Vorabentscheidung zum einheitlichen Erfüllungsort eines Beförderungsvertrags innerhalb der EG
BGH: Vorabentscheidung zum einheitlichen Erfüllungsort eines Beförderungsvertrags innerhalb der EG
Ein Fluggast aus München verfolgte Ansprüche gegen eine lettische Airline wegen einer Flugannullierung. Der BGH rief den EuGH an, um den Erfüllungsort zu bestimmen und über die Zuständigkeit deutscher Gerichte zu entscheiden.
BGH | X ZR 76/07 (Aktenzeichen) |
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BGH: | BGH, Urt. vom 22.04.2008 |
Rechtsweg: | BGH, Urt. v. 22.04.2008, Az: X ZR 76/07 |
OLG München, Urt. v. 16.05.2007, Az: 20 U 1641/07 | |
AG Erding, Urt. v. 21.12.2006, Az: 1 C 284/06 | |
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Leitsatz:
2. Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen vorgelegt:
Ist auch bei Flugreisen von einem Mitgliedstaat in einen anderen ein einheitlicher Erfüllungsort für sämtliche Vertragspflichten an dem nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmenden Ort der Hauptleistung anzunehmen?
Bei Bejahung der ersten Frage: Welche Kriterien sind für seine Bestimmung maßgeblich; der Ort des Abflugs oder der Ort der Ankunft?
Zusammenfassung:
3. Der Kläger aus München forderte eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung, weil sein Flug nach Vilnius annulliert worden war und er sein Reiseziel nach einer Ersatzbeförderung um 6 Stunden verspätet erreichte. Hierfür verklagte er die lettische Fluggesellschaft vor dem Amtsgericht Erding.
Dieses sah sich als örtlich zuständig und gab er Klage statt. Auf die Berufung der Beklagten hin entschied das Oberlandesgericht München, dass deutsche Gerichte in dem Streitfall nicht zuständig seien und wies die Klage ab. Daraufhin kam es zur Revision vor dem Bundesgerichtsh0f.
Dieser erwog, dass das Amtsgericht örtlich zuständig gewesen sein kann, wenn dort ein Erfüllungsort des Beförderungsvertrages lag, aus welchem die streitgegenständlichen Ausgleichsansprüche abgeleitet wurden. Da hierfür der Ort mit der engsten Verknüpfung zur Vertragsleistung, also der des Leistungsschwerpunktes zu wählen ist, galt es abzuwägen, worin eine solche Hauptlieferung bzw. Leistungsschwerpunkt bei einem Luftbeförderungsvertrag liegt, inbesondere da vorliegend drei EU-Mitgliedsstaaten vom Erfüllungsbereich erfasst waren; München als Abflugs-, Vilnius in Litauen als Ankunftsort und Lettland als Sitz des Beförderungsunternehmens. Das konnte der Bundesgerichtshof hier nicht selbst abschließend entscheiden und rief daher den Europäischen Gerichtshof mit den Fragen an:
Ist bei Flugreisen von einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft in einen anderen Mitgliedstaat ein einheitlicher Erfüllungsort für sämtliche Vertragspflichten an dem nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmenden Ort der Hauptleistung anzunehmen?
Bei Bejahung der ersten Frage: Nach welchen Kriterien ist der Erfüllungsort zu bestimmen?
Tenor:
4. Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 234 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen dahin auszulegen, dass auch bei Flugreisen von einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft in einen anderen Mitgliedstaat ein einheitlicher Erfüllungsort für sämtliche Vertragspflichten an dem nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmenden Ort der Hauptleistung anzunehmen ist?
Wenn ein einheitlicher Erfüllungsort zu bestimmen ist: Welche Kriterien sind für seine Bestimmung maßgeblich; wird der einheitliche Erfüllungsort insbesondere durch den Ort des Abflugs oder den Ort der Ankunft bestimmt?
Gründe:
I.
5. Der Kläger, der seinen Wohnsitz in München hat, buchte bei der Beklagten, deren Geschäftssitz sich in Riga befindet, einen Flug von München nach Vilnius. Etwa 30 Minuten vor dem geplanten Start in München wurden die Fluggäste über die Annullierung des Fluges unterrichtet. Der Kläger flog – nach entsprechender Umbuchung durch die Beklagte – über Kopenhagen nach Vilnius, wo er mehr als sechs Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit eintraf.
6. Der Kläger hat eine Entschädigung in Höhe von 250,-- € nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen begehrt.
7. Das Amtsgericht hat die Entschädigung antragsgemäß zugesprochen. Es hat sich für international zuständig erachtet und den Einwand der Beklagten als unbegründet angesehen, die Annullierung sei auf außergewöhnliche Umstände zurückgegangen, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
8. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Es hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte verneint (OLG München RRa 2007, 182 = NJW-RR 2007, 1428).
9. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er den Entschädigungsanspruch weiterverfolgt.
II.
10. Die Entscheidung über die Revision des Klägers hängt davon ab, ob das vom Kläger angerufene Amtsgericht Erding seine internationale Zuständigkeit zur Entscheidung des Rechtsstreits zu Recht bejaht hat. Ob dies der Fall ist, hängt wiederum von der Auslegung des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ab.
11. Da die Beklagte ihren Geschäftssitz in Lettland hat, sind die deutschen Gerichte international nur dann zuständig, wenn in Erding der oder ein Erfüllungsort für die verlangte Ausgleichszahlung begründet ist.
1.
12. Nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht desjenigen Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, verklagt werden, wenn Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden. Nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung ist für die Erbringung von Dienstleistungen Erfüllungsort der Verpflichtung derjenige Ort in einem Mitgliedstaat, an dem die Dienstleistungen nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.
13. Für den Gerichtsstand des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 1. Spiegelstrich der Verordnung hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits entschieden, dass mit dieser Regel der Lieferort als verordnungsautonomes Anknüpfungskriterium festgelegt wird, das auf sämtliche Klagen aus ein und demselben Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen und nicht nur auf diejenige aus der Lieferverpflichtung an sich anwendbar ist (Urt. v. 3.5.2007 – C-386/05, Slg. 2007, I-3699 Tz. 26 – Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH). Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Regel auch im Fall mehrerer Lieferorte in einem Mitgliedstaat anwendbar ist und dass bei mehreren Lieferorten unter dem Erfüllungsort im Sinne des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 1. Spiegelstrich grundsätzlich derjenige Ort zu verstehen ist, an dem die engste Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zuständigen Gericht besteht (aaO Tz. 40). Die engste Verknüpfung ist im Allgemeinen am Ort der Hauptlieferung gegeben, die nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmen ist.
14. Kann der Ort der Hauptlieferung nicht festgestellt werden, weist jeder der Lieferorte eine hinreichende Nähe zum Sachverhalt des Rechtsstreits und damit eine für die gerichtliche Zuständigkeit maßgebliche Verknüpfung auf. In einem solchen Fall kann der Kläger den Beklagten auf der Grundlage von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 1. Spiegelstrich der Verordnung Nr. 44/2001 vor dem Gericht des Lieferorts seiner Wahl verklagen (EuGH aaO Tz. 42).
15. Der Gerichtshof hat jedoch noch nicht entschieden, ob Art. 5 Nr. 1 Buchst. b 2. Spiegelstrich der Verordnung in gleicher Weise auszulegen ist. Er hat ferner ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich seine Erwägungen auf den Fall mehrerer Lieferorte in einem einzigen Mitgliedstaat beschränkten und einer Entscheidung im Fall mehrerer Lieferorte in verschiedenen Mitgliedstaaten nicht vorgreifen sollten (EuGH aaO Tz. 16). Zum Wahlrecht der Klägers hat er bemerkt, dieses Ergebnis werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Beklagte nicht genau vorhersehen könne, vor welchem Gericht dieses Mitgliedstaats er verklagt werden könne, weil er insoweit hinreichend geschützt sei, als er bei mehreren Erfüllungsorten in einem Mitgliedstaat nach der fraglichen Bestimmung nur vor die Gerichte dieses Mitgliedstaats geladen werden könne, in deren Sprengel er Waren geliefert habe (Tz. 44).
2.
16. Nach dem Zweck der Verordnung Nr. 44/2001, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen durch Zuständigkeitsvorschriften zu vereinheitlichen, die in hohem Maße vorhersehbar sind, und unter Berücksichtigung des Ziels, bei einer Mehrzahl von Erfüllungsorten nach Möglichkeit bei dem sachnächsten Gericht eine einheitliche gerichtliche Zuständigkeit für alle Klagen zu begründen (so bereits zu Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ EuGH, Urt. v. 19.2.2002 – C-256/00, Slg. 2002, I-1699 Tz. 32 – Besix SA/WABAG, m.w.N.), erscheint es geboten, auch die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten über Vertragspflichten aus einem Beförderungsvertrag grundsätzlich an einem Erfüllungsort zu konzentrieren.
17. Dies stößt jedoch u.a. bei Flugreisen auf die Schwierigkeit, dass sich nach wirtschaftlichen Kriterien ein Schwerpunkt der Erbringung der Dienstleistungen nicht eindeutig bestimmen lässt.
18. Das Oberlandesgericht München hat für den Streitfall angenommen, der Schwerpunkt der Dienstleistungen habe in Riga gelegen. Dort seien der Verkauf des Fluges und die Buchung eines Platzes für den Kläger erfolgt. Von dort wären sämtliche weiteren Erfüllungshandlungen zu bewirken gewesen, insbesondere hätten dort die pünktliche Bereitstellung eines den Sicherheitsbestimmungen genügenden Flugzeugs in München und der Einsatz der Crew in München durch die Beklagte bewirkt werden müssen. Von dort wären auch die anschließende Beförderung von München nach Vilnius und die gesamte weitere Organisation des Ablaufs für die Beförderung veranlasst worden.
19. Dies erscheint nicht zutreffend, wie gerade der Streitfall verdeutlicht, bei dem die Fluggesellschaft in einem dritten Mitgliedstaat C (hier in Lettland) geschäftsansässig ist, in dem weder der Abflugort A (hier in Deutschland) noch der Ankunftsort B (hier in Litauen) liegt. Die Handlungen, auf die das Oberlandesgericht abgestellt hat, betreffen sämtlich nicht die Vertragsleistungen selbst, sondern deren Vereinbarung, Vorbereitung und Steuerung. Sie können an jedem beliebigen Ort erbracht werden, der nicht der Sitz der Fluggesellschaft sein muss. Die Fluggesellschaft kann vielmehr ihr operationelles Geschäft von jedem beliebigen Ort aus steuern. Insbesondere könnte auch die Fluggesellschaft nach Vertragschluss ihren Sitz vom Mitgliedstaat C in den Mitgliedstaat D verlegen und sodann die Vertragsleistungen von ihrem neuen Sitz aus in die Wege leiten, ohne dass sich an dem Ort bzw. an den Orten, an denen die Vertragsleistungen selbst zu erbringen sind, irgendetwas ändern würde.
20. Die vertraglichen Leistungen der Fluggesellschaft bestehen vielmehr im Wesentlichen darin, dass der Flug von A nach B planmäßig durchgeführt wird, dass der Fluggast in A an Bord genommen wird und von A nach B befördert wird, dass der Fluggast während des Fluges betreut und dass für seine Sicherheit gesorgt wird und dass der Fluggast schließlich in B wohlbehalten von Bord gehen kann. Bei wirtschaftlicher Betrachtung wird sich danach nicht sagen lassen, der Schwerpunkt der Vertragsleistungen liege in B. Zwar liegt in B das Ziel der Reise und vollendet sich dort demgemäß die Abfolge der vertraglichen Leistungshandlungen (vgl. Lehmann, NJW 2007, 1500, 1502). Jedoch ist der Startpunkt der Reise nicht von geringerer Bedeutung, denn dem Reisenden kommt es typischerweise nicht nur darauf an, nach B zu gelangen, sondern gleichermaßen darauf, gerade von A nach B zu reisen, weil er in A wohnt oder sich zum vorgesehenen Reisetermin dort aufhält.
21. Eher ließe sich nach Auffassung des Senats ein wirtschaftlicher Schwerpunkt in A bejahen, weil dort mit der Bereitstellung des Flugzeugs und einer einsatzfähigen Besatzung, der planmäßigen Fluggastaufnahme und dem planmäßigen Start die Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dass die eigentliche Beförderungsleistung von A nach B überhaupt erbracht werden kann. Demgemäß ist es auch wahrscheinlicher, dass Leistungsstörungen in A und nicht in B auftreten. Dazu gehören insbesondere die Fälle verspäteter und annullierter Flüge. Unter dem Gesichtspunkt der Sachnähe des zuständigen Gerichts spricht daher mehr für einen Leistungsort A als für einen Leistungsort B (vgl. A. Staudinger, RRa 2007, 155, 158).
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