Definition von „Nichtbeförderung“

OLG Frankfurt: Definition von „Nichtbeförderung“

Ein Reidender buchte bei einer Airline eine Flugreise. Weil sich sein Zubringeflug verspätete, verpasste der Kläger den Anschlussflug und konnte erst mit zweitägiger Verspätung befördert werden. Er verlangt nun eine Ausgleichszahlung wegen Nicht-Beförderung nach der Fluggastrechte Verordnung.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat die Klage abgewiesen. Der Tatbestand der Nicht-Beförderung setze eine willentliche Weigerung der Airline voraus. Vorliegend sei es der Beklagte jedoch lediglich nicht möglich gewesen, den Flug auszuführen.

OLG Frankfurt 16 U 128/08 (Aktenzeichen)
OLG Frankfurt: OLG Frankfurt, Urt. vom 06.11.2008
Rechtsweg: OLG Frankfurt, Urt. v. 06.11.2008, Az: 16 U 128/08
AG Frankfurt, Urt. v. 30.05.2008, Az: 30 C 66/08
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Hessen-Gerichtsurteile

Oberlandesgericht Frankfurt

1. Urteil vom 06. November 2008

Aktenzeichen: 16 U 128/08

Leitsatz:

2. Ein verpasster Anschlussflug gilt nicht als Nicht-Beförderung im Sinne der Fluggastrechte Verordnung.

Zusammenfassung:

3. Eine Reidende buchte eine Flugreise bei einem Luftfahrtunternehmen. Weil der Zubringerflug erhebliche Verspätung hatte, verpasste die Klägerin den Anschlussflug und konnte erst mit zweitägiger Verspätung befördert werden. Aufgrund dieser Tatsache fordert sie von der Airline eine Schadensersatzzahlung nach §651 f BGB wegen eines Reisemangels oder behelfweise eine Ausgleichszahlung wegen Nicht-Beförderung im Sinne von Art. 5 der Verordnung 261/2004.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat die Klage abgewiesen. Der geltendgemachte Anspruch auf Schadensersatz wegen vertaner Urlaubszeit entfalle vorliegend, weil es sich bei dem zwischen den Parteien getroffenen Vertrag um einen Beförderungsvertrag, nicht um einen Reisevertrag handele. Die Anspruchsbegründenen Normen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch seien daher nicht anwendbar.

Ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen Nicht-Beförderung scheitere an den tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 5 der Fluggastrechte Verordnung. So fordere die Norm eine willentliche Weigerung der Fluggesellschaft, den Passagier zu befördern. Da die Verspätung vorliegend jedoch nicht durch eine Weigerung, sondern durch das bloße Unvermögen der Airline, den Fluggast rechtzeitig zu befördern, verursacht wurde, scheide ein Ausgleichsanspruch aus.

Tenor:

4. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 30. Mai 2008 verkündete Urteil des AGs Frankfurt am Main – 30 C 66/08 – 71 – abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Das Versäumnisurteil des AGs Frankfurt am Main vom 4. März 2008 wird aufrechterhalten.

Der Kläger hat auch die weiteren Kosten des Verfahrens sowie die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Entscheidungsgründe:

5. Der Kläger buchte für sich, seine Ehefrau sowie für seine drei Kinder bei der Beklagten einen Flug von O1 über O2 nach O3 und zurück.

6. Der Hinflug sollte am … Juli 2006 um 14:00 Uhr beginnen. Da der Abflug in O1 jedoch erst mit fünfstündiger Verspätung gegen 19:00 Uhr erfolgte, erreichten der Kläger und seine Familie den Anschlussflug von O2 nach O3 nicht mehr und konnten erst am übernächsten Tag, dem … Juli 2006, nach O3 weiterfliegen.

7. Der Kläger verlangt von der Beklagten Zahlung in Höhe von 840,00 €, erstinstanzlich in erster Linie gestützt auf § 651 f. BGB (Verdienstausfall in Höhe von 300,00 € sowie Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit für drei Tage in Höhe von 540,00 €) und nur äußerst hilfsweise auf Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 c EuFlugVO.

8. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 96, 97 d. A.) Bezug genommen.

9. Durch das angefochtene Urteil vom 30. Mai 2008 hat das AG Frankfurt am Main ein zu Lasten des Klägers ergangenes Versäumnisurteil vom 4. März 2008 aufgehoben und den Vollstreckungsbescheid des AGs Hagen über die geltend gemachten 840,00 € nebst Zinsen aufrecht erhalten.

10. Zur Begründung hat das AG ausgeführt, dass zwar kein Reisevertrag im Sinne der §§ 651 a ff. BGB vorläge, sondern vielmehr ein Beförderungsvertrag, aber Ansprüche gemäß Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 7 Abs. 1 c EuFlugVO 261/04 gegeben seien, da die verspätete Weiterbeförderung einer Nichtbeförderung gleichstehe.

11. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten der LGlichen Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 97 bis 99 d. A.) Bezug genommen.

12. Gegen das der Beklagten am 3. Juni 2008 zugestellte Urteil hat diese mit einer am 1. Juli 2008 bei Gericht eingegangenen Schrift Berufung eingelegt, die in der Berufungsschrift auch begründet worden ist.

13. Die Beklagte rügt mit der Berufung Rechtsfehler und ist der Ansicht, im vorliegenden Fall sei nicht der Tatbestand der „Nichtbeförderung“ gemäß Art. 4 EuFlugVO gegeben, der nur im Falle einer Überbuchung zu bejahen sei.

14. Die Beklagte beantragt unter Abänderung des Urteils des AGs Frankfurt am Main vom 30. Mai 2008 das Versäumnisurteil des AGs Frankfurt am Main vom 4. März 2008 aufrecht zu erhalten.

15. Der Kläger beantragt die Berufung zurückzuweisen.

16. Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

17. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

18. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des AGs Frankfurt am Main abzuändern und das Versäumnisurteil des AGs Frankfurt am Main vom 4. März 2008 aufrecht zu erhalten.

19. Nach Auffassung des Senats steht dem Kläger kein Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäß Art. 4 Abs. 3 i. V. m. Art. 7 Abs. 1 c EuFlugVO zu.

20. Der Senat hält seine bereits in mehreren Entscheidungen vertretene Auffassung aufrecht, dass im Fall einer Verspätung des Zubringerfluges und damit einhergehenden Nichterreichung des Anschlussfluges keine „Nichtbeförderung“ im Sinne des Art. 4 EuFlugVO gegeben ist.

21. Nach der Definition des Begriffs in Art. 2 j EuFlugVO setzt eine „Nichtbeförderung“ die Weigerung voraus, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Art. 3 Abs. 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z.B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen.

22. Eine rein faktische „Nicht-Weiter-Beförderung“, z.B. wegen Verspätung des Zubringerfluges, reicht indessen nicht aus, eine Nichtbeförderung im Sinne des Art. 2 j EuFlugVO anzunehmen.

23. Das ist bereits aufgrund des Wortlauts der Fall, da der Begriff der „Weigerung“ ein bewusstes Zurückweisen der Passagiere impliziert, die sich mit einer bestätigten Buchung und rechtzeitig zur Flugabfertigung eingefunden haben.

24. Darüber hinaus spricht auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift für eine Beschränkung auf die Fälle einer Zurückweisung der Fluggäste wegen Überbuchung des Fluges.

25. Die EG-VO 261/04 hat zwar den Anwendungsbereich der alten Verordnung erweitert, jedoch nicht auf die Fälle des Nichterreichens des Anschlussfluges wegen verspäteten Eintreffens des Zubringerfluges. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die alte Verordnung hat ausschließlich die Fälle der Nichtbeförderung wegen Überbuchung erfasst, wie der BGH in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2006 (NJW-RR 2006, 1719 f.) ausdrücklich festgestellt hat. Auch wenn in der neuen Verordnung der Begriff „Überbuchung“ im Gegensatz zur alten Verordnung nicht genannt wird, ist aus den Erwägungsgründen auf den Willen des Verordnungsgebers zu schließen, es bei den Anwendungsfällen der Überbuchung zu belassen, auch wenn jetzt nur allgemein von „Nichtbeförderung“ die Rede ist.

26. In dem dritten Erwägungsgrund wird nämlich darauf hingewiesen, dass zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen worden, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste aber immer noch zu hoch sei. Nach Erwägungsgrund 4 sollte die Gemeinschaft deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken. Dementsprechend sieht Erwägungsgrund 9 vor, dass die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste dadurch verringert werden sollte, dass von dem Luftfahrtunternehmen verlangt wird, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen, anstatt Fluggästen die Beförderung zu verweigern, und denjenigen, die letztlich nicht befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.

27. Diese Erwägung ist dann mit der Vorschrift des Art. 4 umgesetzt worden, nach dessen Abs. 1 ein Luftfahrtunternehmen zunächst versuchen muss, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchung zu bewegen, und nach dessen Abs. 2 Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigern kann, wenn sich nicht genügend Freiwillige finden, wobei nach Abs. 3 diesen unverzüglich eine Ausgleichsleistung zu erbringen ist.

28. In der Einführung von Art. 4 Abs. 1 und 2 EuFlugVO liegt daher bereits eine erhebliche Stärkung der Fluggastrechte. Dem Verbraucherschutzgedanken ist darüber hinaus dadurch stärker Rechnung getragen worden, dass die Tatbestände der „Annullierung“ und „Verspätung“ eingeführt worden sind, also weitere entschädigungspflichtige Tatbestände geschaffen wurden; auch wurden Charterflüge in den Anwendungsbereich einbezogen.

29. Anhaltspunkte dafür, dass der Tatbestand der „Nichtbeförderung“ neu definiert werden sollte und nicht nur im Fall der „Überbuchung“, sondern auch bei Nichterreichung des Anschlussfluges wegen Verspätung des Zubringerfluges erfüllt sein sollte, finden sich hingegen nicht in den Erwägungsgründen.

30. Dabei wäre es – bei einem entsprechenden Willen des Verordnungsgebers – ohne Weiteres möglich gewesen, die Nichtbeförderung neu und anders, und zwar als jede Form des misslungenen (Weiter-)Transports der Fluggäste zur ursprünglich gebuchten Flugzeit zu definieren. Das aber wollte der Verordnungsgeber offensichtlich nicht.

31. Aufgrund des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte der Verordnung verbietet es sich jedoch, allein aus dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und der Erwägung, dass der Fluggast bei jeder faktischen Nichtbeförderung keine Wahlfreiheit genießt und ohne eigenes Verschulden nicht – wie geplant – weiter transportiert wird, eine Nichtbeförderung im Sinne des Art. 4 EuFlugVO anzunehmen.

32. Denn entscheidend ist, dass nach Auffassung des Senats aus den genannten Gründen der Regelungsgehalt von Art. 4 Abs. 3 EuFlugVO diese über den Fall der Überbuchung hinausgehenden Fälle der unterbliebenen Beförderung nicht erfasst und nicht erfassen wollte, mag dies aus der Sicht des Verbrauchers auch zu beklagen sein.

33. Der Kläger hätte allenfalls Unterstützungsleistungen wegen Verspätung des Zubringerfluges gemäß Art. 6 EuFlugVO beanspruchen können. Zu den Voraussetzungen der Art. 8 und 9 EuFlugVO verhält sich sein Vortrag jedoch nicht.

34. Dem Kläger stehen auch keine Ansprüche gemäß § 651 f. Abs. 1 BGB zu, da – wie das AG zutreffend festgestellt hat – mit der Beklagten kein Reisevertrag im Sinne der §§ 651 a ff. BGB geschlossen worden ist, vielmehr ein reiner Beförderungsvertrag vorliegt.

35. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

36. Die Revision war zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen gemäß § 543 Abs. 2 ZPO gegeben sind. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Zudem erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts, da andere Gerichte, u. a. das Hanseatische OLG (RRa 2008, 139 ff), in ähnlich gelagerten Fällen eine „Nichtbeförderung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 3 EuFlugVO bejaht haben.

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