Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des Flugpersonals

AG Frankfurt: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des Flugpersonals

Weil sich ihr gebuchter Flug, wegen eines wilden Streiks des Flughafenpersonals, um mehr als 13 Stunden verspätete, fordern Reisende nun eine Ausgleichszahlung im Sinne von Art. 7 der Fluggastrechte Verordnung.

Das Amtsgericht Frankfurt  hat den Klägern Recht zugesprochen. In einem Streik des Personals seien keine haftungsbefreienden außergewöhnlichen Umstände zu sehen. Entsprechend habe die Airline die Reisenden zu  entschädigen.

AG Frankfurt 31 C 3207/16 (83) (Aktenzeichen)
AG Frankfurt: AG Frankfurt, Urt. vom 21.04.2017
Rechtsweg: AG Frankfurt, Urt. v. 21.04.2017, Az: 31 C 3207/16 (83)
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Amtsgericht Frankfurt

1. Urteil vom 21. April 2017

Aktenzeichen 31 C 3207/16 (83)

Leitsatz:

2. Die massenhafte Krankmeldung von Personal als illegale Arbeitskampfmaßnahme zählt zum Unternehmensrisiko einer Fluggesellschaft und ist nicht geeignet, als außergewöhnlicher Umstand von der Ausgleichspflicht bei Verspätung und Annullierung zu befreien.

Zusammenfassung:

3. Flugreisende erreichten bei einem Flug von Frankfurt am Main nach Jerez das Reiseziel mit 13 Stunden Verspätung. Hierfür forderten sie eine Ausgleichszahlung gemäß der europäischen Fluggastrechteverordnung. Die Fluggesellschaft berief sich hingegen auf außergewöhnliche Umstände in Form erheblichen Personalausfalls durch vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit im Rahmen eines wilden Streiks.

Das Amtsgericht Frankfurt gestand den Klägern den Ausgleichsanspruch für die große Flugverspätung zu. Durch die hohe Dauer der Verspätung seien sie Betroffenen eines annullierten Fluges gleichzustellen. Die Beklagte konnte sich nicht von der Entschädigungspflicht befreien, da nur legale, gewerkschaftliche Streiks in der Fluggastrechteverordnung als außergewöhnliche Umstände erfasst werden. Die massenhafte Krankmeldung hingegen sei Teil des Unternehmensrisikos, das die Fluggesellschaft allein zu tragen habe.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 800,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über Basiszinssatz seit 29.11.2016 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des insgesamt zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Die Klägerin begehrt für sich und aus abgetretenem Recht für ihren Ehemann Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: FluggastrechteVO) wegen Verspätung des gebuchten Fluges.

6. Die Klägerin und ihr Ehemann, Herr …, buchte bei der Beklagten einen Flug von Frankfurt am Main nach Jerez. Der Flug mit der Flugnummer X3 2273 sollte planmäßig am 03.10.2016 um 04:45 Uhr starten. Tatsächlich startete das Flugzeug erst mit einer Verspätung von ca. 13 Stunden. Die Klägerin und ihr Ehemann erreichte das planmäßige Endziel Jerez mit einer Verspätung von ca. 13 Stunden.

7. Hintergrund für die Verspätung war, dass das Cockpit- und Kabinenpersonal der Beklagten ab dem 02.10.2016 und bis jedenfalls 10.10.2016 nach der Bekanntgabe von Umstrukturierungsmaßnahmen in Massen unter Einreichen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht zur Arbeit erschienen war.

8. Die Entfernung zwischen Jerez und Frankfurt am Main beträgt nach der Großkreismethode mehr als 1.500 km.

9. Mit Schreiben vom 11.11.2016 forderte der Klägervertreter die Beklagte auf, die Entschädigungszahlung bis zum 28.11.2016 zu zahlen. Dem kam die Beklagte nicht nach.

10. Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von EUR 800,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über Basiszinssatz seit 29.11.2016 zu zahlen;

die Beklagte zu verurteilen, an die die Klägerin außergerichtliche Nebenkosten in Höhe von EUR 147,56 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

11. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12. Die Beklagte ist der Ansicht, das ihr Cockpit- und Kabinenpersonal massenweise im Zeitraum vom 02.10.2016 bis 10.10.2016 nicht zu Arbeit erscheinen sei, begründe als „wilder Streik“ einen „außergewöhnlichen Umstand“ der Flugverspätung, der zur Leistungsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO führe.

13. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

14. Die zulässige Klage hat in der Sache zum überwiegenden Teil Erfolg.

I.

15. Der Klägerin steht ein Anspruch in Höhe von EUR 800,00 gemäß Artikel 7 Absatz 1 Satz 1 lit. b) der FluggastrechteVO zu.

16. Voraussetzungen für den Anspruch auf Ausgleichszahlung in Höhe von EUR 400,00 nach der FluggastrechteVO sind die Verspätung eines Fluges i.S.v. Art. 6 Abs. 1 lit. b), eine Entfernung des planmäßigen Fluges von mehr als 1.500 km und das Fehlen eines Ausschlussgrundes i.S.v. Artikel 5 Absatz 3 der FluggastrechteVO. Diese Voraussetzungen sind liegen hier vor.

1.

17. Die Klägerin und ihr Ehemann erreichten ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit.

18. Nach Artikel 5 Absatz 1 lit. c) der FluggastrechteVO haben Fluggäste bei Annullierung eines Fluges gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einen Anspruch auf Ausgleichsleistung nach Artikel 7 FluggastrechteVO. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs ist Artikel 5 Absatz 1 lit. c) FluggastrechteVO analog anwendbar, wenn Fluggäste ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit erreichen (EuGH, 19.11.2009 – C-402/07 und C-432/07; BGH, 18.02.2010 – BGH Xa ZR 95/06).

2.

19. Nach Artikel 7 Absatz 1 Satz 1 lit. b) FluggastrechteVO beträgt die Ausgleichszahlung jeweils EUR 400,00. Denn die Entfernung zwischen Jerez und dem Endziel Frankfurt am Main beträgt nach der Großkreismethode mehr als 1.500 km.

3.

20. Die Beklagte kann sich vorliegend nicht erfolgreich auf den Wegfall der Entschädigungspflicht gemäß Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO berufen.

21. Soweit die Beklagte vorträgt, Grund für die Flugannullierung sei eine Krankmeldungswelle am streitgegenständlichen Flugtag gewesen, an der sich ein erheblicher Teil des Cockpit- und Kabinenpersonal beteiligt habe, kann der Vortrag als wahr unterstellt werden, da ein „außergewöhnlicher Umstand“ i.S.v. Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO nach Auffassung des Gerichts auch in diesem Fall nicht anzunehmen ist.

22. Voraussetzung der Ausnahmevorschrift des Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO ist, dass außergewöhnliche Umstände für die Annullierung vorliegen, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Der Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ ist weder in Artikel 2 FluggastrechteVO, der verschiedene Begriffsbestimmungen enthält, noch in sonstigen Vorschriften der Verordnung definiert. Inhalt und Reichweite des Tatbestands sind daher durch Auslegung des Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO zu ermitteln (BGH, 21.08.2012 – X ZR 138/11). Nach seinem Wortlaut verlangt Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO, dass die gegebenenfalls zu einem Wegfall der Ausgleichspflicht führenden Umstände außergewöhnlich sind, das heißt nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es sollen Ereignisse erfasst werden, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als – jedenfalls in der Regel von außen kommende – besondere Umstände seine ordnungs- und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können (BGH, 12.06.2014 – X ZR 121/13). Im Übrigen können nach dem Erwägungsgrund 14 der Verordnung außergewöhnliche Umstände insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwartete Flugsicherheitsmängel und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

23. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich bei der im Zeitraum vom 02.10.2016 bis 10.10.2016 erfolgten Arbeitsniederlegung der Mitarbeiter durch (massenhafte) Krankmeldungen nicht um einen von dem Erwägungsgrund der Verordnung erfassten „Streik“. Die Arbeitsniederlegung aufgrund Erkrankung ist vielmehr der Risikosphäre der Beklagten zuzuordnen (so auch AG Frankfurt a.M., 03.03.2017 – 31 C 117/17; AG Erding, 20.03.2017 – 13 C 3778/16).

24. Das Gericht legt Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO so aus, dass die Verordnungsgeber bei der Verwendung des Begriffs „Streik“ in dem Art. 5 Abs. 3 präzisierenden Erwägungsgrund 14 den Streikbegriff der unionsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit gem. Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zugrunde gelegt haben. Nach Artikel 28 haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen. Geschütze Streiks sind danach ausschließlich gewerkschaftlich organisierte Streiks. Im Rahmen derartiger organisierter Streiks zwischen Tarifparteien kann regelmäßig eine außergewöhnliche Umstände ausschließende Beherrschbarkeit der Situation nicht angenommen werden (BGH, 21.08.2012 – X ZR 138/11, Rn. 20). Ein Streik im Sinne von Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union liegt hier aber – unstreitig – nicht vor, denn die Arbeitsniederlegung in Form der Krankschreibungen war keine rechtmäßige Arbeitskampfmaßnahme und schon nicht von einer Gewerkschaft aufgerufen und initiiert.

25. Diese für organisierte Streiks entwickelten Grundsätze sind nach Auffassung des Gerichts auf sog. „wilde Streiks“ in Form von massenhaften Krankmeldungen nicht übertragbar (so auch AG Erding, 20.03.2017 – 13 C 3778/16). Es dürfte nicht von den Verordnungsgebern bezweckt sein, jegliche Formen von „Mitarbeiteraufständen“ als „außergewöhnlichen Umstand“ zugunsten der Luftfahrtunternehmen zu behandeln. Würde das Gericht vorliegend einen Leistungsanspruch wegen der Annahme außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 der FluggastrechteVO ablehnen, bestünde die Gefahr, dass sich zukünftig die Luftfahrtunternehmen bei jeglichen Krankmeldungswellen auf den Entlastungsgrund des Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO berufen könnten. Hier stellt sich für das Gericht die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist. Ab welcher Anzahl von Kranschreibungen ist davon auszugehen, dass der Betrieb „lahm gelegt“ ist. Liegt diese Grenze bei Ausfällen von 50 %, 70 %, 80 %, 89 % oder gar schon bei 40 % der Besatzung? Eine solche Rechtsunsicherheit ist mit dem Verständnis des restriktiv auszulegenden Artikel 5 Absatz 3 FluggastrechteVO nicht vereinbar.

26. Wie oben bereits ausgeführt, unterliegt ein sog. „wilder Streik“ nicht dem geschützten Anwendungsbereich der Grundrechtscharta. Zur Wahrung des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Rechtsordnung, stellt ein „wilder Streik“ nach Auffassung des Gerichts somit auch keinen von der FluggastrechteVO umfassten „außergewöhnlichen Umstand“ dar.

27. Ursächlich für die Arbeitsniederlegung waren vorliegend unternehmenspolitische Entscheidungen der Beklagten. Sofern deren Mitarbeiter als Reaktion/Protest hierauf ihren arbeitsvertraglichen Pflichten nicht mehr nachkommen, ist dies ein Umstand, der ausschließlich der innerbetrieblichen Sphäre der Beklagten entstammt und damit ihrem Herrschafts- bzw. Einflussbereich unterliegt (so auch AG Frankfurt a.M., 03.03.2017 – 31 C 117/17). Ein Abwälzen dieses Risikos auf die betroffenen Fluggäste erscheint vor dem Hintergrund, dass die FluggastrechteVO ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherstellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen Rechnung tragen soll, unbillig.

II.

28. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 Absatz 1 BGB.

29. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Begleichung der vorgerichtlichen Rechtanwaltskosten nicht zu. In diesem Umfang war die Klage abzuweisen.

30. Die Klägerin hat keinen Anspruch gem. §§ 286, 288 Absatz 1 BGB. Zum Zeitpunkt des Tätigwerdens des jetzigen Prozessbevollmächtigten der Kläger befand sich die Beklagte nicht in Verzug. Dem steht auch nicht entgegen, dass es die Beklagte unterlassen hat, die Klägerin über die FluggastrechteVO zu informieren. In der heutigen Zeit werden die Fluggäste aus vielen anderen Quellen (Internet, Fernsehwerbung, etc.) über ihre Rechte bei Flugverspätungen informiert. Einer gesonderten Information gem. Artikel 14 FluggastrechteVO bedarf es daher nach Auffassung des Gerichts nicht.

31. Der geltend gemachte Anspruch steht der Klägerin auch nicht als weiterer Schadensersatz aus § 249 Absatz 1 BGB zu. Denn bei der eingeklagten Hauptforderung, der Ausgleichszahlung, handelt es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch. Vielmehr stellt ein solcher Ausgleichsanspruch gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs aus dem Blickwinkel des deutschen Rechts einen Fremdkörper dar, weil die Ausgleichzahlung selbst dann gewährt wird, wenn überhaupt kein oder lediglich ein geringer Schaden eingetreten ist (AG Berlin-Charlottenburg, 17.01.2014 – 234 C 237/13).

III.

32. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nummer 11, § 711 ZPO.

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