Ausgleichsanspruch bei Verpassen des Anschlussfluges, wenn dieser bei Landung des Zubringerfluges noch nicht gestartet ist

AG Köln: Ausgleichsanspruch bei Verpassen des Anschlussfluges, wenn dieser bei Landung des Zubringerfluges noch nicht gestartet ist

Reisende verklagten ein Flugunternehmen wegen eines aufgrund der Verspätung des Zubringerfluges verpassten Anschlussfluges. Zwar waren die Passagiere auf einen anderen Flug umgebucht worden, wurden jedoch mit dem Zug zu ihrem Endziel befördert, was eine Verspätung von über 3 Stunden mit sich brachte.

Das Amtsgericht Köln hat den Reisenden Recht zugesprochen. Durch die Verzögerung von mehr als 3 Stunden stehe ihnen eine Ausgleichszahlung im Sinne von Art. 5 der Fluggastrechte Verornung zu.

AG Köln 142 C 482/15 (Aktenzeichen)
AG Köln: AG Köln, Urt. vom 24.10.2016
Rechtsweg: AG Köln, Urt. v. 24.10.2016, Az: 142 C 482/15
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Amtsgericht Köln

1. Urteil vom 24. Oktober 2016

Aktenzeichen 142 C 482/15

Leitsätze:

2. Verpassen Passagiere aufgrund der Verspätung des Zubringerfluges den  Anschlussflug und werden trotz Umbuchung auf einen Ersatzflug mit einem langsameren Verkehrsmittel, bspw. mit dem Zug, befördert, haftet das Flugunternehmen für die Verspätung.

Erfolgt die Umbuchung auf einen Ersatzflug nachdem der ursprünglich gebuchte Flug bereits gestartet ist, liegt keine Verweigerung der Beförderung vor.

Zusammenfassung:

3. Die Kläger hatten bei der Beklagten eine Flugreise von Tunis über Frankfurt nach Stuttgart gebucht. Der Zubringerflug hatte Verspätung, sodass die Reisenden zwar noch vor dem Abflug des Anschlusses in Frankfurt landeten, das Boarding aber nicht mehr erreichten. Daraufhin buchte die Beklagte die Reisende ohne deren Kenntnis auf einen Ersatzflug um, diese aber reisten letztlich mit der Bahn nach Stuttgart, wo sie mit über 3 Stunden Verspätung ankamen.

Vor dem Amtsgericht Köln forderten die Kläger Ersatzleistung für die Verspätung und die Umbuchung, in der sie eine Verweigerung der Beförderung sahen.

Das Gericht gab der Anklage nur teilweise statt, da in der Tat die Fluggesellschaft für die entstandene Reiseverzögerung haftet, in der Umbuchung jedoch keine Beförderungsverweigerung bestand, da sie nachweislich erst erfolgt war, nachdem der Anschlussflug bereits abgehoben war und die Reisenden ihn ohnehin nicht mehr wahrnehmen konnten.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger zu 1.) bis 3.) jeweils 250,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.10.2015 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger zu 7/20 und die Beklagte zu 13/20.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteiles vollstreckbaren Betrages abzuwenden, soweit nicht die jeweils andere Seite zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages geleistet hat.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

5. Die Kläger nehmen die Beklagte, ein deutsches Luftfahrtunternehmen, auf Ausgleichszahlungen nach der EU-Verordnung Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen vom 11.2.2004 (im Folgenden: FluggastVO) in Anspruch.

6. Die Kläger buchten bei der Beklagten unter der Buchungsnummer ZC5NOR Flüge von Tunis über Frankfurt nach Stuttgart am 05.09.2015. Geplant war der Abflug mit LH 1323 in Tunis für 12.30 Uhr mit Ankunft in Frankfurt um 16:00 Uhr. Der Weiterflug mit LH 132 sollte in Frankfurt um 16:50 erfolgen. Die Ankunft in Stuttgart war für 17:30 Uhr geplant. Der Flug LH 1323 erreichte Frankfurt mit einer Verspätung von 9 Minuten um 16:59 Uhr. Die Kläger mussten in Frankfurt von Halle B Gate 23A zu  Halle A Gate 36 um den Anschlussflug zu erreichen, wobei sie eine Pass- und Sicherheitskontrolle zu passieren hatten. Sie erreichten das Gate für den Anschlussflug um 16:50 Uhr. Das Boarding war um 16:44 Uhr beendet worden. Die Kläger verpassten den Flug nach Stuttgart. Die Beklagte buchte die Kläger auf den späteren Flug LH 136 nach Stuttgart um. Die Kläger wurden dann jedoch mit der Bahn von Frankfurt nach Stuttgart transportiert. Stuttgart erreichten sie um 21:08 Uhr mit einer Verspätung gegenüber der geplanten Ankunft von 3 Stunden und 38 Minuten.

7. Die Kläger sind der Ansicht, dass ihnen nach der Rechtsprechung des EuGH zur grossen Verspätung wegen der über dreistündigen Ankunftsverspätung eine Ausgleichszahlung nach Art. 5, 7 FluggastVO in Höhe von jeweils 400,00 Euro zustehe. Die Kläger behaupten, dass die Beklagte sie bereits umgebucht habe, bevor sie das Gate für den Flug nach Stuttgart erreichten.

8. Die Kläger beantragen,

die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger je 400,00 Euro, insgesamt 1.200,00 Euro  zuzüglich  Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.09.2015 zu zahlen.

9. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10. Die Beklagte behauptet, die Kläger hätten trotz der Verspätung des Fluges ihren Anschlussflug in Frankfurt noch erreichen können. Sie behauptet, dass der Umstieg in Frankfurt in wenigen Minuten via Shuttlebus / Skyline möglich gewesen sei. Auch ständen an den Sicherheitskontrollen Fast Lanes zur bevorzugten Kontrolle zur Verfügung. Die Entfernung zwischen den Halle B und Gate 36 betrage 800 bis 900 Meter und sei bei gehöriger Eile in 5 Minuten zurückzulegen.

11. Das Gericht hat in dem Termin zur mündlichen Verhandlung vom 04.07.2016 den Kläger zu 1.) gemäss § 141 ZPO persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf das Protokoll der Sitzung vom 04.07.2016 Bl. 59 ff. d.A. Bezug genommen.

12. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

13. Die Klage ist überwiegend begründet.

14. Den Klägern steht wegen der mehr als dreistündigen Verspätung am Endziel ihrer Flugreise von Tunis über Frankfurt nach Stuttgart gegen die Beklagte jeweils ein Ausgleichsanspruch nach Art. 5, 7 Abs. 1 lit. a) FluggastVO in Höhe von 250,00 Euro zu.

I.

15. Der Anspruch der Kläger ergibt sich allerdings nicht bereits aufgrund eines Falles der unberechtigten Nichtbeförderung nach Art. 4 FluggastVO, weil die Beklagte die Kläger auf einen späteren Flug nach Stuttgart umbuchte.

16. Nach Art. 4 Abs. 3 FluggastVO steht einem Fluggast auch dann ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastVO zu, wenn ihm seitens des ausführenden Luftfahrtunternehmen die Beförderung gegen ihren Willen verweigert wird, ohne dass vertretbare Gründe nach Art. 2 lit j) FluggastVO vorliegen. Zwar ist dafür aufgrund des Verweises in Art. 2 lit j) auf Art. 3 Abs. 2 FluggastVO grundsätzlich erforderlich, dass sich der Fluggast rechtzeitig am Flugsteig einfindet. Indes bedarf es der Voraussetzung des rechtzeitigen Einfindens nicht, wenn bereits zuvor feststeht, dass sich das ausführende Luftfahrtunternehmen weigert, den Fluggast zu befördern.  Dies ist der Fall, wenn das Luftfahrtunternehmen den Fluggast bereits vor dem Check-In oder dem Boarding umbucht, ohne dass der Fluggast davon weiß und die Gelegenheit bekommt, sich zu einer beabsichtigten Umbuchung zu äussern. Der bereits umgebuchte Fluggast ist aber genauso schutzbedürftig. Denn es macht für die ihm entstehenden Unannehmlichkeiten, die durch die Ausgleichszahlung kompensiert werden sollen, keinen Unterschied, ob ihm die Nichtbeförderung erst bei Check-In/Boarding verweigert wird oder seine Beförderung bereits im Vorfeld – ohne dass er davon weiß – nicht mehr vorgesehen ist (BGH NJW 2015, 2181 ff). Darlegungs- und beweisbelastet für eine verweigerte Beförderung ist der Fluggast. Er muss daher auch beweisen, dass es zu einer der Nichtbeförderung gleichstehenden, vorweggenommenen Umbuchung kam. In Hinblick auf anspruchsbegründende Tatsachen, die sich dem Wahrnehmungsbereich des Fluggastes entziehen, trifft das Luftfahrtunternehmen allerdings eine sekundäre Darlegungslast. Sie muss für den Fall, dass es eine Umbuchung gab, Einblick gewähren, wann sie diese durchführte, um dem Fluggast Gelegenheit zu geben, hierauf gestützt konkrete Tatsachen vorzutragen und unter Beweis zu stellen, dass die Umbuchung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als eine Abfertigung bzw. ein Boarding noch möglich war.

17. Danach lässt sich vorliegend keine verweigerte Nichtbeförderung feststellen. Es ist zwar unstreitig, dass die Beklagte ohne, dass die Kläger dies wussten eine Umbuchung auf den Flug LH 136 nach Stuttgart vornahm, allerdings hat die Beklagte auf die Behauptung der Kläger, die Umbuchung sei bereits vor dem Abschluss des Boarding für den gebuchten Flug LH 132 erfolgt, substantiiert vorgetragen, dass die Umbuchung erst nach dem geplanten Abflugzeitpunkt für Flug LH 132 um 16:50 Uhr erfolgte. Jedenfalls für die Klägerin zu 3.) hat sie einen entsprechenden Buchungsausdruck vorgelegt, aus dem sich als Zeitpunkt der Umbuchung 16:51 Uhr Ortszeit (14:51 UTC) ergibt. Zu diesem Zeitpunkt war Flug LH 132 bereits abgeflogen. Soweit die Kläger vortragen, dass die Umbuchung der Kläger zu 1.) und 2.) gleichwohl früher erfolgt sein kann, ist dies zwar zutreffend, indes haben die Kläger zu 1.) und 2.) keinen Beweis dafür angetreten, dass die Umbuchung durch die Beklagte abweichend von der Umbuchung für die Klägerin zu 3.) zu einem früheren Zeitpunkt, insbesondere vor dem Abschluss des Boarding um 16:44 Uhr erfolgte. Ein solcher Beweisantritt wäre den Klägern auch möglich gewesen, etwa durch den Antrag entsprechende im Besitz der Beklagten befindliche Unterlagen vorzulegen (§§ 421 ff. ZPO). Dementsprechend sind die Kläger für eine unberechtigte Nichtbeförderung beweisfällig geblieben.

18. Die Kläger haben aber nach Art. 5, 7 Abs. 1 lit. b) FluggastVO einen Anspruch auf Ausgleichszahlung gegen die Beklagte, da sie Stuttgart, das Endziel ihrer bei der Beklagten gebuchten und von ihr auch ausgeführten Flugreise, am 05.09.2015 erst mit einer über dreistündigen Verspätung erreichten.

19. Die Art. 5, 7 FluggastVO sind auf den vorliegenden Fall der verspäteten Ankunft am Endziel Stuttgart anwendbar und die Voraussetzungen

20. Die Vorschriften der Art. 5 und 7 FluggastVO finden auch auf Fälle Anwendung, in denen ein Flug zwar nicht nach dem Wortlaut der Verordnung „annulliert“ wurde, wohl aber so verspätet war, dass der Fluggast sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht, sog. große Verspätung (EuGH, „Sturgeon“, Rs. C-402/07 und C-432/07, Urteil v. 19.11.2009). Der EuGH hat die Notwendigkeit eines Ausgleichsanspruchs aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitet, da die mit einem irreversiblen Zeitverlust von mehr als drei Stunden verbundenen Unannehmlichkeiten für den Fluggast denen gleichstehen, die entstanden wären, wäre der Flug annulliert worden (EuGH, „Airfrance ./. Folkerts“, Rs. C-11/11, Urteil v. 26.2.2013). Weiter hat der EuGH festgestellt, dass dem Fluggast eines Fluges mit Anschlussflügen selbst dann eine Ausgleichszahlung zusteht, wenn zwar die Verspätung zum Zeitpunkt des Abfluges unterhalb der in Art. 6 FluggastVO festgelegten Grenzen ( je nach Entfernung 2, 3 oder 4 Stunden) liegt, das Endziel jedoch erst mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreicht wird, denn die Ausgleichszahlung hängt nicht vom Vorliegen einer Verspätung beim Abflug und somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 FluggastVO aufgeführten Voraussetzungen ab (EuGH, „Airfrance ./. Folkerts“, Rs. C-11/11, Urteil v. 26.2.2013 NJW 2013, 1291; siehe auch BGH, X ZR 127/11, Urteil v. 7.5.2013, NJW-RR 2013, 1065) Dies gilt nach der o.g. Rechtsprechung des EuGH jedenfalls bei solchen Flugreisen, bei denen zwischen einem Zubringerflug und dem Anschlussflug von vornherein durch das beide Flüge ausführende Luftfahrtunternehmen ein Zusammenhang hergestellt wurde, der zu einer gewissen Abhängigkeit zwischen den beiden Flügen bei der Planung derselben führt. Abzustellen ist bei solchen Flugkombinationen dann nur darauf, ob es am Endziel zu einer über dreistündigen Verspätung kam (Art. 2 lit. h) FluggastVO). Darlegungs- und beweisbelastet für das Vorliegen einer über dreistündigen Verspätung bei einem Flug mit Anschlussflug am Endziel ist der Fluggast. Indes muss er nach Massgabe der Rechtsprechung des EuGH nicht darlegen, worauf die Verspätung am Endziel beruhte. Entgegen einer offenbar von dem LG Köln vertretenen Ansicht (LG Köln, Beschluss vom 10.08.2015 – 11 S 106/15 ) muss der Fluggast zur Schlüssigkeit des Anspruches auf Ausgleichszahlung nicht dazu vortragen, worauf die Verspätung am Endziel beruhte und was hierfür ursächlich war. Zur Schlüssigkeit des Anspruches auf Ausgleichszahlung gehört nur der Vortrag, dass der Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist (Art. 3 FluggastVO), insbesondere der Fluggast bei Antritt der Flugreise im Besitz einer bestätigten Buchung ist, sich rechtzeitig zur Abfertigung einfindet  und eine Nichtbeförderung, Annullierung oder grosse Verspätung vorliegt.  Die Frage nach der Kausalität stellt sich nach der Systematik der FluggastVO erst im Rahmen einer etwaigen Exkulpation des Luftfahrtunternehmens. Das ausführende Luftfahrtunternehmen ist nach der Konzeption der FluggastVO darlegungs- und beweisbelastet, dass es für die eingetretene Verspätung keine Verantwortung trägt, sie ihr also nicht zuzurechnen ist.

21. Danach ist der Anspruch der Kläger auf eine Ausgleichszahlung dem Grunde nach gegeben. Unstreitig beruhten die Flüge der Kläger von Tunis nach Frankfurt und Frankfurt nach Stuttgart am 05.09.2015 auf einer einheitlichen Buchung bei der Beklagten, wurden die einzelnen Flüge durch die Beklagte planerisch zu einer Einheit zusammengefasst und auch von der Beklagten ausgeführt. Unstreitig ist weiter, dass die Kläger ihr Endziel Stuttgart mit einer über dreistündigen Verspätung erreichten.

22. Die Beklagte ist für die verspätete Ankunft der Kläger am Endziel Stuttgart verantwortlich. Sie hat keine aussergewöhnlichen Umstände nach Art. 5 Abs. 3 FluggastVO dargelegt, aus denen sich im konkreten Fall eine Befreiung von der Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichszahlung ergibt. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass die Verspätung darauf zurückzuführen ist, dass die Kläger trotz ausreichender Umstiegszeit aufgrund eigenen Verschuldens sich in Frankfurt nicht rechtzeitig zum Boarding des Anschlussfluges einfanden.

23. Nach Art. 5 Abs. 3 FluggastVO entfällt die Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlungen, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Annullierung, bzw. die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Als Ausnahmeregelung von dem Grundsatz, dass Fluggäste bei einer großen Verspätung eines Fluges Anspruch auf Ausgleichsleistungen haben, ist Art. 5 Abs. 3 FluggastVO grundsätzlich eng auszulegen. Außergewöhnliche Umstände sind daher nur solche Risiken, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen sind (EuGH, „Wallentin-Hermann“, Rs. C-549/07, Urteil v. 22.12.2008; jüngst EuGH, Rs. C-257/14, Urteil v. 17.9.2015). Tatsächlich unbeherrschbar sind nur die Vorkommnisse, auf deren Eintritt das Luftfahrtunternehmen keinen Einfluss hat, die also gewissermaßen „von außen“ auf die Durchführung des Fluges einwirken. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit den in den Erwägungsgründen 14 und 15 FluggastVO aufgezählten Umständen: aus den dortigen Beispielsfällen – politische Instabilität, Wetterbedingungen, Streiks, Entscheidungen der Flugsicherheitsbehörde etc. – folgt, dass ein außergewöhnlicher Umstand stets außerhalb der Verantwortungs- und Risikosphäre des ausführenden Luftfahrtunternehmens angesiedelt ist. Zu den genannten Fällen sind – auch wenn dies in den Erwägungsgründen keine Erwähnung gefunden hat – auch die Fälle zu rechnen, in denen der Fluggast selbst dafür verantwortlich ist, dass es zu einer Verspätung kam. Auch bei einem Eigenverschulden des Fluggastes handelt es sich um einen ausserhalb des normalen Flugbetriebes liegenden von dem Luftfahrtunternehmen nicht beeinflussbares Geschehen. Kommt es daher zu einer Verspätung am Endziel einer aus Zubringer- und Anschlussflug zusammengesetzten Flugreise, weil der Fluggast trotz ausreichender Umstiegszeit den Anschlussflug nicht erreichte – etwa weil er trödelt, sich trotz ausreichender Informationen verläuft oder trotz ausreichender Hinweise die Boardingzeiten nicht einhält, liegt ebenfalls ein aussergewöhnlicher Umstand vor, der das Luftfahrtunternehmen entlastet. Darlegungs – und beweisbelastet für das Vorliegen eines aussergewöhnlichen Umstandes ist das Luftfahrtunternehmen. Allerdings spricht nach Auffassung der erkennenden Abteilung des Gerichtes der Beweis des ersten Anscheins für ein Eigenverschulden des Fluggastes, wenn das Luftfahrtunternehmen darlegt und beweist, dass der Zubringerflug planmässig landete, die vorgesehene Umstiegszeit dem Fluggast zur Verfügung stand, diese gleich oder über der  Minimum Connecting Time des jeweiligen Flughafens lag (MCT), d.h. der von dem Flughafen garantierten (Mindest-)Zeit, in der ein Umstieg möglich ist und der Fluggast gleichwohl nicht rechtzeitig zum Boarding des Anschlussfluges erschien. Denn in diesem Fall kann sich das Luftfahrtunternehmen darauf berufen, dass typischerweise unter normalen Umständen innerhalb dieses vom Flughafen garantierten Zeitfensters ein Umstieg möglich ist.  Dies gilt auch dann noch, wenn zwar der Zubringerflug verspätet landet, gleichwohl aber die Umstiegszeit noch grösser oder gleich der MCT ist. Dabei ist allerdings weiter zu berücksichtigen, dass die MCT nur den Zeitraum zwischen On Block (Ankunft Parkposition) und Off Block (Verlassen Parkposition) bezeichnet, während es für die tatsächliche Umstiegszeit auf die Zeit zwischen Verlassen des Zubringerfluges  (Öffnen der Türen) und Ende des Boarding ankommt. Ein Anscheinsbeweis kann daher nur dann angenommen werden, wenn die MCT auch noch unter Abzug der Zeiten bis Öffnung der Türen und der Zeiten ab Boarding gewahrt ist. Ist der Beweis des ersten Anscheines gegeben ist es Sache des Fluggastes darzulegen und zu beweisen, dass die Gründe, die zu seiner verspäteten Ankunft am anderen Gate führen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zuzurechnen sind.  Liegt aber die tatsächlich verbliebene Umstiegszeit unter der MCT oder verspätet sich der Zubringerflug so, dass für den Umstieg weniger Zeit als die MCT zur Verfügung stand, so entspricht es nicht mehr einem typischen Geschehensablauf, dass der Fluggast den Anschlussflug hätte erreichen müssen, vielmehr trägt nun das Luftfahrtunternehmen die Darlegungs- und Beweislast, dass der Fluggast in der konkreten Situation den Anschlussflug gleichwohl noch hätte erreichen können. Dabei ist auch von Bedeutung, welche Hinweise und Informationen dem Fluggast in der konkreten Situation zur Verfügung standen bzw. welche Massnahmen von dem Luftfahrtunternehmen ergriffen wurden, um den Fluggast noch das Erreichen des Anschlussfluges zu ermöglichen. Denn ein Eigenverschulden des Fluggastes liegt auch dann vor, wenn er ihm von dem Luftfahrtunternehmen zur Verfügung gestellte Hilfen nicht in Anspruch nimmt.

24. Dies zugrundelegend kann sich die Beklagte vorliegend auf keinen Anscheinsbeweis berufen und hat sie auch nicht substantiiert dargelegt, dass die Kläger den Anschlussflug nach Stuttgart noch hätten erreichen können, also ein Fall des Eigenverschuldens auf Seiten der Kläger vorliegt. Unstreitig war der Zubringerflug der Kläger in Frankfurt um 16:09 Uhr On Block. Weiter ist unstreitig, dass die MCT in Frankfurt 45 Minuten beträgt. Schliesslich ist unstreitig, dass das Boarding für den Anschlussflug am 05.09.2015 um 16:44 Uhr endete. Zu dem Zeitpunkt des Türenöffnens hat sich die Beklagte nicht geäussert. Selbst wenn man vorliegend On block mit dem Zeitpunkt des Türenöffnens gleichsetzen wollte, wäre die MCT im vorliegenden Fall unterschritten, da nur noch 35 Minuten statt 45 Minuten für den Umstieg zur Verfügung standen. Die Beklagte kann sich daher nicht auf einen von den Klägern zu widerlegenden Anscheinsbeweis berufen, dass die Kläger den Anschlussflug hätten erreichen müssen. Dass aber die Kläger am 05.09.2015 um 16:09 Uhr in 35 Minuten von Halle B Gate 23A zu  Halle A Gate 36 hätte kommen müssen, hat die Beklagte bereits nicht substantiiert dargelegt. Soweit sie zu den Wegstrecken vorträgt handelt es sich zum einen um keinen Vortrag den streitgegenständlichen Umstieg betreffend sondern nur um allgemeine Angaben, zum anderen erweist sich der Vortrag aber auch als unvollständig. Für die Strecke von Halle A Gate 13 bis Gate 36 gibt sie bei schneller Fortbewegung 5 Minuten an (Bl. 37 d.A.). Angaben für die Strecke von Halle B Gate 23 A bis Halle A (Bl. 36 d.A.) macht die Beklagte hingegen nicht. Sie berücksichtigt bei ihrer allgemeinen Berechnung auch nicht, dass die Kläger, da aus einem Nicht Schengen Staat einreisend noch eine Pass- und Sicherheitskontrolle durchlaufen mussten. Welche Zeit diese Kontrollen durchschnittlich in Anspruch nehmen, wird genausowenig vorgetragen wie dargelegt wird, wie sich der Andrang an den Kontrollen und der hierbei entstehenden Zeitverlust konkret am 05.09.2015 darstellte. Unabhängig davon, dass die Beklagte damit ihrer Darlegungs- und Beweislast nicht genügte, hat auch die Anhörung des Klägers zu 1.) nach § 141 ZPO gezeigt, dass die tatsächlich vorhandene Umstiegszeit  trotz gehöriger Eile nicht ausreichte, um den Anschluss zu erreichen. Der Kläger zu 1.) hat bekundet, dass die Kläger in dem Flug von Tunis in der 15. Reihe saßen und es etwas dauerte bis man den Zubringerflug verliess. Wie lange genau hat der Kläger zu 1.) nicht sagen können. Er hat den Zeitraum auf vier bis fünf Minuten geschätzt. An der Passkontrolle gab es nach der Erinnerung des Klägers zu 1.) keine  lange Wartezeit, vielleicht 3 bis 4 Minuten. An der Sicherheitskontrolle sei viel los gewesen. Diesen Zeitraum hat der Kläger zu 1.) auf 10 bis 15 Minuten geschätzt. Danach legte man einen „Vollsprint“ mit der Klägerin zu 3.) hin und war um 16:50 Uhr am anderen Gate gewesen. Nach diesen Angaben nahmen bereits das Verlassen des Flugzeuges und die Pass- und Sicherheitskontrolle  ca. 17 bis 24 Minuten in Anspruch. Berücksichtigt man jetzt noch, dass es sich bei 16:09 Uhr nur um die On Block Zeit handelt und berücksichtigt man weiter die Zeit für die Strecke zwischen den Gates von denen die Teilstrecke in Halle A bereits bei Eile 5 Minuten in Anspruch nahm, ist es nachvollziehbar und schlüssig, dass die zur Verfügung stehenden 35 Minuten nicht ausreichten. Soweit die Beklagte sich schließlich darauf beruft, die Umstiegszeit habe durch die Benutzung von „Fast Lanes“ beschleunigt werden können, ist nicht dargelegt, dass diese Möglichkeit den Klägern vorab mit entsprechenden Handlungsanweisungen bekanntgegeben wurde noch ist dargelegt, dass diese Möglichkeit auch konkret am 05.09.2015 bestand. Der Kläger zu 1.) hat in seiner Anhörung bekundet, dass er von dieser Möglichkeit zum damaligen Zeitpunkt nichts wusste. An der Sicherheitskontrolle wurde ihm trotz Hinweises auf den Anschluss erklärt, dass er sich anstellen muss. Dass den Klägern die Informationen des Flughafens Frankfurt zu dem System der Fast Lanes (Bl. 27 d.A.) seitens der Beklagten bekannt gemacht wurden, ist nicht dargelegt. Soweit aber die Beklagte – wie in dem Schriftsatz vom 10.08.2016 dargelegt – keine Möglichkeit sieht Fluggäste bei Unterschreiten der MCT schneller zu ihren Anschlussflügen zu bringen, trägt sie das Risiko, dass Fluggästen wegen des Verpassens des Anschlusses und einer hieraus resultierenden großen Verspätung Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach Art. 5,7 FluggastVO zustehen; denn sie ist diejenige, die die Umstiegszeiten bei der Verbindung von Zubringer- und Anschlussflug plant. Diese Planung hat neben der reinen von den Fluggästen beim Umstieg zurückzulegenden Strecke auch die Zeiten zu berücksichtigen, die im normalen Flugbetrieb Pass- und Sicherheitskontrollen an dem jeweiligen Flughafen in Anspruch nehmen.

25. Liegt somit kein aussergewöhnlicher Umstand gemäss Art. 5 Abs. 3 FluggastVO in Gestalt eines Eigenverschuldens der Kläger vor und ist es der Beklagten zuzurechnen, dass die Kläger den Anschlussflug verpassten, ist die Rechtsfolge, dass jedem der Kläger ein Anspruch auf Ausgleichszahlung zusteht. Der Anspruch besteht aber nur in Höhe von jeweils 250,00 Euro gemäss Art. 7 Abs. 1 lit a) FluggastVO, da die Entfernung nach der Methode der Großkreisentfernung zwischen Tunis und Stuttgart 1.332,03 km beträgt. Entgegen der Ansicht der Kläger kann nicht auf die Summe der Entfernungen zwischen Tunis und Frankfurt (1.482,78 km) und Frankfurt nach Stuttgart (152,71 km), insgesamt 1.635,49 km  abgestellt werden.

26. Nach Art. 7 Abs. 4 FluggastVO werden die Entfernungen in Art. 7, nach denen sich die Höhe der Ausgleichszahlung bestimmt nach der Methode der Großkreisentfernung bestimmt. Eine Begriffsbestimmung der Entfernung enthält die FluggastVO nicht. Die Großkreisentfernung beschreibt die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf einer Kugeloberfläche (Orthodrom). In der Luftfahrt ist dies der Startpunkt und der Zielpunkt. Übertragen auf die Begrifflichkeit der FluggastVO sind dies der Abflugsort und das Endziel. Letzteres ist in Art. 2 lit. h) FluggastVO definiert als der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges. Damit ist hinreichend deutlich, dass es bei der Berechnung der Strecken im Zusammenhang mit Anschlussflügen nicht auf die Umsteigeorte ankommt. Die zwischendurch zurückgelegten Strecken bleiben nach der FluggastVO unbeachtlich, es gilt nur die kürzeste Verbindung zwischen Beginn und Ende der Flugreise. Eine durch Addition der Einzelstrecken erfolgte Erhöhung der Ausgleichszahlung ist auch nicht mit Sinn und Zweck der Ausgleichszahlung in Einklang zu bringen. Ausgeglichen werden sollen die Unannehmlichkeiten, die mit dem durch Verspätungen einhergehenden Zeitverlust. Die Staffelung der Ausgleichszahlung nach Entfernung erfolgte nicht, weil man annahm dass längere Flugstrecken höhere Zeitverluste nach sich ziehen, sondern weil man annahm, dass für längere Flugstrecken höhere Preise zu entrichten sind. Die Höhe der Ausgleichszahlung soll in einem angemessenen Verhältnis zu einem höheren Preisniveau bei längeren Flugstrecken stehen. Dieser Gesichtspunkt trifft bei der Buchung einer aus Zubringer- und Anschlussflug bestehenden Flugreise oft nicht zu. Solche Flüge sind oft günstiger als Direktflüge. Wollte man nun eine Addition zulassen, würde in einer nicht unerheblichen Anzahl von Flugreisen der von der FluggastVO gerade nicht bezweckte Effekt eintreten, dass der günstigere Flug eine höhere Ausgleichszahlung nach sich zieht (LG Landshut, Urteil vom 16.12.2015 – 13 S 2291/15 –  zitiert nach juris).

II.

27. Der Zinsanspruch rechtfertigt sich aus dem Gesichtspunkt des Verzuges gemäß §§ 286, 288 BGB seit dem 16.10.2015 aufgrund der Fristsetzung in dem Anwaltsschreiben vom 08.10.2015.

III.

28. Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 709 ZPO.

IV.

29. Die Berufung wird nach § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO zugelassen, soweit die Klage abgewiesen wurde, da die Frage der Berechnung der Entfernung bei Anschlussflügen höchstrichterlich noch nicht geklärt ist.

30. Streitwert: 1.200,00 Euro

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