. Obwohl die Zeugin … beruhigend auf … einredete, begann diese, gegen die Waschraumtür zu treten, behauptete, sie deale mit der Mafia und schlug der Zeugin … heftig auf den Arm.

11. Zahlreiche Fluggäste zeigten sich durch dieses Verhalten massiv verängstigt. Aufgrund dieser Umstände entschied der verantwortliche Flugkapitän, dass eine sichere Fortsetzung des Fluges nicht mehr gewährleistet sei, leitete eine Ausweichlandung nach Denver ein und meldete der Air Traffic Controll eine Bedrohungsstufe 3, was zur Folge hatte, dass die Maschine von zwei Kampf- Jets der amerikanischen Air- Force nach Denver begleitet wurde, wo sie um 0:39 Uhr UTC landete. Da die Maschine in Las Vegas vollständig betankt worden war, führte sie bei der Landung so viel Kerosin mit sich, dass sie aufgrund der sogenannten „Overweight- Landung“ zunächst vorschriftsmäßig auf Schäden untersucht werden musste. Zuvor waren Polizei und FBI an Bord gekommen und hatten … in Gewahrsam genommen.

12. Aufgrund dieser Verzögerungen hätte die Crew bei einem Weiterflug nach Frankfurt ihre maximale Dienstzeit überschritten, sodass die Passagiere schließlich in Hotels gebracht wurden. Auch der Einsatz einer Ersatzmaschine bzw. Ersatzcrew hätte die eingetretene Verspätung nicht auf weniger als 3 h reduzieren können, da diese zunächst aus Frankfurt hätten positioniert werden müssen.

13. Durch Schreiben der … wurde die Beklagte zur Leistung von Ausgleichszahlungen aufgefordert, ohne dass dort Zahlungen geleistet wurden.

14. Die Klägerin ist der Auffassung, dass sich die Beklagte vorliegend nicht entlasten könne. Da die VO hinsichtlich des hier in Rede stehenden Ausgleichsanspruchs kein Verschulden fordere, vielmehr eine Haftung nach „Risikosphären“ postuliere, müsse sich die Beklagte Schwierigkeiten zurechnen lassen, die daraus resultierten, dass ein grundsätzlich durch die Beklagte zugelassenes Verhalten wie der Transport von Tieren nicht sachgerecht durchgeführt worden sei. Vielmehr hätte die Katzeninhaberin nebst dem Tier noch vor dem Start aus der Maschine entfernt werden müssen. Die Unterbringung des Tiers ohne seine Besitzerin in einem versperrten Waschraum grenze zudem an Tierquälerei, die hierdurch hervorgerufene Aufregung bei … sei daher zumindest im Ansatz nicht ganz unverständlich.

15. Die Klägerin beantragt die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 600,00 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

16. Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.

17. Die Beklagte behauptet, im Rahmen ihrer Ausbrüche habe … zudem mehrfach damit gedroht, die Maschine zum Absturz zu bringen.

18. Das Gericht hat durch formlose Beweisanordnung vom 09. 11. 2016 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen … und … . Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 21. 12. 2016 (Bl. 68-​71 d. A.) Bezug genommen.

19. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Rechtsstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

20. Die zulässige Klage ist in der Sache unbegründet.

21. Der Klägerin steht der geltend gemachte Ausgleichsanspruch nicht zu.

22. Zwar können grundsätzlich Passagiere Ausgleichsleistungen nach der VO auch dann beanspruchen, wenn ihr Flug zwar nicht annulliert, aber mit einer großen Verspätung dargestellt wird. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009  sind die Art. 5, 6 und 7 VO dahingehend auszulegen, dass die Passagiere verspäteter Flüge hinsichtlich der Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Passagieren annullierter Flüge gleichzustellen sind, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von 3 h oder mehr erleiden, ihr Ziel also nicht früher als 3 h nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (EuGH, Entscheidung vom 19. 11. 2009, Az. C-​402/07 und C-​432/07; vgl. auch BGH, Entscheidung vom 18. 02. 2010, Az. Xa ZR 95/06). Dies ist vorliegend der Fall, da die Klägerin ihr Ziel unstreitig wesentlich später als 3 h nach der geplanten Ankunftszeit erreicht hat.

23. Der Ausgleichsanspruch ist vorliegend jedoch entsprechend Art. 5 Abs. 3 VO ausgeschlossen, da die Verspätung auf außergewöhnlichen Umständen im Sinne dieser Vorschrift beruht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs soll ein Ausgleichsanspruch in entsprechender Anwendung des Art. 5 Abs. 3 VO entfallen, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Die insofern maßgeblichen Umstände müssen ungewöhnlich sein, außerhalb des Rahmens der normalen Betriebstätigkeit des Luftverkehrsunternehmens liegen und dürfen nicht von ihm zu beherrschen sein.

24. Grund für die streitgegenständliche Verspätung war die aufgrund des  Verhaltens der mitreisenden Passagierin … erforderlich gewordene Zwischenlandung in Denver, wo zunächst die Maschine auf Schäden untersucht werden musste, was schließlich dazu führte, dass der Flug nicht mehr innerhalb der zulässigen Dienstzeit der Crew durchgeführt werden konnte. … war aus der Maschine zu entfernen, nachdem diese über einen längeren Zeitraum die Kabinen- Crew beschimpft und bedroht hatte, zudem handgreiflich geworden war und geäußert hatte, sie werde das Flugzeug zum Absturz bringen, sie habe eine Bombe bei sich und schließlich versucht hatte, ins Cockpit zu einzudringen.

25. Dies steht fest aufgrund der überzeugenden Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vom 21. 12. 2016 vernommenen Zeuginnen … und …. Diese haben unabhängig voneinander spontan und übereinstimmend ausgesagt, dass Frau … im Zuge ihrer ausgesprochenen Bedrohungen äußerte, sie „habe eine Bombe und werde den Flieger hochgehen lassen“, was bei vielen Passagieren sichtbare Todesangst ausgelöst habe. Auch habe sie versucht, verbotenerweise in das Cockpit einzudringen. Dass der Kapitän nicht die hierfür eigentlich maßgebliche Bedrohungsstufe 4 ausgerufen habe, sei alleine dem Umstand geschuldet gewesen, den  dann grundsätzlichen zulässigen Einsatz von Schusswaffen zu vermeiden. Die restlichen Verhaltensweisen von … waren unstreitig geblieben.

26. Den Angaben der Zeuginnen war zu folgen, da diese nachvollziehbar, sehr lebendig und detailreiche waren, ohne einstudiert zu wirken. Vielmehr war nachvollziehbar angesichts des geschilderten Geschehens, dass die Zeuginnen aufgrund der Besonderheit der Vorkommnisse hieran sehr wache Erinnerungen zu haben schienen.

27. An der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen zu zweifeln, sieht das Gericht insbesondere angesichts deren persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung keine Veranlassung. Der Umstand allein, dass diese bei der Beklagten beschäftigt sind, reicht hierfür nicht aus. Dies gilt umso mehr angesichts des ausgewogenen Aussageverhaltens, das die Zeuginnen an den Tag legten.

28. Das eigenverantwortliche Handeln eines Dritten, hier eines randalierenden Passagiers, das die Zwischenlandung und somit die Untersuchung bzw. Überschreitung zur Dienstzeit zur Folge hatte, stellt anerkanntermaßen einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO dar. Dies folgt bereits aus Erwägungsgrund 14, wo Sicherheitsrisiken namentlich als entlastende außergewöhnliche Umstände im Sinne der Verordnung genannt sind. Dass durch das Verhalten von … ein Sicherheitsrisiko für Besatzung und Passagiere des betreffenden Fluges begründet wurde, kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

29. Auch vermag das Gericht keine Konstellation zu erkennen, in der das Verhalten der Passagierin nicht eigenverantwortlich gewesen ist. Dies könnte allenfalls zu bejahen sein, wenn die Mitarbeiter der Beklagten ihrerseits das Verhalten absichtlich oder zumindest fahrlässig  provoziert hätten, so beispielsweise durch eine tierquälerisches Behandlung der zu transportierenden Katze. Hiervon kann indes keine Rede sein. So entspricht es ständiger Praxis diverser Luftfahrtunternehmen, dass Tiere ausschließlich im Frachtraum in einer Transportbox transportiert werden- selbst auf Langstreckenflügen. Die Bewegungen und Geräusche der Maschine dürften dort weitaus stärker wahrzunehmen sein, als in der insoweit besser isolierten Kabine. Auch sieht sich ein Tier dort weitaus unwirtlicheren Temperaturen ausgesetzt.

30. Zudem ist es den Tierinhabern auch dort untersagt, ihre Tiere aufzusuchen. Inwieweit die Entscheidung der Crew- zudem in Abstimmung mit der Inhaberin- die Katze in einem Waschraum unterzubringen, der weitaus größer ist als eine Transportbox, der nach der Aussage der vernommenen Zeuginnen keinerlei Mängel aufwies bis auf den Umstand, dass die automatische Sprenkleranlage nicht funktionierte und deshalb für Passagiere gesperrt war und wo dem Tier eine eigene Katzentoilette zur Verfügung gestellt wurde, zudem Wasser und Futter, einen tierquälerischen Akt darstellen soll, der … verständlicherweise in Aufregung versetzt habe, kann hier nicht nachvollzogen werden. Das gilt umso mehr, als dass die Passagierin nach der überzeugenden Aussage der Zeugin … die Katze im Innern ihrer Handtasche transportieren wollte- wo sie zugegebenermaßen in ihrer Nähe gewesen wäre. Aber ein hohes Maß an Gespür für tiergerechte Haltung spricht hieraus tatsächlich nicht.

31. Zudem wird die Art des Transports diesseits nicht als kausaler Auslöser für die völlig unangebrachte, über einen längeren Zeitraum dauernde Steigerung der Aggressivität der Passagierin angesehen. Die teilweise unstreitigen, teilweise nachgewiesenen soziopathischen wenn nicht gar psychopathologischen Verhaltensweisen sind mit dem Umstand, dass das Tier nicht an ihrer Seite befördert wurde, nicht zu erklären. Hierbei ist zu beachten, dass das Verhalten von … nach Angaben der Zeugin … derartige Ausmaße erreichte, dass an Bord befindliche Ärzte äußerten, man würde die Passagierin nun gerne sedieren.

32. Auch ist im vorliegenden Fall keine andere Bewertung des Passagierverhaltens als außergewöhnlicher Umstand vor dem Hintergrund spezieller Risikosphären geboten.  Allein der Umstand, dass die Beklagte grundsätzlich den Transport von Tieren zulässt, vermag zunächst keine besondere Sphäre zu begründen; jedenfalls keine, die vorliegend zum Tragen gekommen wäre. Vielmehr war der Transport der Passagierin nach Auffassung des erkennenden Gerichts selbst der risikobegründende Faktor. Dass der Transport von Passagieren zur betrieblichen Sphäre eines Unternehmens der kommerziellen Luftfahrt zählt, liegt auf der Hand. Sämtliche hieraus erwachsenden Schwierigkeiten somit aber dem Luftfahrtunternehmen zuzurechnen, weil es sich vertragstypisch mit Fluggästen zu beschäftigen hat, hieße, die Haftung entgegen dem Willen des Verordnungsgebers uferlos auszudehnen.

33. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 VO ist hinsichtlich der Qualifizierung eines Umstandes als „außergewöhnlich“ im Sinne der VO maßgeblich, ob dieser (unter Anwendung sämtlicher zumutbarer Maßnahmen) vermeidbar bzw. unvermeidbar gewesen wäre. Eine rein am Maßstab der Betriebs- und Risikosphären ausgerichtete Qualifizierung losgelöst von der Frage tatsächlicher Beherrschbarkeit geht nach hiesigem Verständnis am erklärten Willen des Verordnungsgebers vorbei. Denn dann wäre es in der Tat nicht mehr fernliegend, auch Wetterbedingungen oder den Betrieb beeinträchtigende Streiks haftungsbegründend  der Risikosphäre eines Luftfahrtunternehmens zuzuordnen, allein weil sich dieses typischerweise bei der Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen Wetterbedingungen ausgesetzt sieht beziehungsweise Mitarbeiter beschäftigt oder von unternehmensfremden Arbeitnehmern wie Fluglotsen oder dem Bodenpersonal der Flughäfen abhängig ist, die sämtlich befugt sind zu streiken. Dies würde jedoch- wie bereits ausgeführt- dem Willen des Verordnungsgebers zuwiderlaufen, der in Erwägungsgrund 14 neben den Sicherheitsrisiken und politischer Instabilität „mit der Durchführung des Betreffenden Fluges nicht zu vereinbarende Wetterbedingungen“ sowie „den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigende Streiks“ ausdrücklich als außergewöhnliche Umstände benennt.

34. Offenbleiben konnte vorliegend die Rechtsfrage, ob die Beklagte zusätzlich noch sämtliche, ihr wirtschaftlich und organisatorisch zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der Folgen des außergewöhnlichen Umstandes, also der Verspätung, hätte ergreifen müssen.

35. Gegen eine solche Auslegung des Art. 5 Abs. 3 VO spricht nach Auffassung des erkennenden Gerichts der eindeutige Wortlaut der genannten Vorschrift, demzufolge nur solche Maßnahmen zu ergreifen sind, die der Vermeidung der außergewöhnlichen Umstände, nicht aber deren Folgen dienen. Dies folgt auch aus der englischen Sprachfassung, wo sich die zumutbaren Maßnahmen grammatikalisch eindeutig auf die außergewöhnlichen Umstände beziehen („[…] if it can prove that the cancellation is caused by extraordinary circumstances which could not have been avoided even if all reasonable measures had been taken“). Deutlich wird dieses Verständnis auch in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. 11. 2009 (Az. C-​402/07), wo ausgeführt wird, das Luftfahrtunternehmen könne sich von der Ausgleichszahlung „entpflichten“, wenn es nachweisen könne, dass die Annullierung oder Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückginge, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen nicht zu beherrschen sind“ (EuGH a. a. O., Rdn. 67).

36. Eine andere Wertung folgt auch nicht aus Erwägungsgrund 15. Zwar ist nach dem dortigen Wortlaut Bezugspunkt für die zumutbaren Maßnahmen die Verspätung beziehungsweise Annullierung eines Fluges („[…] obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätung oder Annullierung zu verhindern“). Diese Wertung steht jedoch im Widerspruch sowohl zu dem ausdrücklichen Verordnungstext, als auch zu der des systematisch direkt vorausgehenden Erwägungsgrunds 14, der ebenfalls die Exkulpationsmöglichkeit im Falle außergewöhnlicher Umstände zum Inhalt hat. Hier heißt es, dass die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen in Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein soll, „in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären“, die Bezugspunkte der Maßnahmen also wiederum die außergewöhnlichen Umstände sein sollen. Angesichts des durch Erwägungsgrund 14 gestützten eindeutigen Wortlauts der Verordnung ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts eine diesem entsprechende Auslegung vorzunehmen.

37. Wie bereits erwähnt konnte die Beantwortung dieser Rechtsfrage aber vorliegend dahinstehen, da nach Auffassung des erkennenden Gerichts die Beklagte unbestritten dargetan hat, auch sämtliche ihr zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der eingetretenen Verspätung ergriffen zu haben. In seiner Auffassung gestützt sieht sich das Gericht durch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dieser hat ausdrücklich ausgeführt, dass ein Luftfahrtunternehmen lediglich verpflichtet ist, die Maßnahmen zu ergreifen, die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls als in persönlicher, technischer und wirtschaftlicher Hinsicht zumutbar anzusehen sind (vgl. BGH a. a. O., Rdn. 22). Aufgrund der Vielzahl denkbarer außergewöhnlicher Umstände sowie der Unübersehbarkeit des Ausmaßes sowie der Dauer der hierdurch verursachten Beeinträchtigungen sei es ausgeschlossen, von den Luftfahrtunternehmen zu verlangen, für jede denkbare Störung des Luftverkehrs in einer Weise gerüstet zu sein, die es erlaubt, durch den Einsatz zusätzlicher Flugzeuge und ggf. auch zusätzlichen Personals dafür zu sorgen, dass Annullierungen oder große Verspätungen vermieden werden (BGH a. a. O., Rdn. 20). Vom Einzelfall losgelöste Maßnahmen wie der Vorhalt von Ersatzfluggeräten als Reserve für den Störfall sind- in jedem Fall für einen Flughafen in Übersee- nicht zumutbar. Dass die Beklagte in Denver also keine Maschine vorrätig hielt, konnte ihr nicht zum Nachteil gereichen.

38. Zudem hat die Beklagte unbestritten vorgetragen, dass sie die Verspätung auch durch den Einsatz einer Ersatzmaschine und -crew nicht auf unter 3 h hätte reduzieren können- was zudem allgemeinen Denkgrundsätzen entspricht, nachdem unstreitig geblieben ist, dass diese zunächst von der Home- Base der Beklagten in Frankfurt nach Denver hätten positioniert werden müssen.

39. Weitere zumutbare, die Verspätung maßgeblich reduzierende Maßnahmen sind nicht ersichtlich.

40. Nach alldem war die Klage abzuweisen.

41. Da die Hauptforderung nicht besteht, sind auch die Nebenforderungen nicht begründet.

42. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

43. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

44. Die Berufung war nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, da keine der Parteien mit mehr als 600,00 EUR beschwert ist und angesichts der unterschiedlichen Beurteilung der Spannweite der „betrieblichen Sphäre“ durch die Instanz- und Obergerichte die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert.

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