Außergewöhnlicher Umstand bei Verzögerung durch Flugangst von Passagieren

LG Landshut: Außergewöhnlicher Umstand bei Verzögerung durch Flugangst von Passagieren

Ein Flug verspätete sich, weil Fluggäste aus Angst ausstiegen. Außergewöhnliche Umstände lagen dadurch nicht vor, denn ein technischer Defekt am Flugzeug hatte die Flugangst erst geweckt.

LG Landshut 12 S 209/17 (Aktenzeichen)
LG Landshut: LG Landshut, Urt. vom 25.04.2017
Rechtsweg: LG Landshut, Urt. v. 25.04.2017, Az: 12 S 209/17
  AG Erding, Urt. v. 16.01.2017, Az: 3 C 2378/16
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Landgericht Landshut

1. Urteil vom 25. April 2017

Aktenzeichen 12 S 209/17

Leitsatz:

2. Aus Flugangst aussteigende Passagiere begründen keinen außergewöhnlichen Umstand, wenn ein technischer Defekt die Ursache ihrer Angst ist.

Zusammenfassung:

3. Eine Fluggesellschaft wurde wegen einer erheblichen Flugverspätung auf Schadensersatz verklagt und in erster Instanz vom Amtsgericht Erding zu dessen Leistung verurteilt. Bei ihrer Berufung vor dem Landgericht Landshut berief sich die Beklagte auf außergewöhnliche Umstände. Demnach sei die Verzögerung entstanden, weil Fluggäste aus Flugangst die Maschine verlassen, während an dieser Reparaturmaßnahmen vorgenommen wurden.

Die Berufung wurde abgewiesen, denn es lagen keine außergewöhnlichen Umstände vor. Der technische Defekt selbst stellte solche nicht dar, da sich in ihm ein im Flugbetrieb gewöhnliches Risiko verwirklicht hatte. Zwar konnte das Verlassen des Flugzeuges durch unter Flugangst leidende Passagieren außergewöhnliche Umstände darstellen, vorliegend war dies jedoch eine Folge des technischen Defektes, sodass die Fluggesellschaft nicht von der Haftung für dessen Auswirkungen befreit werden konnte.

Tenor:

4. Die Kammer beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 16.01.2017, Az. 3 C 2378/16, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil sie einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Die Beklagte erhält Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Entscheidung binnen 2 Wochen ab Zustellung dieses Hinweises (§ 522 II 2 ZPO).

Nach Sachlage empfiehlt es sich, zur Vermeidung weiterer Kosten die Rücknahme der Berufung innerhalb der gesetzten Frist zu prüfen. Im Falle einer Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).

Gründe:

5. Die zulässige Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts beruht auf keiner Rechtsverletzung im Sinne von §§ 513, 546 ZPO. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen keinen anderen Urteilsspruch.

6. Die Beklagte stützt ihre Berufung auf folgende Argumente:

7. Es handele sich um eine sogenannte „multikausale Verspätung“. Ein ausgleichspflichtiger Anspruch ergebe sich in solchen Fällen nur dann, wenn der von der Fluggesellschaft zu vertretende Anteil an der Verspätung (hier: Reparatur am Flugzeug) für sich gesehen zu einer Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden geführt hätte. Das Verhalten der Passagiere, die aufgrund von Flugangst nach der Reparatur aus dem Flugzeug ausgestiegen seien, was zu einer weiteren Verzögerung geführt hat, wäre der Fluggesellschaft nicht zuzurechnen. Wäre dem so, würden nur geringe technische Verzögerungen regelmäßig dazu führen, dass sich die Fluggesellschaft ausgleichspflichtig macht.

8. Die Beklagte bildet in diesem Zusammenhang ein drastisches Beispiel, indem sie schildert, dass eine Fluggesellschaft, die sich nur um eine Minute verspätet, nicht deshalb ausgleichspflichtig werden kann, weil nach dieser einen Minute eine mehrstündige Sperrung des Flughafens erfolgt.

9. Des Weiteren ist die Beklagte der Auffassung, dass es unerheblich sei, ob eine Verspätungsursache (hier: Reparatur am Flugzeug) für die andere (hier: Aussteigen der Fluggäste) kausal ist oder ob die Ereignisse gänzlich zusammenhanglos nebeneinander stehen.

10. Die Kammer hat sich zu der streitgegenständlichen Flugverspätung bereits in einem Parallelverfahren (Az.: 14 S 111/17 des Landgerichts Landshut) in einem Hinweisbeschluss vom 11.04.2017 geäußert. Die Kammer hat dort, soweit für das streitgegenständliche Verfahren von Relevanz, folgende Ausführungen getätigt, an denen sie festhält:

11. Das Aussteigen der Fluggäste, die sich nach dem Auftreten des technischen Defekts aus Flugangst dazu entschieden haben, nicht mehr mitfliegen zu wollen, stellt auch nach Ansicht der Kammer in diesem konkreten Fall keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 dar.

12. Zunächst ist festzustellen, dass die Verordnung keine Definition des außergewöhnlichen Umstands enthält.

13. Der EuGH hat in der Entscheidung W.-​H. vom 22.12.2008, Az.: C-​549/07 festgestellt, dass Art 5 Abs. 3 der VO dahingehend auszulegen ist, dass ein bei einem Flugzeug auftretendes technisches Problem, das zur Annullierung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind. Im Urteil McD. gegen Ryanair vom 31.01.2013, Az. C-​12/11 hat der EuGH dies bestätigt und betont, dass es sich bei den außergewöhnlichem Umständen um Umstände handelt, die „abseits des Gewöhnlichen“ liegen. Es geht um solche Vorkommnisse, die der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens nicht innewohnen und aufgrund ihrer Natur oder Ursache von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind, vgl. für den gesamten Absatz Führich Reiserecht, 7. Auflage 2015, § 40 Rn. 9.

14. Der BGH hat in einer aktuellen Entscheidung vom 20.12.2016 (NJW 2017, 956) zum Thema außergewöhnliche Umstände ausgeführt, dass es sich um Umstände handelt, die außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es handelt sich um Umstände, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als in der Regel von außen kommende besondere Umstände dessen ordnungs- und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Umstände, die im Zusammenhang mit einem den Luftverkehr störenden Vorfall wie einem technischen Defekt auftreten, können nur dann als außergewöhnlich iSv Art 5 Abs. 3 der VO qualifiziert werden, wenn sie auf ein Vorkommnis zurückgehen, das wie die im Erwägungsgrund 14 der VO aufgezählten Ereignisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind.

15. Ferner hat der BGH in der zitierten Entscheidung ausgeführt, dass die Anwendung dieser Grundsätze auf Einzelfälle den Gerichten der Mitgliedsstaaten obliegt.

16. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zunächst festzustellen, dass der technische Defekt am Fluggerät (Aufleuchten der Motorkontrollleuchte) keinen außergewöhnlichen Umstand bedingt. Dies wird von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt.

17. Weiter ist festzustellen, dass isoliert betrachtet nach diesen Grundsätzen eine Verzögerung, die sich daraus ergibt, dass Passagiere sich aus Flugangst dazu entscheiden doch nicht mitzufliegen, tatsächlich als außergewöhnlicher Umstand anzusehen sein könnte. Das Angstgefühl, das den Passagier zum Verlassen des Flugzeuges bewegt, ist von der Fluggesellschaft nicht beherrschbar. Dieser Fall dürfte nicht anders zu behandeln sein, als wenn es aufgrund einer Erkrankung eines Passagiers zu einer Verzögerung kommt. Dieser Umstand fällt nicht in den Risikobereich des Luftfahrtunternehmens. Insofern verwirklicht sich ein allgemeines Lebensrisiko, vgl. Staudinger, Fluggastrechteverordnung, 1. Auflage 2016, Art. 5 Rn. 16.

18. Allerdings liegt hier der spezielle Fall vor, dass die Flugangst der Passagiere erst durch das Auftreten des technischen Defekts überhaupt zum Tragen kam. Erst hierdurch empfanden die Passagiere das Flugzeug nach dem eigenen Vortrag der Beklagten so unsicher, dass sie entschieden doch nicht mitzufliegen. Vor dem Eintreten des technischen Defekts waren die Passagiere wegen Flugangst überhaupt nicht auffällig geworden. Die Flugangst und das Aussteigen der Passagiere stellt sich damit in diesem Fall als Auswirkung des technischen Defekts dar. Es liegt deshalb kein Fall der multikausalen Verspätung vor.

19. Wie oben bereits ausgeführt hat der EuGH in der Entscheidung W.-​H. ausgeführt, dass ein technischer Defekt grundsätzlich nicht unter den Begriff des außergewöhnlichen Umstands fällt, es sei denn er geht auf ein Vorkommnis zurück, der tatsächlich nicht vom Luftfahrtunternehmen zu beherrschen ist. Dies zeigt, dass es bei der Frage, ob ein außergewöhnlicher Umstand vorliegt oder ein Umstand, der dem Risikobereich der Luftfahrtgesellschaft zuzuordnen ist, letztlich um die Frage geht, worauf die Störung kausal zurückzuführen ist. Ist für den technischen Defekt ein für die Airline nicht beherrschbarer Sabotageakt kausal, dann liegt – obwohl technische Defekte zunächst einmal der Risikosphäre der Luftfahrtgesellschaft zuzuordnen sind – gleichwohl ein außergewöhnlicher Umstand vor.

20. Der Gedanke, dass es auf die Ursache des Vorkommnisses ankommt, muss auch für den umgekehrten Fall gelten. D.h. ein Vorkommnis (hier: Aussteigen wegen Flugangst), das an sich durchaus als außergewöhnlicher Umstand zu beurteilen wäre, kann ausnahmsweise doch dem Risikobereich des Luftfahrtunternehmens zuzuordnen sein, wenn der Umstand allein auf ein Vorkommnis zurückzuführen ist, für das das Luftfahrtunternehmen haftet (hier: technischer Defekt)“

21. Die Berufungsbegründung im gegenständlichen Verfahren gibt keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Ergänzend ist zu der Berufungsbegründung im gegenständlichen Verfahren folgendes auszuführen:

22. Soweit ersichtlich, wird nirgends vertreten, dass bei technischen Defekten in Bezug auf die von der Fluggesellschaft zu vertretende Verspätung allein auf die reine Reparaturdauer am Flugzeug abzustellen ist und nicht darauf, welche sonstigen Folgen die Reparatur hatte. Derartiges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Landgerichts Darmstadt vom 02.10.2013. In diesem Urteil, aufgerufen unter BeckRS 2014, 23445 wird ausgeführt, dass bei einer geringfügigen Verspätung von nicht einmal einer Viertelstunde, die nicht vermeidbar und nicht ausgleichspflichtig war, eine weitere Verspätung auch zu keinem Ausgleich geführt hätte, wenn es nicht zu wetterbedingten Verzögerungen, die beim Landgericht Darmstadt gerichtsbekannt waren, gekommen wäre. Um einen solchen Fall handelt es sich hier nicht. Es lag ein technischer Defekt vor, für den die Beklagte einzustehen hat. Die Behebung des Defekts dauerte auch nicht nur ein paar Minuten, sondern mehr als eine Stunde. Folge des Defekts war, dass sich bei einigen Fluggästen die offensichtlich bereits latent vorhandene Flugangst so stark steigerte, dass sie nicht mehr mitfliegen wollten. Es handelt bei dem Defekt am Flieger und dem nachfolgenden Aussteigen der Fluggäste deshalb nicht um völlig voneinander unabhängige Vorkommnisse, die zwingend getrennt voneinander betrachtet werden müssen.

23. Soweit die Beklagte darauf hinweist, dass im Interesse der Sicherheit der Fluggäste die Fluggesellschaft in die Lage versetzt werden muss, ohne Zeitdruck Reparaturmaßnahmen durchführen zu können, verfängt dieser allgemeine Hinweis nicht. Von einer Fluggesellschaft wird nach dem Zweck der Fluggastrechteverordnung erwartet, dass sie ohne Zeitdruck die notwendigen Reparaturmaßnahmen durchführt, auch wenn es dadurch zu finanziellen Belastungen kommen kann. Zu denken ist an eine Reparatur, die bei sorgfältiger Durchführung mehr als 3 Stunden dauert.

24. Die Beklagte bildet insofern ein Extrembeispiel, in dem sie eine zu vertretende Flugverspätung von einer Minute schildert und eine nachfolgende, nicht zu vertretende Flughafensperrung von 2 Stunden 59 Minuten. Zum Einen geht es um einem solchen Fall vorliegend nicht und zum Anderen handelt es sich in dem Beispielsfall um zwei voneinander völlig isoliert zu betrachtende Vorgänge. Im Beispielsfall der Beklagten ist die Flughafensperrung gerade nicht Folge der von der Fluggesellschaft zu vertretenden Verzögerung. Wäre sie es, wäre die Fluggesellschaft auch ausgleichspflichtig.

25. Wie bereits im Hinweis vom 11.04.2017 dezidiert dargelegt, ist die Kammer nicht der Auffassung, dass der Schaden am Flugzeug und die nachfolgend dadurch bedingte Flugangst der Passagiere gänzlich isoliert voneinander zu betrachten sind. Es liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung, dass nach Reparaturarbeiten Fluggäste aussteigen. Der Lebenserfahrung entspricht es jedenfalls, dass sich bei manchen Fluggästen eine Verunsicherung einstellt, wenn das Flugzeug nicht pünktlich starten kann, weil es noch repariert werden muss. Zwar kann Flugangst völlig losgelöst von Reparaturarbeiten entstehen, jedoch ist ein derartiger Fall hier nicht gegeben. Vorliegend war die Reparatur Grund für die Flugangst.

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