Annullierter Flug nach Mailand

LG Potsdam: Annullierter Flug nach Mailand

Ein Fluggast erreichte in erster Instanz die Erstattung von Mehrkosten für eine Ersatzbeförderung aufgrund einer Annullierung des von ihm gebuchten Linienfluges. Durch seine Berufung strebte er zusätzlich eine Ausgleichszahlung an.

Das Landgericht Potsdam hat die Klage abgewiesen. Die erstattungsfähigen Kosten seien bereits auf den ihm in erster Instant gewähren Anspruch angerechnet worden.

LG Potsdam 13 S 24/11 (Aktenzeichen)
LG Potsdam: LG Potsdam, Urt. vom 18.08.2012
Rechtsweg: LG Potsdam, Urt. v. 18.08.2012, Az: 13 S 24/11
AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 03.01.2011, Az: 20 C 267/10
AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 08.12.2010, Az: 9 C 274/10
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Landgericht Potsdam

1. Urteil vom 15. August 2012

Aktenzeichen 13 S 24/11

Leitsatz:

2. Bei ausgleichsfähigen Schlechtleistungen im Rahmen eines Luftbeförderungsvertrages hat der geschädigte Passagier die Wahl zwischen einer pauschalisierten Ausgleichszahlung und der Erstattung errechneter Schäden.

Zusammenfassung:

3. Ein Flugreisender erfuhr erst am Flughafen von der Annullierung seines Fluges und organisierte selbst eine Ersatzbeförderung, um rechtzeitig die anzutretende Kreuzfahrt zu erreichen. Für die Mehrkosten verlangte er Schadensersatz, sowie Ausgleichszahlung gemäß der europäischen Fluggastrechteverordnung. Nach einem Teilanerkenntnis durch die beklagte Fluggesellschaft wurden ihm die errechneten Mehrkosten erstattet.

Mit seiner Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil verfolgte der Kläger, zusätzlich zum Schadensersatz die Ausgleichszahlung für Verspätung und Annullierung zu erhalten. Er vertrat die Ansicht, dass die Anrechnung von Schadensersatzansprüchen auf die allgemeinen Ausgleichsansprüche gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoße.

Das Landgericht Potsdam wies die Berufung zurück. Dem Augleichsanspruch des Klägers sei durch die Erstattung der errechneten Mehrkosten bereits Genüge getan. Ein weitergehender Ausgleichsanspruch stehe ihm nicht zu, da die Fluggastrechteverordnung keinen Strafcharakter wider Fluggesellschaften, sondern Genugtuungsfunktion für Fluggäste habe. Daher liege auch kein Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens vor, wenn Ausgleichsansprüche mit Schadensersatzleistungen verrechnet werden.

Tenor:

4. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Königs Wusterhausen vom 8. Dezember 2010 – 9 C 274/10 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass hinsichtlich der im Tenor der amtsgerichtlichen Entscheidung ausgeworfenen Kostenentscheidung die Beklagte die durch ihre Säumnis entstandenen Kosten alleine trägt.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Kläger auferlegt.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des jeweils beizutreibenden Betrags vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf 921,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

5. (abgekürzt gemäß § 540 Absatz 1 Nr. 1 ZPO)

6. Die Parteien streiten um Ausgleichansprüche nach Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs – und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (VO).

7. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

8. Der Kläger, seine Ehefrau und der gemeinsame Sohn buchten bei der Beklagten einen Flug vom Airport Berlin-Schönefeld nach Mailand/Malpensa. Der für den 27.03.2010, 06:35 Uhr UTC gebuchte Flug mit der Flugnummer EZY 4673 wurde von der Beklagten annulliert; hiervon erfuhr der Kläger mit seiner Familie erst bei Eintreffen am Flughafen. Um die gebuchte Kreuzfahrt ab Genua ab dem 27.03.2010 zu erreichen, haben der Kläger und seine Familie Aufwendungen für einen Ersatzflug etc. gehabt, die die Beklagte mit Ausnahme eines Teils an Bahnkosten und den Kosten eines Mietwagens in diesem Rechtsstreit durch Abgabe eines Anerkenntnisses dem Grunde und der Höhe nach akzeptiert hatte. Hinsichtlich der Mietwagenkosten hat der Kläger, der die Forderungen und Ausgleichsansprüche für sich und nach Abtretung auch für seine Familie geltend gemacht hat, die Klage schon in erster Instanz (54 €) zurückgenommen; hinsichtlich des hälftigen Anteils an Kosten für die Bahnfahrt von Mailand nach Rom (171 €) hat der Kläger die Klage insoweit auch in der Berufungsinstanz zurückgenommen.

9. In erster Instanz hat das Amtsgericht die Beklagte entsprechend ihrem Anerkenntnis durch Teil-Anerkenntnis-Urteil vom 14.09.2010 (Bl. 48 f GA) zur Zahlung von 1.335,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Juni 2010 sowie zur Zahlung von 186,24 € an außergerichtlichen Kosten verurteilt. Gegen die zum Termin am 20.10.2010 trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschiene Beklagte war auf Antrag des Klägers ein Teil-Versäumnis- und Schlussurteil über den Restbetrag in Höhe von 975,00 € erlassen worden.

10. Auf rechtzeitig eingelegten Einspruch der Beklagten hat das Amtsgericht das Teil-Versäumnis-Urteil aufgehoben und die weitergehende Klage durch das in der Berufungsinstanz zur Überprüfung anstehende Schlussurteil abgewiesen. Zur Begründung hat das Amtsgericht, soweit es allein um die anstehende Rechtsfrage der Anrechnung von Ausgleichszahlungen nach Art. 5 Abs. 1 lit c) in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 lit a) Fluggast-VO nach geltend gemachten Schadensersatzansprüchen des Fluggastes im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Fluggast-VO geht, ausgeführt, dass dem Kläger kein weitergehender Anspruch auf Zahlung von 750 € zustehe, weil sich die Beklagte zu Recht auf die Anrechnungsvorschrift des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO berufen könne. Nach allgemeiner Ansicht handele es sich bei der in Art. 7 Abs. 1 FluggastVO geregelten Ausgleichszahlung um eine Form des pauschalierten Schadensersatzes, der im Schrifttum und in der Rechtsprechung so auch anerkannt werde. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Fluggesellschaft einen zusätzlichen Betrag zu dem konkreten Schaden bedienen solle. Dies ergebe sich aus der Stellungnahme der EU-Kommission vom 11.08.2003, aus der hervorgehe, dass die Anrechnungsvorschrift des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 erhalten bleiben solle, um die Leistung doppelten Schadensersatzes durch den Luftfahrtbeförderer zu verhindern. Der Verordnungsgeber habe die in Art. 7 Abs. 1 FluggastVO geregelten Ausgleichbeträge nicht als immateriellen Schadensersatz geregelt. Die konkret berechneten Kosten des Ersatzfluges und der Anschlussbeförderung bildeten Ansprüche in Form eines weitergehenden Schadensersatzanspruchs, der nicht aus der Fluggastverordnung zu entnehmen sei, so dass die Anrechnungsklausel des Art. 12 Abs. 1 FluggastVO greife. Dies ergebe sich daraus, dass ein Anspruch auf Erstattung von Kosten für einen Passagier, der sich selbst eine alternative Beförderung organisiert, nicht nach Art. 8 Abs. 1 FluggastVO gegeben sei, zumal dieser Artikel lediglich die Bereitstellung eines Ersatzfluges durch den vertraglich gebundenen Luftfahrtbeförderer regele.

11. Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger allein noch den nicht gewährten Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Fluggast-VO, nachdem er die Klage wegen der Nichtgewährung des Ersatzes der weiteren Bahnkosten in Höhe von 171 € zurückgenommen hat. Er rügt die aus seiner Sicht fehlerhafte Auslegung des § 242 BGB, des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastVO und des europarechtlichen Effizienzgebotes. Die in dem angefochtenen Urteil vorgenommene Verrechnung der Ausgleichsleistung auf die Schadensersatzansprüche verstoße gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens. Im Falle der Annullierung sei das Luftfahrtunternehmen weiterhin zur Beförderung der Fluggäste verpflichtet. Dieser Verpflichtung sei die Beklagte – wie dies bereits in erster Instanz darlegt – nicht nachgekommen. Für den Anspruch auf Ersatz der dadurch entstandenen Kosten brauche der Kläger die Verordnung nicht, die Beklagte schulde Ersatz wegen Verletzung ihrer Beförderungspflicht aus §§ 631, 280, 249 BGB. Daneben gewähre ihm die Verordnung die Ausgleichszahlung, wie sich dies aus dem Erwägungsgrund 12 ergebe. Die Ausgleichszahlung solle nämlich die Luftfahrtunternehmen dazu anhalten, die drei in der Verordnung genannten Leistungsstörungen zu vermeiden. Die als Sanktion für Verstöße angedrohte Zahlungspflicht solle das von der Verordnung beanstandete bisherige Verhalten der Luftfahrtunternehmen verändern. Es handele sich um eine (gesetzliche) Vertragsstrafe.

12. Dieser Erwägungsgrund werde durch die im angefochtenen Urteil vorgenommene Anrechnung übergangen. Wenn der Fluggast nach Annullierung seine Reisepläne aufgebe und nach Hause gehe, habe er einen Anspruch auf Ausgleichszahlung, den er verliere, wenn er Weiterbeförderung wolle und selbst bezahle, weil das Luftfahrtunternehmen neben Annullierung einen weiteren Vertragsbruch begehe, indem es diese Leistungen nicht anbiete. Die Wirkung der Anrechnungsklausel sei höchstrichterlich nicht geklärt und erfolge in der Rechtsprechung unterschiedlich. Die Zulassung der Revision sei deshalb geboten, falls die Berufung erfolglos bleibe.

13. Der Kläger beantragt,

1.

unter Abänderung des am 08.12.2010 verkündeten Urteils des Amtsgerichtes Königs Wusterhausen, Az.: 9 C 274/10 die Beklagte zu verurteilen, an den ihn weitere 750,00 € nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2010 sowie (eine weitere Geschäftsgebühr in Höhe von) 124,95 € zu zahlen;

2.

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

14. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

15. Im Wesentlichen verteidigt sie das erstinstanzliche Urteil. Zu Recht habe es entschieden, dass dem Kläger keine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Verordnung zustehe und die Beklagte sich insoweit auf die Anrechnungsmöglichkeit gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung berufen könne. Bei der Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung handele es sich nicht um eine Vertragsstrafe. Dies widerspreche der überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung. Danach handele es sich bei der Ausgleichszahlung um einen pauschalierten Schadensersatz. Die Kosten einer anderweitigen Beförderung stellten einen weitergehenden Schaden im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung dar mit der Folge der Anrechnung auf die Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Fluggast-VO. Das europarechtliche Effizienzgebot erfordere es nicht, dem Passagier zusätzlich zum Ersatz eines konkreten Schadens in jedem Fall die Beträge gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung zu gewähren. Mit der Ausgleichszahlung habe dem Passagier ein leicht durchzusetzendes Mittel an die Hand gegeben werden sollen, um seinen Schaden geltend zu machen, ohne einen solchen aufwendig nachweisen zu müssen. Dieses Ziel gebiete es jedoch nicht, den Passagier zu bereichern. Letzteres wäre die Folge, wenn die Anrechnung nicht möglich wäre. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung räume nach allgemeiner Meinung nicht dem Gericht, sondern nur dem ausführenden Luftfahrtunternehmen die Entscheidung darüber ein, ob angerechnet werde. Sie behauptet, für Passagiere, deren Flug annulliert worden sei, bestehe über das Internet die Möglichkeit, ihren Flug auf den nächstmöglichen umzubuchen. Auf dem Flughafen würden sie per Handzettel darüber informiert, dass ein anderer Flug gebucht werden könne. Dies gehe auch an den „Check in“-Schaltern. Sie meint, der Kläger habe schon in erster Instanz nicht substantiiert dargelegt, dass ihm keine anderweitige Beförderung nach Art. 8 Abs. 1 lit. b) oder c) der Verordnung angeboten worden sei.

Entscheidungsgründe:

I.

16. Das Rechtsmittel der Berufung des Klägers ist das statthafte Rechtsmittel gegen das Endurteil des Amtsgerichts (§ 511 ZPO). Das Rechtsmittel ist zulässig, da es innerhalb der gesetzlichen Notfrist von einem Monat ab Zustellung bei dem Landgericht form- und fristgerecht eingegangen und formgerecht begründet worden ist (§§ 517, 520 Absatz 2 ZPO) und die Beschwer die Berufungssumme von 600 € (§ 511 Absatz 2 Nr. 1 ZPO) übersteigt.

II.

17. Die Berufung des Klägers ist, soweit er nach Rücknahme des weiteren Schadensersatzbetrages in Höhe von 171 € in der Berufungsinstanz nur noch den Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 1 i. V. m. Art. 7 Abs. 1 lit. a) der Fluggast-VO verfolgt, unbegründet.

18. Dem Kläger steht nämlich im vorliegenden Fall nach erfolgter Regulierung seines konkret berechneten Schadens kein weitergehender Ausgleichsanspruch gegen die Beklagte für den annullierten Flug EZY 4673 am 27.03.2010, 06.35 Uhr von Berlin-Schönefeld (SFY) nach Mailand-Malpensa in Höhe von je 250 € zu.

19. Zwar liegen die Voraussetzungen des Art. 7 EGV 261/2004 für die Gewährung eines Ausgleichsanspruchs grundsätzlich vor. Unstreitig wurde der Flug annulliert und die Beklagte hat sich auch nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung exkulpiert, so dass die von der Annullierung betroffenen Fluggäste – der Kläger, seine Ehefrau und der Sohn – gemäß Art. 7 Abs. 1 EGV 261/2004 eine Ausgleichszahlung erhalten. Jedoch steht dem Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) Sinn und Zweck der (EU)-VO 261/2004 entgegen, nachdem der Kläger, seine Ehefrau und der Sohn von ihrem Wahlrecht der konkreten Berechnung ihrer Aufwendungen Gebrauch gemacht haben und die Beklagte die konkreten Schadensposten anerkannt hat und ihre Zahlungspflicht durch das rechtskräftige Teil-Anerkenntnis-Urteil des Amtsgerichts tituliert worden ist.

1.

20. Wie der EuGH in seinem Urteil vom 13.10.2011 (Rodriguez u. a. ./. Air France -C 83/10, NJW 2011, NJW Jahr 2011 Seite 3776) ausgeführt hat (dort Rn. 43), gelten Forderungen der Fluggäste, die auf den ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechten – wie den in Art. 8 und 9 genannten – beruhen, nicht als „weiter gehender“ Schadenersatz im Sinne der Definition der Norm (Rn. 38). Aus Art. 1 und 12 der Verordnung geht nämlich hervor, dass die den Fluggästen auf der Grundlage von Artikel 12 der Verordnung Nr. 261/2004 gewährte Ausgleichsleistung die Durchführung der in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen ergänzen soll, so dass den Fluggästen der gesamte Schaden, der ihnen durch die Verletzung der vertraglichen Pflichten des Luftfahrtunternehmens entstanden ist, ersetzt wird. Diese Bestimmung ermöglicht es dem nationalen Gericht, das Luftfahrtunternehmen zum Ersatz des den Fluggästen wegen der Nichterfüllung des Luftbeförderungsvertrags entstandenen Schadens auf einer anderen Rechtsgrundlage als der Verordnung Nr. 261/2004 zu verurteilen, d. h. insbesondere unter den Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal oder des nationalen Rechts. Art. 12 der (EU-)VO bildet hierfür keine Anspruchsgrundlage (dort Rn. 42). Aus den Äußerungen des EuGH folgt aber nicht, dass der Fluggast über den von ihm gewählten und konkret dargelegten Schadensbetrag eine darüber hinaus wirkende Leistung und damit ein Mehr erhalten soll, als er infolge der Verletzung der dem Luftfahrtunternehmen angesichts der Nichtausführung der in den Art. 8 und 9 EU-VO Pflichten erlitten hat. Insbesondere stellt sich Art. 7 EU-VO nicht als sog. Strafsanktion dar.

21. Hat ein Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen aus Art. 8 und 9 der Verordnung verletzt, so sind – so der EuGH – die Fluggäste grundsätzlich berechtigt, einen Ausgleichsanspruch auf der Grundlage der in diesen Artikeln aufgeführten Gesichtspunke geltend zu machen (Rn. 44), jedoch nur zum Ausgleich der ihnen entstandenen Schäden. Dabei kann der Fluggast entweder die Ausgleichszahlung pauschal nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung geltend machen oder hat den Schaden – wie hier – konkret berechnet, je nachdem was für den Fluggast günstiger ist und wofür er sich entscheidet.

22. Leistet die Fluggesellschaft nach Maßgabe der konkreten Schadensberechnung des Fluggastes, ist die pauschale Ausgleichsleistung nicht darüber hinaus zu gewähren. Sie stellt nur den Mindestanspruch dar. Dies entspricht den Ausführungen von Führich (Die Fluggastrechte der VO (EG) Nr. 261/2004 in der Praxis a. a. O. S.11), wonach der Fluggast ein Wahlrecht hat, ob er Ansprüche gegen sein vertragliches Luftfahrtunternehmen wie den konkreten Schadensersatz oder die pauschale Ausgleichszahlung gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen geltend macht. Die Frage der Anrechnung nach Art. 12 der Verordnung stellt sich in diesem Zusammenhang nicht.

2.

23. Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den bislang in Rechtsprechung und im Schrifttum vertretenen Auffassungen zur Anrechnung nach Maßgabe des Art. 12 Abs. 1 der VO sowie dem Erwägungsgrund 12.

2

24. In dem Wort „Ausgleich“ kann aus dem Gesamtkontext allerdings nur der Ausgleich für entstandene Kosten enthalten sein. Der Erwägungsgrund 21 weist nämlich im Ergebnis darauf hin, dass mit den Regelungen der Verordnung keine Sanktionen verbunden werden sollen, so dass der Ausgleich nach Maßgabe des Erwägungsgrundes 12 allein für die unnötig entstandenen Kosten gilt.

25. Dass dieses Verständnis auch vom Bundesgerichtshof geteilt wird, zeigt das Urteil des BGH vom 25.03.2010, Az.: Xa ZR 96/09 (zitiert nach juris, dort Nr. 28). Der BGH hat in diesem Verfahren entschieden, dass der vom Kläger geltend gemachte Schadensersatzanspruch, der sich als begründet erweist, nicht gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung im Wege der Anrechnung zu reduzieren ist; in diesem Fall stehen dem Fluggast als Kläger keine anrechenbaren Ausgleichsansprüche zu. Im Wege des Umkehrschlusses folgt hieraus, dass der BGH davon ausgeht, dass Ausgleichsansprüche aus der Verordnung – darunter auch aus Art. 7 – gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung im Wege der Anrechnung in etwaigen Schadensersatzansprüchen der Fluggäste aufgehen. Dies ist insoweit nicht überraschend, weil sich dies bereits aus dem klaren Text der Verordnung, insbesondere aus Art. 12 ergibt.

26. Offen bleiben kann nach Meinung der Befürworter der Anrechnung in diesem Zusammenhang allerdings der rechtliche Charakter der Ausgleichszahlungen. Nach Maßgabe des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung könne nämlich die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichszahlung auf einen Schadensersatzanspruch des Fluggastes angerechnet werden. Diese Norm eröffnet dem Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit einer Anrechnung des an sich bestehenden Ausgleichzahlungsanspruches auf die zu gewährenden weiteren Schadensersatzansprüche des Fluggastes. Dabei ist es – entgegen der Auffassung des Klägers – unbeachtlich, auf welcher Grundlage diese Schadensersatzansprüche gewährt werden.

27. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung unterscheidet nämlich nicht nach den Grundlagen des weitergehenden Schadensersatzanspruches des Fluggastes, sondern stellt auf einen solchen ab. Nach dem maßgeblichen Text der Verordnung heißt es nämlich, dass diese unbeschadet eines weitergehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes gelten. Hierbei wird nicht unterschieden nach den Schadensersatzansprüchen aus der Verordnung und nach den nationalen Normen, die einen etwaigen Schadensersatzanspruch z. B. aus dem Werkvertrag in Verbindung mit § 280 BGB statuieren.

28. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Anrechung der Ausgleichszahlung auf die Schadensersatzansprüche gegen das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens verstoßen würde. Wie das Amtsgericht Köln in seiner Entscheidung vom 18.08.2006, Az.: 121 C 502/05 (zitiert nach juris) ausgeführt hat, handelt es sich bei der Zahlung gemäß Art. 7 der Verordnung wie auch im Übrigen bei den Vorschriften der gesamten Verordnung um keine Vorschrift mit Strafcharakter gegenüber den Luftfahrtunternehmen. Wie der Erwägungsgrund 21 zur Verordnung klar macht, sollten die Mitgliedsstaaten Regeln für Sanktion bei Verstößen gegen diese Verordnung festlegen und deren Durchsetzung gewährleisten. Die Sanktionen müssten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Damit mache der Verordnungsgeber eindeutig klar, dass es weder seine Absicht noch der Hintergrund der Verordnung gewesen sei, mit den Ansprüchen aus der Verordnung zivilrechtliche Sanktionen gegen Unternehmen zu verhängen, die, aus welchen Gründen auch immer, ihren vertraglichen Pflichten nicht nachkommen bzw. nicht nachkommen könnten. Im Umkehrschluss ergibt sich hieraus, dass der Sanktionscharakter nicht gegeben ist.

29. Ebenso wenig hat der in der Verordnung festgelegte Mindestbetrag neben dem konkreten Schaden Sanktionscharakter. Es handelt sich vielmehr um einen pauschalisierten Schadensersatzanspruch mit Genugtuungsfunktion (vgl. auch das Urteil des Landgerichtes Frankfurt a. M. vom 13.10.2006, Az.: 3 – 2 O 51/06, RRa 2007, 81 und des Amtsgerichtes Dortmund vom 03.08.2007, Az.: 407 C 11000/06).

30. Mit dieser Auslegung wird auch nicht zu einem Rechtsbruch eingeladen, weil die zu Unrecht nicht beförderten Fluggäste in jedem Fall einen Anspruch auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens haben, wenn dieser konkret dargelegt wird und den durch die Verordnung festgelegten pauschalierten Schadensersatzanspruch übersteigt.

31. Die vom Amtsgericht vorgenommene Auslegung belohnt auch nicht den Vertragsbruch. Der Erwägungsgrund 12 zur Verordnung stellt nämlich nur allgemein fest, dass das Ärgernis und die Unannehmlichkeit, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, verringert werden soll. Dies soll vordergründig durch die Unterrichtung und eine zumutbare anderweitige Beförderung geschehen. Andernfalls soll den Fluggästen ein Ausgleich geleistet und angemessene Betreuung angeboten werden. In dem Wort „Ausgleich“ kann aus dem Gesamtkontext allerdings nur Ausgleich für entstandene Kosten enthalten sein, denn – wie der Erwägungsgrund 21 zeigt – mit den Regelungen der Verordnung sollen keine Sanktionen verbunden werden. Mithin ist der Ausgleich gemäß des Erwägungsgrundes 12 als Ausgleich für die unnötig entstandenen Kosten zu verstehen.

32. Das Effizienzgebot gebietet keine abweichende Auslegung der Vorschrift des Art. 12 der Verordnung, da auch der Grundsatz des effektiven Gebrauchs keinen Strafcharakter der Norm aus dem bereits oben genannten Gründen nahe legt.

33. In der Erwägung 21 zum Zweck der Verordnung wird gerade klargestellt, dass es den Mitgliedsstaaten überlassen ist, ob sie effektiv Sanktionsnormen statuieren wollen. Die Kommission selbst hat eine derartige Norm nach den Erwägungsgründen nicht festlegen wollen. In ihrer Stellungnahme zu der Verordnung äußerte die EU-Kommission nämlich zu den von ihr abgelehnten Abänderungen unter dem Erwägungsgrund 15, dass die Klausel des Art. 12 über die Anrechnung der Ausgleichsleistung beibehalten werden sollte, damit die Gerichte verhindern können, dass Luftfahrtunternehmen ein doppelter Schadensersatz auferlegt werde (gerichtlich verhängter Schadensersatz zuzüglich der Ausgleichszahlung nach der vorgeschlagenen Verordnung).

34. Ob Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung dem Gericht Ermessen einräumt oder dieses ausscheidet, weil sich die Verordnung nicht an die Gerichte sondern – wie aus dem klaren und eindeutigen Text der Verordnung zu entnehmen sei – an die Fluggesellschaften richte (so AG Köln a. a. O.), kann in diesem Zusammenhang dahinstehen. Wird allerdings eine Anrechnung vorgenommen, so ist das Gericht daran gebunden (Amtsgericht Dortmund, Urteil vom 03.08.2007, Az.: 407 C 1100/06).

3.

35. Soweit die Auffassung vertreten wird, dass sich der Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 ausweislich seines Wortlauts auf den Fall der gewährten Ausgleichsleistung auf einen Schadensersatzanspruch beschränke und nicht umgekehrt, so dass Schadensersatzleistungen nicht auf die Ausgleichsleistung angerechnet werden (siehe auch Schmid/Hopperdietzel, Die Fluggastrechte – eine Momentaufnahme, NJW 2010, 1905, kann dem nicht gefolgt werden. Diese Meinung stützt sich auf einen verengten Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 (EU-)VO und würde häufig durch Zufälligkeiten zu nicht vorhersehbaren Ergebnissen kommen. Denn häufig hängt es gerade vom Verhalten und der Entscheidung des Fluggastes ab, ob er seinen – höheren – Schaden zunächst konkret abrechnen will oder sich auf die Pauschalierung des der Höhe nach geringeren Ausgleichsanspruchs konzentriert.

36. Dass dem Fluggast im Falle der Annullierung des Fluges gegen das Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 5 Abs. 1a zusätzlich zu einem weiter gehenden Schadensersatzanspruch nach nationalem Recht stets eine Ausgleichsleistung zusteht, kann selbst den Ausführungen der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen in dem v. g. Verfahren vor dem EuGH (Rz. 60, 64) so nicht entnommen werden. Dies ist auch nicht gerechtfertigt und wird dem Anliegen der Fluggastverordnung, Verbesserungen des Verbraucherschutzes zu erlangen, nicht gerecht. Denn Ziel der VO ist es nicht, dem Fluggast aus einem Schadensereignis etwas zuzusprechen, was er auch bei fehlerfreier Durchführung des Luftbeförderungsvertrages nicht erlangt hätte. Ebenso wenig ist es das Anliegen der VO, aus den vorgenannten Gründen „Strafsanktionen“ gegen Luftfahrtunternehmen auszusprechen. Vielmehr soll mit der VO lediglich sichergestellt werden, dass unter den Voraussetzungen der VO das Luftfahrtunternehmen entweder den ihm vom Fluggast präsentierten konkreten Schaden auszugleichen oder im Falle der Weigerung stattdessen die pauschalierte Ausgleichszahlung im Sinne des Art. 7 zu leisten.

37. Soweit im Hinblick auf die Erörterung der Anrechnung nach Art 12 Abs. 1 Satz 2 in Fällen, in denen ein Luftfahrtunternehmen seinen Verpflichtungen auf Gewährung von Unterstützungsleistungen nicht nachkommt, ausgeführt wird, dass diese nach Sinn und Zweck der Verordnung zu unterbleiben habe, wenn ein Luftbeförderungsunternehmen im Falle der Flugannullierung seine Unterstützungsleistungen nach Art. 8 oder Art. 9 der VO nicht erfülle, greift diese Argumentation für den vorliegenden Fall der konkreten Schadensberechnung nicht. Denn sie beschränkt sich allein auf die Folgewirkungen der fehlenden Unterstützungsleistungen nach Art. 8 und 9 EGV. Deshalb vermag auch die Begründung nicht zu überzeugen, dass der betroffene Fluggast bei anderweitiger Ersatzbeförderung und Erbringung von Betreuungsleistungen keine Reise selbst organisieren müsse, weshalb insoweit bei ihm kein Schaden entstünde mit der Folge fehlender Anrechnungsmöglichkeit nach Art. 12 EGV; das pflichtgemäß handelnde Luftfahrtunternehmen müsse dann zusätzlich zu den bereits erbrachten Unterstützungsleistungen auch noch eine Ausgleichsleistung nach Artikel 7 EGV zahlen, wo hingegen ein Luftfahrtunternehmen, welches seine sich aus der EGV ergebenden Verpflichtungen nicht erfülle, zwar zur Zahlung von Schadensersatz wegen einer selbst organisierten Ersatzreise verpflichtet, könnte diesen aber auf die Ausgleichszahlung anrechnen und dadurch besser stehen als dasjenige Unternehmen, welches sich regelkonform verhalte.

4.

38. Seinen Erstattungsanspruch kann der Kläger auch nicht in das nationale Rechtsinstitut der Geschäftsführung ohne Auftrag einordnen und deshalb den Bezug zur Anrechnungspflicht nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 EU-VO verneinen, da es sich nicht um einen Schadensersatz-, sondern um einen Aufwendungsersatzanspruch handelt, rechtfertigt dies nicht die zusätzliche Gewährung einer darüber hinausgehenden Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 EU-VO.

39. Es liegen bereits nicht die Voraussetzungen der nach nationalem Recht zu beurteilenden Geschäftsführung ohne Auftrag vor. Aus Art. 8 Abs. 1 folgt nämlich lediglich die Pflicht des Luftfahrtunternehmens, für den Fluggast eine Beförderung mit eigenen Luftfahrtzeugen zu ermöglich oder aber den Flugpreis zu erstatten. Hierunter fällt aber gerade nicht die Verpflichtung, generell die Beförderung auch mit Drittcarriern zu ermöglichen, so dass der Kläger kein Geschäft für die Beklagte ausgeführt hat, als er sich um die Beförderung mit einem Drittunternehmen kümmerte. Insoweit steht nur ein Schadensersatzanspruch wegen Nichtbeförderung gegen die Beklagte aus §§ 631, 634, 241 Absatz 1, 280 Absatz 3 BGB zu. Dieser führt aber zur Anrechnung nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 EU-VO.

5.

40. Das angefochtene Urteil war jedoch hinsichtlich der Kostenentscheidung von Amts wegen zu korrigieren, da das Amtsgericht angesichts des gegen die Beklagte erlassenen Versäumnisurteils in erster Instanz § 344 ZPO nicht beachtet hat.

III.

41. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Absatz 1 ZPO und soweit der Kläger die Klage in Höhe von 171 € in der Berufungsbegründungsschrift zurückgenommen hat, auf § 269 ZPO.

42. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nummer 10, 709, 711 ZPO.

43. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf dem bezifferten Klageantrag.

44. Die Zulassung der Revision war anzuordnen, weil es eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Rechtsfrage, die sich ausdrücklich mit der Frage der Anrechnung des Ausgleichsanspruches mit den konkreten Schadensersatzansprüchen befasst, bislang nicht gibt, die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Absatz 2 Nr. 1 und 2 ZPO).

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