Defekt am Reverse Flow Check Controller als außergewöhnlicher Umstand

AG Rüsselsheim: Defekt am Reverse Flow Check Controller als außergewöhnlicher Umstand

Flugreisende forderten eine Ausgleichszahlung für eine 8-stündige Flugverspätung. Das Gericht gab der Klage statt, denn ein technischer Defekt am Flugzeug stellte keinen außergewöhnlichen Umstand dar.

AG Rüsselsheim 3 C 2273/11 (37) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 20.04.2012
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 20.04.2012, Az: 3 C 2273/11 (37)
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Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 20. April 2012

Aktenzeichen 3 C 2273/11 (37)

Leitsätze:

2. Ein technischer Defekt am Flugzeug ist kein außergewöhnlicher Umstand.

Bei einem schlüssigen Vortrag seitens des Fluggastes bezüglich der Verfügung über eine bestätigte Buchung erübrigt sich die schriftliche Vorlage derselben.

Zusammenfassung:

3. Flugreisende erlitten einen 8-stündigen Zeitverlust, weil ihr Flug von Fuerteventura nach Frankfurt am 18. August 2011 statt um 11.55 Uhr erst um 19.40 Uhr startete. Sie forderten eine Ausgleichszahlung nach der europäischen Fluggastrechteverordnung, doch die Fluggesellschaft lehnte dies ab. Sie berief sich auf einen Defekt des Reverse-Flow-Check-Controllers der Maschine als außergewöhnlichen Umstand und behauptete überdies, die Kläger hätten eine schriftliche Buchungsbestätigung vorlegen müssen, um ihre Ansprüche zu begründen.

Das Amtsgericht Rüsselsheim gab der Klage statt und sprach den Reisenden jeweils 400,- € Ausgleichszahlung für die Verspätung nebst Zinsen und Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltkosten zu. Der Kläger hatte schlüssig dargelegt, dass er und seine Ehefrau zum Flugzeitpunkt über eine gültige Buchung verfügten, was die Beklagte auch nicht bestritt, sodass eine schriftliche Buchungsbestätigung nicht vorgelegt werden musste. Ferner stellte der von der Beklagten angeführte technische Defekt keinen außergewöhnlichen Umstand dar, da solche in das normale Betriebsrisiko des Luftverkehrs fallen.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 800,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.10.2011 zu zahlen.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 120,66 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.10.2011 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten um Ausgleichsansprüche gemäß der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 (nachfolgend:VO).

6. Der Kläger und seine Ehefrau waren gebuchte Passagiere auf einem Flug von Fuerteventura (Spanien) nach Frankfurt/Main. Der Flug unter der Flugnummer DE 2551 sollte von der Beklagten als ausführendes Luftfahrtunternehmen ausgeführt werden. Das Flugzeug sollte planmäßig in Fuerteventura am 16.08.2011 um 11.55 Uhr starten; tatsächlich erfolgte der Start in Fuerteventura erst um 19.40 Uhr, so dass der Kläger und seine Ehefrau mit knapp achtstündiger Verspätung in Frankfurt landeten.

7. Die Entfernung zwischen Fuerteventura und Frankfurt beträgt über 1.500 km.

8. In der Folgezeit forderte der Kläger die Beklagte zur Zahlung eines Ausgleichsanspruchs in Höhe von 800,00 Euro unter Hinweis auf die VO auf. Mit Schreiben vom 09.09.2011 lehnte die Beklagte eine Regulierung ab. Mit weiterem vorprozessualem Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 22.09.2011 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung zum 04.10.2011 erneut zur Zahlung von 800,00 Euro auf. Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten bot die Beklagte dem Kläger einen Betrag in Höhe von 400,00 Euro an. Dieses Angebot lehnte der Kläger ab.

9. Der Kläger verlangt von der Beklagten aus eigenem Recht und – bezüglich seiner Ehefrau – aus abgetretenem Recht eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO in Höhe von jeweils 400,-​- Euro.

10. Der Kläger beantragt,

1) die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 800,00 Euro zuzüglich 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 05.10.2011 zu zahlen,

2) die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger vorgerichtliche Nebenkosten in Höhe von 120,66 Euro nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 05.10.2011 zu zahlen.

11. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12. Die Beklagte ist der Ansicht, die Klage sei schon mangels Vorlage einer bestätigten Buchung bzw. eines Flugscheins unschlüssig.

13. Die Beklagte bestreitet die Aktivlegitimation mit Nichtwissen.

14. Die Beklagte behauptet, Grund der Verspätung sei ein Defekt des sog. Reverse Flow Check Controller am Flugzeug gewesen. Hierbei handelt es sich um einen Regler innerhalb des Pneumatiksystems, der das Hochdruckzapfluftventil und das Druckregel- und Absperrventil schließt, um zu verhindern, dass Luft von dem anderen Triebwerk oder des Hilfstriebwerks rückwärts in den Motor strömt. Nach Abschluss der Reparaturarbeiten und Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestruhezeit durch die Flugbesatzung verzögerte sich der Abflug um 1 Std. 12 Min. unstreitig dadurch, weil die Deutsche Flugsicherung dem Flugzeugführer die Benutzung der Startbahn verweigerte und daher eine Anpassung der Flugdaten erforderlich war.

15. Bezüglich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten bestreitet die Beklagte einen Schaden, eine entsprechende Bezahlung des Klägers und eine ordnungsgemäße Rechnungsstellung. Überdies hätte der Kläger nach Auffassung der Beklagten ohne weiteres vorgerichtliches Tätigwerden unverzüglich Klage erheben müssen. Vorsorglich erklärt die Beklagte hinsichtlich der Rechtsanwaltskosten die Anrechnung nach Art. 12 VO.

16. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

17. Die zulässige Klage ist begründet.

18. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung der Ausgleichspauschale aus eigenem und abgetretenem Recht in tenorierter Höhe nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) VO.

19. Die VO ist anwendbar. Der Einwand der Beklagtenseite, die Klage sei unschlüssig, weil die Klägerseite keine bestätigte Buchung bzw. Flugscheine vorlegen konnte, greift nicht durch. Der Kläger hat dargelegt, dass er und seine Ehefrau zum Zeitpunkt des Fluges über eine bestätigte Buchung verfügte. Dies hat die Beklagte nicht bestritten. Der Vorlage einer schriftlichen Buchungsbestätigung bedarf es dagegen nicht. Dies wird von Art. 3 Abs. 2 lit. a) VO auch nicht verlangt. Der Kläger hat daher ausreichend i. S. d. Art. 3 Abs. 2 lit. a) i. V. m. Art. 2 lit. g) VO dargelegt, dass er und seine Ehefrau über eine bestätigte Buchung verfügten.

20. Der Kläger ist auch bezüglich der Ansprüche seiner mitreisenden Ehefrau aktivlegitimiert. Zwar hat die Beklagte die behauptete Abtretung zunächst zulässigerweise mit Nichtwissen bestritten. Durch die Vorlage einer schriftlichen Abtretungserklärung hat die Klägerseite das ihrerseits Erforderliche und Ausreichende getan, um der Beklagten die Prüfung der tatsächlichen Richtigkeit der behaupteten Abtretung zu ermöglichen. Ein – einfaches – Bestreiten mit Nichtwissen kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als ausreichend erachtet werden.

21. Unstreitig hatte der von der Beklagten durchgeführte Flug von Fuerteventura nach Frankfurt/Main eine Abflugverspätung von 7 3/4Stunden, so dass der Kläger und seine Ehefrau entsprechend verspätet am Zielort eintrafen. Zwar steht der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 i. V. m. Art. 4 und 5 der VO nur denjenigen Passagieren zu, die nichtbefördert oder deren Flug annulliert wurde. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19.11.2009 soll Art. 7 der VO aber auch dann anwendbar sein, wenn Passagiere – wie hier – wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden (vgl. EuGH NJW 2010, 43), so dass der Kläger von der Beklagten die Zahlung eines Ausgleichsanspruchs in Höhe von 400,-​- Euro für sich und seine Ehefrau verlangen kann.

22. Dieser Anspruch ist auch nicht entsprechend Art. 5 Abs. 3 VO ausgeschlossen. Technische Probleme (hier: behaupteter Defekt des sog. Reverse Flow Check Controller), die zu einer Verspätung führen, stellen keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der VO dar, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind (EuGH NJW 2010, 43 ff.). Das Risiko, dass an dem Flugzeug selbst ein Defekt auftritt, fällt daher grundsätzlich in die betriebliche Sphäre des Luftfahrtunternehmens. Als „außergewöhnlicher Umstand“ kann ein technisches Problem bei einem Flugzeug nach der Rechtsprechung des EuGH daher nur dann angesehen werden, wenn es seine Ursache in einem der im Erwägungsgrund 14 der VO genannten Umstände hat, z. B. auf versteckten Fabrikationsfehlern, Sabotageakten oder terroristischen Angriffen beruht (vgl. EuGH NJW 2009, 347). Dies wurde jedoch vorliegend nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Die durch die Deutsche Flugsicherung verursachte weitere Abflugverspätung von 1 Std. und 12 Minuten ist aufgrund der bereits zu diesem Zeitpunkt gegebenen erheblichen Verspätung völlig unerheblich.

23. Die Entscheidung über die Zinsen und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich aus §§ 286, 288 Abs. 1 S. 2 BGB. Verzug ist vorliegend mit der Ablehnung der Ansprüche durch die Beklagte mit Schreiben vom 09.09.2011 eingetreten. Die nach Verzugseintritt entstandenen Rechtsverfolgungskosten kann der Kläger von der Beklagten als Verzugsschaden ersetzt verlangen. Ein ersatzfähiger Schaden liegt vor. Die Beklagte hat zwar in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten, dass der Kläger die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren bezahlt hat und dem Kläger hieraus ein Schaden entstanden ist. Auf eine Beweisaufnahme kommt es vorliegend aber nicht an. Die Belastung des Klägers mit der Gebührenforderung seines Prozessvertreters stellt – unabhängig davon, ob diese durch den Kläger gezahlt wurde oder nicht – einen ersatzfähigen Schaden im Sinne der §§ 249 ff. BGB dar. Es kann auch dahinstehen, ob seitens des Prozessbevollmächtigten des Klägers eine ordnungsgemäße Rechnungsstellung erfolgt ist. Die Rechnungsstellung nach § 10 Abs. 1 RVG ist nur für die Erforderlichkeit der Vergütung im Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten maßgeblich und ohne Bedeutung für die Fälligkeit des Anspruchs – insbesondere im Hinblick auf einen materiell-​rechtlichen Kostenanspruch (vgl. OLG München NZV 2007, 211 m. w. N.)

24. Ein Verstoß des Klägers gegen seine Schadensminderungspflicht aus § 254 Abs. 2 S. 1 BGB durch die Einschaltung eines Rechtsanwalts nach eigenem erfolglosen Anschreiben und durch dessen anschließendes vorprozessuales Tätigwerden liegt nicht vor. Es war aus der ex-​ante-​Sicht des Klägers nicht unwahrscheinlich, dass die Beklagte erst auf ein fundiertes Schreiben eines Rechtsanwalts entsprechend reagiert und nicht bereits auf das erste „laienhafte“ Schreiben des Klägers selbst. Dies zeigt nicht zuletzt das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Beklagten an den Prozessbevollmächtigten des Klägers, in welchem dem Kläger ein (Vergleichs-​)Angebot in Höhe von 400,00 Euro unterbreitet wurde.

25. Eine Anrechnung gemäß Art. 12 der VO kommt nicht in Betracht, da es sich bei den Rechtsanwaltskosten um Verzugskosten handelt. Eine Anrechnung ist nur bei solchen Schadensersatzansprüchen möglich, die ihre Ursache im Ergebnis ebenfalls in der Flugverspätung haben, aber ihre Grundlage jenseits der VO finden. Grundlage der Rechtsanwaltskosten ist allerdings der eingetretene Verzug der Beklagten und nicht die Flugverspätung selbst (so bereits AG Rüsselsheim BeckRS 2011, 21459).

26. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 ZPO.

27. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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