Annullierung und Verspätung des Zubringerfluges
EuGH: Annullierung und Verspätung des Zubringerfluges
Eine Reisende fordert Schadensersatz von der Fluggesellschaft Air France, weil sie durch die zweieinhalbstündige Verspätung eines Air France Fluges von Bremen nach Paris ihren Anschlussflug von Paris nach Sao Paolo verpasste. Sie wurde zwar von Air France auf eine andere Maschine umgebucht, erreichte ihren Zielflughafen aber erst mit einer elfstündigen Verspätung.
Der Europäische Gerichtshof entscheidet, dass für die Höhe des Schadensersatzanspruches im Sinne des Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nicht die Verspätung des Zubringerfluges, sondern die tatsächliche Verspätung am Zielflughafen ausschlaggebend ist.
EuGH | C-11/11 (Aktenzeichen) |
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EuGH: | EuGH, Urt. vom 26.02.2013 |
Rechtsweg: | EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Az: C-11/11 |
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Europäischer Gerichtshof
1. Urteil vom 26. Februar 2013
Aktenzeichen C-11/11
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Leitsätze:
2. Verspätet sich ein Zubringerflug, sodass die Fluggäste den Anschlussflug verpassen und somit den Zielflughafen mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreichen, steht diesen eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu.
Wird ein Flug annulliert und keine anderweitige Beförderung angeboten, steht den Fluggästen eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu.
Zusammenfassung:
3. In diesem Urteil beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof (kurz: EuGH) mit der Frage, welche Ansprüche Fluggästen zustehen, wenn sie den Zielflughafen mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreichen, wenn ein Zubringerflug sich verspätet. Zudem beschäftigte sich der EuGH mit der Frage welche Ansprüche Fluggästen zustehen, wenn deren Flug annulliert wird und keine anderweitige Beförderung angeboten wird.
In beiden Fragen kam der EuGH zu der Entscheidung, dass den Fluggästen ein Ausgleichsanspruch im Sinne des Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zusteht. Fluggäste erleiden durch die Verspätung oder Annullierung einen irreversiblen Zeitverlust, der entschädigt werden muss.
Tenor:
4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass auf seiner Grundlage dem Fluggast eines Fluges mit Anschlussflügen, dessen Verspätung zum Zeitpunkt des Abflugs unterhalb der in Art. 6 der Verordnung festgelegten Grenzen lag, der aber sein Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreichte, eine Ausgleichszahlung zusteht, da diese Zahlung nicht vom Vorliegen einer Verspätung beim Abflug und somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 aufgeführten Voraussetzungen abhängt.
Gründe:
5. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).
5. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Air France SA (im Folgenden: Air France) und Herrn und Frau Folkerts, von denen Letztere über eine Buchung für einen Flug von Bremen (Deutschland) über Paris (Frankreich) und São Paulo (Brasilien) nach Asunción (Paraguay) verfügte, wegen Ersatz des Schadens, der ihr infolge ihrer verspäteten Ankunft am Endziel entstanden sein soll.
7. Das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossene Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal) wurde von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und in ihrem Namen durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. L 194, S. 38) genehmigt.
8. Die Art. 17 bis 37 des Übereinkommens von Montreal bilden dessen Kapitel III („Haftung des Luftfrachtführers und Umfang des Schadensersatzes“).
9. Art. 19 („Verspätung“) dieses Übereinkommens sieht vor: „Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht. Er haftet jedoch nicht für den Verspätungsschaden, wenn er nachweist, dass er und seine Leute alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens getroffen haben oder dass es ihm oder ihnen nicht möglich war, solche Maßnahmen zu ergreifen.“
10. Nach Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens haftet der Luftfrachtführer für Verspätungsschäden bei der Beförderung von Personen nur bis zu einem Betrag von 4 150 Sonderziehungsrechten je Reisenden.
11. Die Erwägungsgründe 1 bis 4 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten: „(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
(3) Durch die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr [(ABl. L 36, S. 5)] wurde zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste ist aber immer noch zu hoch; dasselbe gilt für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen.
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.
…
(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“
12. Abs. 1 von Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet: „Durch diese Verordnung werden unter den in ihr genannten Bedingungen Mindestrechte für Fluggäste in folgenden Fällen festgelegt:
a) Nichtbeförderung gegen ihren Willen,
b) Annullierung des Flugs,
c) Verspätung des Flugs.“
13. In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
h) ‚Endziel‘ den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Fluges; verfügbare alternative Anschlussflüge bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird; …“
14. Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen
a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,
b) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,
i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder
ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder
iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.
…
(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
…“
15. Art. 6 („Verspätung“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:
„(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug
a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder
b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km um drei Stunden oder mehr oder
c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen
i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,
ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,
iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.
(2) Auf jeden Fall müssen die Unterstützungsleistungen innerhalb der vorstehend für die jeweilige Entfernungskategorie vorgesehenen Fristen angeboten werden.“
16. Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,
b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,
c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen. Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.
(2) Wird Fluggästen gemäß Artikel 8 eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel mit einem Alternativflug angeboten, dessen Ankunftszeit
a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger nicht später als zwei Stunden oder
b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 und 3 500 km nicht später als drei Stunden oder
c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen nicht später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 um 50 % kürzen.
…“
17. In Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen
a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit – einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder
c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.
…“
18. Art. 9 („Anspruch auf Betreuungsleistungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so sind Fluggästen folgende Leistungen unentgeltlich anzubieten:
a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,
b) Hotelunterbringung, falls
– ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder
– ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,
-c) Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges).
(2) Außerdem wird den Fluggästen angeboten, unentgeltlich zwei Telefongespräche zu führen oder zwei Telexe oder Telefaxe oder E-Mails zu versenden.
(3) Bei der Anwendung dieses Artikels hat das ausführende Luftfahrtunternehmen besonders auf die Bedürfnisse von Personen mit eingeschränkter Mobilität und deren Begleitpersonen sowie auf die Bedürfnisse von Kindern ohne Begleitung zu achten.“
19. Art. 13 („Regressansprüche“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“
20. Frau Folkerts verfügte über eine Buchung für eine Reise von Bremen über Paris und São Paulo nach Asunción.
21. Nach der ursprünglichen Flugplanung hätte die für Frau Folkerts gebuchte Maschine am 16. Mai 2006 um 6.30 Uhr von Bremen abfliegen und am selben Tag um 23.30 Uhr an ihrem Endziel Asunción ankommen sollen.
22. Der von der Gesellschaft Air France durchgeführte Flug von Bremen nach Paris hatte von Beginn an Verspätung und startete erst kurz vor 9.00 Uhr, also mit einer Verspätung von ungefähr zweieinhalb Stunden gegenüber der planmäßigen Abflugzeit. Frau Folkerts, die bereits bei Flugantritt in Bremen Bordkarten für die gesamte Reise hatte, erreichte Paris erst, als das für den Anschlussflug nach São Paulo vorgesehene Flugzeug der Gesellschaft Air France bereits abgeflogen war. Frau Folkerts wurde von Air France auf einen späteren Flug nach São Paulo umgebucht. Aufgrund ihrer verspäteten Ankunft in São Paulo verpasste Frau Folkerts den ursprünglich geplanten Anschlussflug nach Asunción. Sie kam daher erst am 17. Mai 2006 um 10.30 Uhr in Asunción an, also mit einer Verspätung von elf Stunden gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit.
23. Die Gesellschaft Air France wurde in erster und in zweiter Instanz verurteilt, an Frau Folkerts Schadensersatz zu zahlen, der u. a. einen Betrag in Höhe von 600 Euro nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 umfasste.
24. Dagegen legte Air France beim Bundesgerichtshof Revision ein.
25. Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, dass die Entscheidung über die Revision davon abhänge, ob Frau Folkerts gegen Air France ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 zustehe.
26. Frau Folkerts habe nämlich nur dann einen Ausgleichsanspruch in Höhe von 600 Euro, wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C-402/07 und C-432/07, Slg. 2009, I-10923) – wonach einem Fluggast auch bei einer großen Verspätung ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 zustehe – auch für den Fall gelte, dass beim Start noch keine Verspätung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung gegenüber der planmäßigen Abflugzeit vorgelegen habe, die Ankunft am Endziel aber gleichwohl drei Stunden oder mehr nach der ursprünglich geplanten Ankunftszeit erfolgt sei.
27. Daher hängt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Frage, ob der von der Revisionsbeklagten geltend gemachte Ausgleichsanspruch begründet ist, davon ab, ob Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 auch dann herangezogen werden kann, wenn keine Verspätung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung festgestellt wurde. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs kann nämlich aus der Begründung des Urteils Sturgeon u. a. nicht abgeleitet werden, ob ausschließlich die Größe der Verspätung, die bei der Ankunft am Endziel festgestellt wird, maßgeblich für das Entstehen eines Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 ist oder ob ein Ausgleichsanspruch wegen einer solchen Verspätung darüber hinaus voraussetzt, dass die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung erfüllt sind, d. h., dass der betreffende Flug bereits von Beginn an in einem Maß verspätet war, das die in dieser Bestimmung festgelegten Grenzen überschreitet.
28. Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht dem Fluggast eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 zu, wenn sich der Abflug um eine Zeitspanne verzögert hat, die unterhalb der in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung definierten Grenzen liegt, die Ankunft am letzten Zielort aber mindestens drei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erfolgt?
2. Für den Fall, dass die erste Frage zu verneinen ist: Ist für die Frage, ob eine Verspätung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung vorliegt, bei einem aus mehreren Teilstrecken zusammengesetzten Flug auf die einzelnen Teilstrecken oder auf die Entfernung zum letzten Zielort abzustellen?
29. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass auf seiner Grundlage dem Fluggast eines Fluges mit Anschlussflügen, dessen Verspätung zum Zeitpunkt des Abflugs unterhalb der in Art. 6 der Verordnung festgelegten Grenzen lag, der aber sein Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreichte, eine Ausgleichszahlung zusteht.
30. Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Verordnung Nr. 261/2004, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, die Gewährung von Mindestrechten für Fluggäste ist, die mit drei verschiedenen Situationen konfrontiert sind, und zwar der Nichtbeförderung gegen ihren Willen, der Annullierung des Flugs und schließlich der Verspätung des Flugs.
31. Aus Art. 2 der Verordnung Nr. 261/2004, der Definitionen von übergreifender Tragweite enthält, ergibt sich, dass im Gegensatz zur Nichtbeförderung und zur Annullierung eines Flugs die Verspätung eines Flugs dort nicht definiert wird.
32. Überdies ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 261/2004 zwei unterschiedliche Fälle der Verspätung eines Flugs betrifft.
33. Zum einen stellt sie in einigen Zusammenhängen, wie dem in ihrem Art. 6 geregelten Fall der Verspätung eines Flugs, allein auf die Verspätung des Flugs gegenüber der planmäßigen Abflugzeit ab.
34. Zum anderen stellt die Verordnung Nr. 261/2004 in anderen Zusammenhängen auf die zum Zeitpunkt der Ankunft am Endziel festgestellte Verspätung eines Flugs ab. So zieht der Unionsgesetzgeber in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 die rechtlichen Konsequenzen aus der Tatsache, dass Fluggäste, deren Flug annulliert wurde und denen das Luftfahrtunternehmen eine anderweitige Beförderung anbietet, an ihrem Endziel mit einer gewissen Verspätung gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des annullierten Flugs ankommen.
35. Hierzu ist festzustellen, dass sich die Bezugnahme in der Verordnung Nr. 261/2004 auf verschiedene Fälle der Verspätung als vereinbar mit Art. 19 des Übereinkommens von Montreal erweist, das einen integralen Bestandteil der Unionsrechtsordnung bildet (vgl. Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Slg. 2006, I-403, Randnr. 36, sowie vom 6. Mai 2010, Walz, C-63/09, Slg. 2010, I-4239, Randnrn. 19 und 20). Dieser Artikel nimmt nämlich Bezug auf den Begriff „Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden“, ohne zu erläutern, in welchem Stadium einer solchen Beförderung die fragliche Verspätung festgestellt werden muss.
36. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Fluggäste, die eine große Verspätung erleiden, d. h. eine Verspätung von drei Stunden oder mehr, ebenso wie Fluggäste, deren ursprünglicher Flug annulliert wurde und denen das Luftfahrtunternehmen keine anderweitige Beförderung unter den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Voraussetzungen anbieten kann, einen Ausgleichsanspruch auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 haben, da sie in ähnlicher Weise einen irreversiblen Zeitverlust und somit Unannehmlichkeiten erleiden (vgl. Urteile Sturgeon u. a., Randnrn. 60 und 61, und vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C-581/10 und C-629/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 34 und 40).
37. Da diese Unannehmlichkeiten im Fall verspäteter Flüge bei der Ankunft am Endziel eintreten, hat der Gerichtshof entschieden, dass das Vorliegen einer Verspätung für die Zwecke der in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichszahlung anhand der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel beurteilt werden muss (vgl. Urteile Sturgeon u. a., Randnr. 61, sowie Nelson u. a., Randnr. 40).
38. Der Begriff „Endziel“ wird in Art. 2 Buchst. h der Verordnung Nr. 261/2004 definiert als der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges.
39. Daraus folgt, dass es im Fall eines Fluges mit Anschlussflügen für die Zwecke der in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen pauschalen Ausgleichszahlung allein auf die Verspätung ankommt, die gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel, d. h. dem Zielort des letzten Fluges des betreffenden Fluggasts, festgestellt wird.
40. Drittens betrifft Art. 6 der Verordnung Nr. 261/2004, der sich auf die Verspätung eines Fluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit bezieht, nach seinem Wortlaut nur die Festlegung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf die in den Art. 8 und 9 der Verordnung vorgesehenen Unterstützungs- und Betreuungsleistungen.
41. Daraus folgt, dass die pauschale Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 Anspruch hat, wenn sein Flug das Endziel drei Stunden oder mehr nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht, nicht von der Einhaltung der in Art. 6 der Verordnung genannten Voraussetzungen abhängt.
42. Daher wirkt sich der Umstand, dass ein Flug wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine über den in Art. 6 der Verordnung Nr. 261/2004 festgelegten Grenzen liegende Verspätung gegenüber der planmäßigen Abflugzeit hatte, nicht auf die Pflicht der Fluggesellschaften aus, die Fluggäste eines solchen Fluges zu entschädigen, sofern der Flug sein Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr erreicht.
43. Andernfalls läge eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vor, weil Fluggäste, die ihr Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreichen, in Abhängigkeit davon, ob die Verspätung ihres Fluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit die in Art. 6 der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Grenzen übersteigt oder nicht, unterschiedlich behandelt würden, obwohl ihre mit einem irreversiblen Zeitverlust verbundenen Unannehmlichkeiten identisch sind.
44. Viertens wurden in der mündlichen Verhandlung u. a. von der Europäischen Kommission bestimmte statistische Daten angesprochen, zum einen über den beträchtlichen Anteil an Flügen mit Anschlussflügen bei der Beförderung von Fluggästen im europäischen Luftraum und zum anderen über die Häufung von Verspätungen von drei Stunden oder mehr bei der Ankunft am Endziel, von denen solche Flüge betroffen sind und die damit zusammenhängen, dass die betreffenden Fluggäste Anschlussflüge verpassen.
45. Insoweit trifft es zu, dass die Pflicht, die Fluggäste der in Rede stehenden Flüge in der in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen pauschalen Form zu entschädigen, für die Luftfahrtunternehmen eindeutige finanzielle Konsequenzen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Nelson u. a., Randnr. 76).
46. Hervorzuheben ist jedoch zum einen, dass diese finanziellen Konsequenzen gegenüber dem Ziel eines erhöhten Schutzes der Fluggäste nicht als unverhältnismäßig angesehen werden können (Urteil Nelson u. a., Randnr. 76), und zum anderen, dass der tatsächliche Umfang dieser finanziellen Konsequenzen im Licht der drei nachstehenden Gesichtspunkte gemindert werden kann.
47. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Luftfahrtunternehmen zu dieser Ausgleichszahlung nicht verpflichtet sind, wenn sie nachweisen können, dass die Annullierung oder die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen sind (Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, Slg. 2008, I-11061, Randnr. 34, sowie Urteil Nelson u. a., Randnr. 79).
48. Sodann ist festzustellen, dass die Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 261/2004 unbeschadet des Rechts der Luftfahrtunternehmen zu erfüllen sind, bei allen Verursachern der Verspätung, einschließlich Dritten, Regress zu nehmen, wie Art. 13 der Verordnung vorsieht (Urteil Nelson u. a., Randnr. 80).
49. Außerdem können die Ausgleichszahlungen, die je nach der mit den betreffenden Flügen zurückgelegten Entfernung 250 Euro, 400 Euro oder 600 Euro betragen, nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 noch um 50 % gekürzt werden, wenn die Verspätung bei einem nicht unter Art. 7 Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung fallenden Flug unter vier Stunden bleibt (Urteile Sturgeon u. a., Randnr. 63, sowie Nelson u. a., Randnr. 78).
50. Schließlich ergibt sich jedenfalls aus der Rechtsprechung, dass die Bedeutung, die dem Ziel des Schutzes der Verbraucher und somit auch der Fluggäste zukommt, negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen kann (Urteil Nelson u. a., Randnr. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51. Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass auf seiner Grundlage dem Fluggast eines Fluges mit Anschlussflügen, dessen Verspätung zum Zeitpunkt des Abflugs unterhalb der in Art. 6 der Verordnung festgelegten Grenzen lag, der aber sein Endziel mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreichte, eine Ausgleichszahlung zusteht, da diese Zahlung nicht vom Vorliegen einer Verspätung beim Abflug und somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 aufgeführten Voraussetzungen abhängt.
52. Da die erste Frage bejaht wurde, ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
53. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
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