Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit des Flugpersonals

AG Frankfurt: Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit des Flugpersonals

Ein Reisender buchte bei einer Airline einen Linienflug. Weil dieser, aufgrund von streikendem Bodenpersonal, annulliert wurde, veralangt er nun eine Ausgleichszahlung.

Das Amtsgericht Frankfurt hat dem Kläger Recht zugesprochen. In dem ursächlichen wilden Streik durch massenhafte Krankmeldung des Personals sah das Gericht keine außergewöhnlichen Umstände, sondern ein normales Betriebsrisiko, das die Beklagte zu tragen habe.

AG Frankfurt 31 C 117/17 (16) (Aktenzeichen)
AG Frankfurt: AG Frankfurt, Urt. vom 03.03.2017
Rechtsweg: AG Frankfurt, Urt. v. 03.03.2017, Az: 31 C 117/17 (16)
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Amtsgericht Frankfurt

1. Urteil vom 3. März 2017

Aktenzeichen 31 C 117/17 (16)

Leitsatz:

2. Unerwarteter Personalsausfall ist ein Unternehmensrisiko und kein außergewöhnlicher Umstand.

Zusammenfassung:

3. Flugreisende forderten eine Ausgleichszahlung aufgrund einer eintägigen Flugverspätung eines Fluges nach Fuerteventura. Die Fluggesellschaft versuchte, sich von der Ausgleichspflicht zu befreien, indem sie auf vorgetäuschte Krankheit eines großen Teils des Personals als außergewöhnlichen Umstand hinwies.

Das Amtsgericht Frankfurt verurteilte die Beklagte zur Zahlung. Außergewöhnliche Umstände lagen nach Auffassung der Kammer nicht vor, da es sich bei der massenhaften Krankmeldung nicht um eine legale Arbeitskampfmaßnahme handelte und Personalausfall, wenngleich nicht beherrschbar und unerwartet, die Verwirklichung eines Unternehmensrisikos darstellte. Die Fluggesellschaft trage die Verantwortung dafür, Personal zu beschäftigen, das vertragswidriges Verhalten aufweise.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an jede klagende Partei 400,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über Basiszinssatz seit 01.11.2016 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des insgesamt zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils klagende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Der Kläger machen gegen das beklagte Luftfahrtunternehmen mit Sitz in Deutschland Ausgleichsansprüche aus der Fluggastrechteverordnung (EGV 261/2004) wegen erheblicher Ankunftsverspätung geltend.

6. Die Kläger waren gebuchte Passagiere auf dem von der Beklagten zu verantwortenden und von ihr durchzuführenden Flug von Frankfurt am Main nach Fuerteventura, geplant am 03.10.2016, mit der Flugnummer X3 2138, planmäßiger Abflug 12.50 Uhr und planmäßige Ankunft 16.25 Uhr. Tatsächlich erreichten die Kläger Fuerteventura erst am 04.10.2016 um 13.05 Uhr. Grund für die Verspätung war, dass Cockpit- und Kabinenpersonal der Beklagten ab dem 02.10.2016 und bis jedenfalls 10.10.2016 in Scharen unter Einreichen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit erschienen war, um die Beklagte zur Aufgabe betrieblicher Umstrukturierungsmaßnahmen zu zwingen.

7. Vorgerichtich forderten die Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis 31.10.2016 erfolglos zur Zahlung auf.

8. Die Kläger beantragen,

wie erkannt.

9. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10. Die Beklagte ist der Ansicht, dass ihr Cockpit- und Kabinenpersonal massenweise im Zeitraum vom 02.10.2016 bis 10.10.2016 unter Vortäuschung von Arbeitsunfähigkeit nicht zu Arbeit erscheinen sei, begründe einen „außergewöhnlichen Umstand“ der Flugverspätung, der zur Leistungsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3 EGV 261/2004 führe. Wegen Einzelheiten wird auf die Klageerwiderung nebst Anlagen verwiesen.

11. Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 03.03.2017 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

12. Die Klage ist in vollem Umfang begründet.

13. Die Kläger haben gegen die Beklagte jeweils einen Ausgleichsanspruch in Höhe von 400,00 EUR nach Artikel 7 EGV 261/2004. Nach der Rechtsprechung des EuGH haben auch Fluggäste verspäteter Flüge einen Ausgleichsanspruch nach Artikel 7 EGV 261/2004, wenn sie – wie hier – wegen der Verspätung einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden (EuGH, Urt. v. 19.11.2009 – Rs. C-402/07 -, Tenor Ziffer 2).

14. Die Beklagte ist von ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichsleistungen auch nicht nach Artikel 5 Absatz 3 EGV 261/2004 freigeworden. Die Verspätung ging hier nicht auf „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Verordnung zurück. Dies wäre nur der Fall, wenn sie auf Vorkommnisse zurückging, die aufgrund der Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind (EuGH, Urt. v. 22.12.2008 – Rs. C-549/07 -, juris, Abs.-Nr. 26). Ziel des strengen Artikel 5 EGV 261/2004 ist, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen Rechnung zu tragen, da die Annullierung – und entsprechend die gravierende Verspätung – von Flügen für die Fluggäste ein Ärgernis ist und ihnen große Unannehmlichkeiten verursacht (EuGH, Urt. v. 22.12.2008 – Rs. C-549/07 -, juris, Abs.-Nr. 18 ff.).

15. Gemessen hieran kommt eine Leistungsfreiheit nicht in Betracht. Beim unerwarteten Ausfall von Flugpersonal liegt kein Fall vor, den die Verordnung überhaupt mit der Beschreibung eines „außergewöhnlichen“ Umstands erfassen wollte; im Ausfall von Personal verwirklicht sich vielmehr Unternehmerrisiko (vgl. AG Frankfurt am Main, Urt. v. 20.05.2011 – 31 C 245/11 – juris). Anhaltspunkte dafür, dass die Verordnung dieses Unternehmerrisiko auf die Fluggäste verlagern wollte – mit der Folge der Leistungsfreiheit des Luftfahrtunternehmens – sind nicht ersichtlich und ergeben sich weder aus Wortlaut, noch aus Zielrichtung oder Entstehungsgeschichte der Verordnung (ebenso: AG Frankfurt am Main, ebd.; AG Rüsselsheim, Urt. v. 25.08.2010 – 3 C 109/10 -, juris, Abs.-Nr. 20 ff.; AG Rüsselsheim, Urt. v. 17.09.2010 – 3 C 598/10 -, juris, Abs.-Nr. 15; in diese Richtung wohl auch, letztlich aber offen lassend: BGH, Urt. v. 18.03.2010 – Xa ZR 95/06 -, juris, Abs.-Nr. 16). Konsequent kennen denn auch Verordnung und Judikatur als einzigen Fall des Personalausfalls, der eine Leistungsfreiheit unter Umständen zu begründen vermag, den Streik als Arbeitskampfmaßnahme (was letztlich dem Gebot der Widerspruchsfreiheit zu verdanken ist, denn legale Arbeitskampfmaßnahmen unterfallen der auch unionsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit).

16. Ein Streik im technischen Sinne und im Sinne von Erwägungsgrund 14 EGV 261/2004 liegt aber hier – unstreitig – nicht vor, denn das Ereignis war keine legale Arbeitskampfmaßnahme und schon nicht durch einen Aufruf von Arbeitnehmervertretungen initiiert.

17. Die massenweise Vortäuschung von Arbeitsunfähigkeit durch unzuverlässiges Personal ist auch kein dem Streik gleichzustellendes Ereignis. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ausnahmetatbestand des Streiks im Sinne von Erwägungsgrund 14 nach allgemeinen Grundsätzen eng auszulegen ist. Dies verbietet es, jedes Ereignis, das – wie das vorliegende – in seinen Konsequenzen streikähnliche oder gar streikgleiche – Wirkung zeigt – hier: Aufgabe betrieblicher Umstrukturierungsmaßnahmen seitens des Arbeitsgebers – einem Streik gleichzustellen, um dem Unternehmen die Berufung auf Leistungsfreiheit im Verhältnis zu den Passagieren zu ermöglichen.

18. Der im konkreten Fall eingetretene Ausfall von Personal fällt vielmehr in die gewöhnliche Fallgruppe „Ausfall von Personal“, die Unternehmerrisiko ist und bleibt. Dass der Ausfall des Personals in unerwarteter Massivität auftrat, ändert an der Beurteilung ebenso wenig etwa wie die Tatsache, dass der Ausfall des Personals in dieser Dimension für die Beklagte „unvorhersehbar“ gewesen sein mag. Nicht jeder Umstand, der den Arbeitgeber „überrascht“, ist „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne der Verordnung: Die – hier bei der Beklagten zu diagnostizierende – ganz gravierende Fehleinschätzung des eigenen Personals in Sachen Vertragstreue, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit und Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber trifft (wie übrigens auch Auswahl und Beschäftigung von derart unzuverlässigem Personal [mag auch dieser Befund für die Beklagte überraschend und damit „außergewöhnlich“ sein]) ebenso den ureigenen Verantwortungsbereich des Unternehmers wie eine – nach dem Vortrag der Beklagten ebenfalls hier vorliegende – Organisation von Betriebsabläufen, bei welcher sich der Unternehmer/Arbeitgeber von einzelnen betrieblichen Beschäftigtengruppen (hier: Cockpit- und Kabinenpersonal) in einer Weise abhängig macht, dass eine – wie hier -von diesen Gruppen gemeinschaftlich begangene Nötigung des Arbeitgebers zum Erliegen nicht nur einzelner betrieblicher Abläufe, sondern des gesamten Kerngeschäfts führt. Ein Grund, diese Unternehmensrisiken – Beschäftigung unzuverlässigen Personals, Straftaten des Personals gegenüber dem Arbeitgeber und Unterhalten und Organisation eines Geschäftsbetriebs unter Einbindung von Beschäftigtengruppen mit erheblichem Druck-(oder Nötigungs-)Potential – dem Passagier aufzubürden, besteht nicht und lässt sich insbesondere nicht dadurch herstellen, dass man das vorliegende Ereignis als „wilden Streik“ zu charakterisieren führt. Denn letztlich ist diese beschönigende (und im Arbeitsrecht einer anderen Fallgruppe [Pflichtverletzungen im Rahmen grundsätzlich legaler Arbeitskampfmaßnahmen] vorbehaltene) Umschreibung der untaugliche Versuch, die wirtschaftlichen Folgen einer gemeinschaftlich von einem Großteil des Personals begangenen Nötigung zum Nachteil des eigenen Arbeitgebers (nebst massenhafter Verletzung von Kardinalpflichten aus dem jeweiligen Arbeitsvertrag) auf die Passagiere abzuwälzen. Dem Ergebnis lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die Beklagte mit den wirtschaftlichen Folgen solcher Rechtsanwendung derart überfordert sei, dass dies die Rechtsanwendung selbst in Frage stellen könnte: Mag die Beklagte, die sich zu arbeits- und strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Verursacher des Einbruchs des Geschäftsbetriebs im Prozess nicht verhalten hat, Regress nehmen bei den für den massenhaften Arbeitsausfall Verantwortlichen (die nach dem Vortrag der Beklagten namentlich unter den (aktiven) Teilnehmern, jedenfalls den Administratoren, der geschlossenen Kommunikationsgruppen in den so genannten „sozialen Netzwerken“ zu finden sein dürften).

19. Ob der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21.08.2012 – BGH X ZR 146/11 – (zitiert nach juris) zu entnehmen ist, dass auch ein (dort – Abs.-Nr. 22 – nicht weiter definierter) „wilder Streik“ zur Leistungsfreiheit führen kann, mag bis zu einer Entscheidung des EuGH dahinstehen: Die Historie von Auslegung und Anwendung der EGV 261/2004 ist auch eine Historie fortwährender Korrektur belegt, dass die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Fluggastrechteverordnung in zentralen Punkten immer wieder Korrekturen durch den EuGH hat erfahren müssen.

20. Der Anspruch auf Zinsen beruht auf Verzug, nachdem die der Beklagten vorgerichtlich gesetzte Zahlungsfrist am 31.10.2016 abgelaufen ist.

21. Die Entscheidung zu den Kosten beruht auf § 91 Absatz 1 Satz 1 ZPO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nummer 11, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.

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