Faktische Annullierung eines Fluges

AG Rüsselsheim: Faktische Annullierung eines Fluges

Drei Fluggäste verlangen von ihrer Airline eine Ausgleichszahlung wegen faktischer Annullierung ihres Fluges. Der Flieger hatte wegen eines technischen Defekts die Route geändert und auf einem Alternativflughafen gelandet. Dies hatte eine erhebliche Flugverspätung zur Folge.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat den Klägern Recht zugesprochen. Das Anfliegen eines anderen, als des geplanten Flughafens, stelle faktisch eine Annullierung des Fluges dar, die zu einer Ausgleichszahlung berechtige.

AG Rüsselsheim 3 C 3319/12 (36) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 17.04.2013
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 17.04.2013, Az: 3 C 3319/12 (36)
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Hessen-Gerichtsurteile

Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 17.04.2013

Aktenzeichen: 3 C 3319/12 (36)

Leitsatz:

2. Landet ein Flugzeug auf einem Ausweichflughafen statt am vorgesehenem Flughafen, liegt eine Annullierung vor.

Zusammenfassung:

3. Die Kläger begehren eine Ausgleichszahlung von dem sie befördernden Luftfahrtunternehmen. Wegen eines technischen Defekts, hatte der Pilot eine Routenänderung vornehmen müssen und war zwangsweise auf einem Ausweichflughafen gelandet.
Die Kläger sehen hierin eine faktische Annullierung des gebuchten Fluges und fordern eine Entschädigungsleistung.
Die Airline hält dem das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstand entgegen und sieht sich in ihrer Haftung befreit.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat den Klägern Recht zugesprochen. Die Ausgleichszahlung, nach Art. 7 Fluggastrechte-VO, stehe Fluggästen zu, die ihr Flugziel mit einer Verspätung von mehr als 3 Stunden erreichen. In dem Abweichen von der gebuchten Route und dem unplanmäßigen Zwischenhalt, sei eine faktische Annullierung des Fluges zu sehen.
Die Verspätungsdauer richte sich nach der Differenz zwischen der geplanten und der tatsächlichen Ankunft am Zielflughafen. Da die Verzögerung im vorliegenden Fall deutlich mehr als 3 Stunden betrug, seien die Passagiere zu entschädigen.

Auf einen außergewöhnlichen Umstand könne sich die Airline dabei nicht berufen, da ein technischer Defekt kein unvorhersehbarer Zwischenfall sei, der sich außerhalb des Machtbereichts des Luftfahrtunternehmens befinde.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR, an den Kläger zu 2) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR und an den Kläger zu 3) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR jeweils zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.09.2011 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten über Ausgleichsansprüche nach der EG- Verordnung 261/2004 (nachfolgend VO) infolge von Flugverspätungen sowie über die Zahlung diesbezüglicher vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren.

6. Die Kläger buchten für den 18.08.2012, 15: 40 Uhr einen Flug von Frankfurt nach Varadero (Flug DE …), den die Beklagte darstellen sollte. Obwohl sich die Kläger rechtzeitig am Abflughafen eingefunden hatten, traf die Maschine am Zielflughafen erst mit einer Verspätung von über 15 h ein. Die Flugentfernung betrug mehr als 3.500 km.

7. Mit vorgerichtlichem Schreiben haben die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten die Beklagte zur Zahlung von Ausgleichsansprüchen unter Fristsetzung zum 27.09.2012 aufgefordert. Eine Zahlung seitens der Beklagten erfolgte nicht.

8. Die Kläger behaupten, ihnen sei aus der vorgerichtlichen Rechtsverfolgung ein Schaden durch Verbindlichkeiten gegenüber ihrem Prozessvertreter in Form ordnungsgemäß abgerechneter Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 261,20 EUR entstanden.

9. Die Klägerseite behauptet, dass der Kläger zu 1) hinsichtlich des Klägers zu 2) alleinvertretungsbefugt sei. Der Kläger zu 3) werde durch … sowie … vertreten. Der Letztgenannte habe sein Einverständnis mit der alleinigen gerichtlichen Vertretung durch … erklärt.

10. Die Kläger beantragen:

11. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR, an den Kläger zu 2) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR und an den Kläger zu 3) einen Betrag in Höhe von 600,00 EUR jeweils zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.09.2011 zu zahlen.

12. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) außergerichtliche Nebenkosten in Höhe von 261,20 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

13. Die Beklagte beantragt:

14. Die Klage wird abgewiesen.

15. Die Beklagte bestreitet die Alleinvertretungsbefugnis des Klägers zu 1) bezüglich des Klägers zu 2) sowie die der … für den Kläger zu 3).

16. Sie rügt ferner, dass keine bestätigte Buchung vorgelegt worden sei. Sie erklärt weiter die Anrechnung gemäß Art. 12 VO bezüglich der geltend gemachten Rechtsanwaltsgebühren sowie sonstiger Schadenersatz- oder Minderungsansprüche. Hinsichtlich der Rechtsanwaltsgebühren bestreitet sie die Entstehung eines Schadens, die ordnungsgemäße Rechnungsstellung sowie die Bezahlung aus eigenen Mitteln der Kläger. Sie ist überdies der Auffassung, dass sich die Beklagte im Zeitpunkt der Mandatierung noch nicht im Schuldnerverzug befunden habe und die geltend gemachte Gebühr von 1,5 übersetzt sei.

17. Schließlich beruft sie sich auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO. Grund für die Verspätung des streitgegenständlichen Fluges am 18.08.2012 sei gewesen, dass vor dem Flug eines Vorumlaufs am 16.08.2012 von Frankfurt nach Varadero (DE …/DE …) ein Defekt am Kurzwellen- Funkgerät aufgetreten sei. Daher habe der Flug stets im Bereich des Ultrakurzwellenfunks durchgeführt werden müssen, was zu einer verlängerten Flugzeit von 60-90 min geführt habe. Aufgrund der verlängerten Flugstrecke war sodann eine unplanmäßige Zwischenlandung in Halifax zum Nachtanken erforderlich geworden. Aufgrund der verspäteten Ankunft der Vorflüge sowie der verlängerten Flugstrecke habe der sich anschließende Vorumlaufflug DE … eine Ankunftsverspätung von 4 h 26 min. gehabt. Der folgende Flug DE … habe zudem aus Dienstzeitgründen in Manchester unplanmäßig zwischen landen müssen, da eine neue Crew habe aufgenommen werden müssen.

18. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Schriftwechsel der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

19. Die Klage ist zunächst zulässig. An der Alleinvertretungsbefugnis des Klägers zu 1) hinsichtlich des Klägers zu 2) bestehen angesichts der klägerseits vorgelegten Übersetzung des Urteils über die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge des Klägers zu 2) an den Kläger zu 1) vom 08.04.2010 keine Bedenken. Die Beklagtenseite hat von dem Urteil Kenntnis erlangt und ebenfalls keine weiteren Wirksamkeitsbedenken vorgetragen.

20. Auch die Vertretung des Klägers zu 3) durch … begegnet keinen Bedenken. Die klägerseits vorgelegte Einverständniserklärung des- dies ist unbestritten geblieben ebenfalls sorgeberechtigten Vaters des Klägers zu 3) ist für die Annahme einer Gesamtvertretung eines minderjährigen Kindes gemäß § 1629 Abs. 1 BGB ausreichend (vgl. hierzu Münchner Kommentar- Huber, BGB, 6. Aufl., § 1629, Rdn. 11 m. w. N.)

21. Die Klage ist hinsichtlich der Hauptforderung vollumfänglich, hinsichtlich der Nebenforderungen teilweise begründet.

22. 1) Die Kläger können die geltend gemachten Ausgleichszahlungen verlangen. Nach Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009 sowie vom 26.02.2013 sind die Art. 5, 6 und 7 VO dahingehend auszulegen, dass die Passagiere verspäteter Flüge hinsichtlich der Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Passagieren annullierter Flüge gleichzustellen sind, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von 3 h oder mehr erleiden, ihr Ziel also nicht früher als 3 h nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (EuGH, Entscheidung vom 19.11.2009, Az. C-402/07 und C-432/07 sowie vom 26.02.2013, Az. C-11/11; vgl. auch BGH, Entscheidung vom 18.02.2010, Az. Xa ZR 95/06).

2) Die Kläger können vorliegend die Ausgleichszahlungen beanspruchen, da sie ihr Ziel später als 3 h nach der geplanten Ankunftszeit erreicht haben.

23. Die Beklagte kann sich auch nicht erfolgreich darauf berufen, dass die Klägerseite keine bestätigte Buchung vorgelegt habe. Ihr diesbezügliches Bestreiten mit Nichtwissen ist unzulässig, da eine bestätigte Buchung durch die Beklagte Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung oder der ihrer Mitarbeiter gewesen ist und die Beklagte hiervon Kenntnis haben muss (vgl. Zöller, ZPO, 28 Aufl., § 138, Rn. 14). Es hätte der Beklagten oblegen, qualifiziert zu bestreiten, dass die Klägerseite einen Flug bei der Beklagten gebucht hatte und sie deshalb nicht im Besitz einer bestätigten Buchung ist; dies ist jedoch nicht geschehen. Soweit sich die Beklagte darauf beruft, die entsprechenden Unterlagen insbesondere die Passagierlisten- vernichtet zu haben, muss dies zu ihren Lasten gehen, da nicht ersichtlich ist, inwiefern sie zur Vernichtung verpflichtet wäre (so auch Landgericht Darmstadt, Urteil vom 24.04.2012, Az. 13 O 36/12).

24. 1) Der Ausgleichsanspruch ist nicht entsprechend Art. 5 Abs. 3 VO ausgeschlossen; die Verspätung geht nicht auf außergewöhnliche Umstände im Sinne dieser Vorschrift zurück.

2) Zwar soll nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs ein Ausgleichsanspruch in entsprechender Anwendung des Art. 5 Abs. 3 VO entfallen, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären; solche außergewöhnlichen Umstände sind vorliegend allerdings nicht gegeben.

3) Maßgeblich hier ist, ob das zu Grunde liegende Geschehen ein typisches und in Ausübung der betrieblichen Tätigkeit vorkommendes Ereignis darstellt oder ob es der Beherrschbarkeit der Fluggesellschaft völlig entzogen ist (so im Ergebnis auch die st. Rspr. des Landgerichts Darmstadt).

25. Zunächst stellt der von der Beklagten behauptete Defekt in Form eines Defekts am Kurzwellenfunkgerät keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO dar, sodass das diesbezügliche Vorbringen der Beklagten unerheblich bleibt. Bei diesem Fehler handelt es sich ersichtlich um einen technischen Defekt. Technische Defekte sind indes nicht schlechterdings als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren, die das Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung wegen Verspätung oder Annullierung eines Fluges befreien können (a. A. insb. OLG Köln, Urteil vom 27.5.2010, Az. 7 U 199/09). Zudem soll sich dieser Defekt zwei Tage vor dem streitgegenständlichen Flug ereignet haben, was nach Auffassung des erkennenden Gerichts die zeitlichen Grenzen, innerhalb derer ein außergewöhnlicher Umstand vor dem streitgegenständlichen Flug Berücksichtigung im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO finden kann, überdehnt.

26. Offenbleiben konnte vorliegend, ob schließlich in der Überschreitung der Dienstzeiten der Crew ein außergewöhnlicher Umstand zu sehen ist, da bereits nach dem Vortrag der Beklagten im Zeitpunkt der Überschreitung eine Ankunftsverspätung von über 4 h vorlag und sich aus nichts schließen ließe, dass diese „aufgeholt“ worden wäre.

27. Eine Anrechnung etwaiger Zahlungen eines Reiseveranstalters nach Art. 12 VO ist nicht durchzuführen. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten ist unsubstantiiert. Der Vortrag der Beklagten erfolgt ersichtlich ins Blaue hinein und ist nicht zu berücksichtigen, da überhaupt keine konkreten Anhaltspunkte für solche Zahlungen mitgeteilt werden.

28. Der Zinsanspruch ist begründet gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 Abs. 1 BGB. Die Beklagte befand sich jedenfalls ab dem 28.09.2012 im Schuldnerverzug, da sie die klägerseits gesetzte Zahlungsfrist zum 27.09.2012 hat verstreichen lassen.

29. Hinsichtlich der beanspruchten Zahlung der vorgerichtlichen Anwaltskosten ist die Klage indes unbegründet. Ein Ersatz dieser Kosten kommt allein nach Verzugsgesichtspunkten in Betracht (so auch die st. Rspr. des Landgerichts Darmstadt). Dem Klägervortrag ist nicht zu entnehmen, dass ein Schuldnerverzug der Beklagten gegeben war, als der Kläger seine Prozessvertreterin mit der außergerichtlichen Interessenwahrnehmung beauftragt hat. Weiterer klägerseitiger Vortrag hierzu in tatsächlicher Hinsicht ist trotz richterlichen Hinweises nicht erfolgt.

30. Für einen Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten jenseits der Verzugsregeln ist kein Raum. Insbesondere besteht kein materiell-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch bezüglich der Rechtsanwaltskosten, da dieser nur im Rahmen der Geltendmachung und Durchsetzung eines originären Schadenersatzanspruchs in Betracht kommt. Vorliegend wurde jedoch nicht ein Schadenersatz-, sondern ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO geltend gemacht, der einem Schadensersatzanspruch insofern nicht gleichzusetzen ist. Aus dem Wortlaut des Art. 12 VO lässt sich entnehmen, dass zwischen dem Ausgleichs- und einem Schadensersatzanspruch zu differenzieren ist.

31. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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