Verspätung aufgrund eines Vogelschlages

AG Geldern: Verspätung aufgrund eines Vogelschlages

Die Kläger hatten bei der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen, einen Flug gebucht. Dieser konnte jedoch aufgrund eines technischen Problems (Vogelschlag) erst mit einer Verspätung von ca. drei Stunden starten. Die Kläger fordern nun Ausgleichszahlungen in Höhe von 250,- € pro Person. Die Beklagte ist jedoch der Ansicht, dass ein Ausgleichsanspruch nur bei annullierten Flügen bestehe und nicht bei verspäteten Flügen, auch wenn die Verspätung erheblich sei.

Das Amtsgericht Geldern setzt das Verfahren aus und leitet zwei Fragen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weiter.  Bevor diese ausschlaggebenden Fragen nicht beantwortet seien, könne das AG Geldern keine abschließende Entscheidung bzgl. der Ausgleichsforderungen der Kläger treffen. Es bleibt vorerst unklar, ob hier Art. 7 FluggastrechteVO oder Art. 29 Satz 2 MÜ zur Anwendung kommt.

AG Geldern 4 C 599/10 (Aktenzeichen)
AG Geldern: AG Geldern, Urt. vom 18.05.2011
Rechtsweg: AG Geldern, Urt. v. 18.05.2011, Az: 4 C 599/10
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Amtsgericht Geldern

1. Urteil vom 18. Mai 2011

Aktenzeichen: 4 C 599/10

Leitsätze:

2. Das Amtsgericht Geldern leitet zwei Fragen an den Europöischen Gerichtshof weiter, um zu klären welche Verordnung im vorliegenden Fall zur Anwendung kommt.

Zusammenfassung:

3. Die Kläger fordern von der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen, Ausgleichszahlungen in Höhe von 250,- € pro Person nach Art. 7 FluggastrechteVO. Außerdem fordern sie Schadensersatzzahlungen und die Erstattung von Kosten für Verpflegung und Telefonate. Die Kläger hatten bei der Beklagten einen Flug gebucht, der aufgrund eines technischen Problems (Vogelschlag) erst mit einer Verspätung von ca. drei Stunden starten konnte. Die Parteien streiten darum, ob diese Verspätung unvermeidbar war und ob die Beklagte die ihr obliegenden Betreuungsleistungen ordnungsgemäß erbracht hat. Die Beklagte ist der Ansicht, dass ein Ausgleichsanspruch nur bei annullierten Flügen bestehe, jedoch nicht bei verspäteten Flügen, auch wenn die Verspätung erheblich sei.

Das Amtsgericht Geldern setzt das Verfahren aus und leitet folgende Fragen zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weiter:

1.) Handelt es sich bei dem in Art. 7 FluggastrechteVO geregelten Ausgleichsanspruch um einen Schadenersatzanspruch, der wegen Art. 29 S. 1 MÜ den Beschränkungen des Montrealer Übereinkommens unterliegt, wenn er wegen einer großen Verspätung des Fluges zuzuerkennen ist?

2.) Ist der Ausgleichsanspruch des Art. 7 FluggastrechteVO nichtkompensatorisch im Sinne von Art. 29 Satz 2 MÜ, soweit er die Schäden übersteigt, die dem Fluggast aufgrund der großen Verspätung entstanden sind? Schließt dies einen Ausgleichsanspruch zur Gänze aus oder entsteht dieser in Verspätungsfällen nur in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens?

Bevor diese ausschlaggebenden Fragen nicht beantwortet seien, könne das AG Geldern keine abschließende Entscheidung bzgl. der Ausgleichsforderungen der Kläger treffen. Es bleibt vorerst unklar, ob hier Art. 7 FluggastrechteVO oder Art. 29 Satz 2 MÜ zur Anwendung kommt.

Tenor:

4. Dem Europäischen Gerichtshof werden zur Auslegung von Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11.02.2004 (nachfolgend: FluggastrechteVO) und von Art. 29 des Montrealer Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28.05.1999 (nachfolgend: MÜ) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.) Handelt es sich bei dem in Art. 7 FluggastrechteVO geregelten Ausgleichsanspruch um einen Schadenersatzanspruch, der wegen Art. 29 S. 1 MÜ den Beschränkungen des Montrealer Übereinkommens unterliegt, wenn er wegen einer großen Verspätung des Fluges zuzuerkennen ist?

2.) Ist der Ausgleichsanspruch des Art. 7 FluggastrechteVO nichtkompensatorisch im Sinne von Art. 29 Satz 2 MÜ, soweit er die Schäden übersteigt, die dem Fluggast aufgrund der großen Verspätung entstanden sind? Schließt dies einen Ausgleichsanspruch zur Gänze aus oder entsteht dieser in Verspätungsfällen nur in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens?

II. Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die vorstehenden Vorlagefragen ausgesetzt.

Entscheidungsgründe:

I.

5. Die Kläger machen klageweise gegen die Beklagte Ausgleichsansprüche in Höhe von 250,- € pro Person nach Art. 7 FluggastrechteVO und zusätzlich Schadensersatzansprüche in Höhe von insgesamt 202,28 € geltend, wovon 27,40 € auf Kosten für Verpflegung in A… und in Höhe von 5,- € für Telefonate vom Flughafen A… nach Deutschland entfielen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Unstreitig ist zwischen den Parteien, dass der von den Klägern bei der Beklagten für den 25.06.2010 gebuchte Flug von A… nach B… erst mit mehr als 3 Stunden Verspätung gestartet ist, ohne dass diese Verspätung später aufgeholt wurde. Die Maschine hob nicht planmäßig um 18.15 Uhr in A… ab, sondern erst um 21.29 Uhr oder 21.40 Uhr. Sie landete auch nicht planmäßig um 20.10 Uhr in B…, sondern erst um 23.35 Uhr.

6. Die Parteien streiten darum, ob die Verspätung aufgrund eines Vogelschlages/technischen Problems des Flugzeuges der Beklagten unvermeidbar war. Sie streiten auch darum, ob die Beklagte die ihr obliegenden Betreuungsleistungen ordnungsgemäß erbracht hat. Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass ein Ausgleichsanspruch nur bei annullierten Flügen bestehe und nicht bei verspäteten Flügen, auch wenn die Verspätung erheblich sei.

II.

7. Das erkennende Gericht setzt das Verfahren nach Art. 267 AEUV aus und legt dem EuGH die aus dem Tenor ersichtlichen Fragen vor.

1.)

8. Der Erfolg der Klageanträge hängt von der Beantwortung der Vorlagefragen ab.

9. Die Kläger können nur dann einen Ausgleichsanspruch in der geltendgemachten Höhe von 250,- € pro Person erhalten, wenn er auch bei großer Verspätung eines Fluges in Höhe des in Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. a) FluggastrechteVO genannten Betrages zu gewähren ist, wenn der Fluggast durch die Verspätung keinen oder nur einen geringeren Schaden erlitten hat. Entsteht der Anspruch hingegen nur in Höhe der tatsächlich aufgrund der Verspätung angefallenen Mehraufwendungen, ist ein Erfolg der Klage insoweit von vornherein ausgeschlossen, da die Kläger neben dem Ausgleichsanspruch auch die ihnen tatsächlich entstandenen Schäden in Höhe von 202,28 € geltend machen.

2.)

10. Im streitgegenständlichen Fall ist der Anwendungsbereich der FluggastrechteVO und des MÜ eröffnet. Gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a) FluggastrechteVO fällt der streitgegenständliche Flug von A… (Schweden) nach B… (Deutschland) in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 und gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 MÜ in den Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommens, weil er gegen Entgelt erfolgte und Deutschland und Schweden sowohl Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, als auch Vertragsstaaten des Montrealer Übereinkommens sind. Der EuGH ist nicht nur für die Auslegung der FluggastrechteVO, sondern auch für die Auslegung des MÜ zuständig, soweit dieses Bestandteil des europäischen Gemeinschaftsrechts ist (EuGH, Urt. v. 06.05.2010 – C-63/09 = NJW 2010, 2113, 2114).

3.)

11. Nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO in seiner durch das Urteil des EuGH vom 19.11.2009, Az.: C-402/07 und C-432/07 (EuGH NJW 2010, 43) ausgeprägten erweiternden/analogen Anwendung auf Fälle, in denen ein Flug mit mindestens 3 Stunden Verspätung abhebt und mit mindestens 3 Stunden Verspätung am Bestimmungsort landet, stehen den Klägern die Ausgleichsansprüche in Höhe von 250,- € zu. Der Flug ist unstreitig mit mehr als 3 Stunden Verspätung in A… gestartet, ohne die Verspätung bis zur Landung in B… auf weniger als 3 Stunden zu verkürzen.

12. Neben der FluggastrechteVO fällt der Streitgegenstand des Rechtsstreits auch in den Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommens, dessen Mitunterzeichner auch die EU ist. Dessen Regelungen sind Bestandteil des Gemeinschaftsrechts und beanspruchen gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV (bzw. Art. 300 Abs. 7 EGV a.F.) als ein (auch) von den Europäischen Gemeinschaften abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag Vorrang vor den Regelungen der FluggastrechteVO als abgeleitetem Gemeinschaftsrecht (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Az.: C-344/04, Rn. 35 = NJW 2006, 351, 354; Lorenzmeier in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 300 EGV Rn. 101 m.w.N.).

4.)

13. Art. 29 S. 2 MÜ könnte einer Auslegung des Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. a) FluggastrechteVO entgegenstehen, dass dem Fluggast bei großer Verspätung eines Fluges ein Ausgleichsanspruch in Höhe von 250,- € zusteht, ohne dass es darauf ankommt, ob und in welcher Höhe ihm deswegen ein Schaden entstanden ist. Die vorgenannte Auffassung könnte dazu führen, dass der Ausgleichsanspruch dann als ein durch Art. 29 S. 2 MÜ untersagter, nicht kompensatorischer Schadensersatzanspruch anzusehen wäre. Dies wäre dann der Fall, wenn es sich bei dem Ausgleichsanspruch des Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO um einen Schadensersatzanspruch im Zusammenhang mit der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern im Sinne von Art. 29 S. 1 MÜ handelte. Dies dürfte nicht bereits deswegen ausgeschlossen sein, weil der Ausgleichsanspruch nicht im Montrealer Übereinkommen geregelt ist, weil der Wortlaut des Art. 29 S. 1 MÜ neben Ansprüchen aus dem Übereinkommen ausdrücklich auch solche aus „sonstigen Rechtsgründen“ umfasst.

a)

14. Es kommt auch in Betracht, dass der Ausgleichsanspruch – soweit er bei großer Verspätung eines Fluges zu gewähren ist – einen Lebenssachverhalt betrifft, der bereits durch Art. 19 S. 1 Fall 1 MÜ geregelt ist. Diese Vorschrift gewährt Reisenden einen Schadensersatzanspruch, wenn sich der Flug verspätet. Zwar dürfte nach überwiegender Auffassung davon auszugehen sein, dass ein Flug nur dann im Sinne von Art. 19 MÜ verspätet ist, wenn er seinen Bestimmungsort nicht rechtzeitig erreicht, während ein verspäteter Abflug allein keine Verspätung im Sinne des Art. 19 MÜ sein dürfte (vgl. Pokrant in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2009, Art. 19 MÜ Rn. 3). Eine Verspätung im Sinne der FluggastrechteVO liegt hingegen grundsätzlich dann vor, wenn die Maschine zu spät abfliegt (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2009, Az.: C-402/07 und C-432/07 unter Rn. 32 = NJW 2010, 43, 44). Für die Gleichstellung einer „großen Verspätung“ mit einer Annullierung dürfte aber nach der Rechtsprechung des EuGH – jedenfalls nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts – neben einem um mehr als 3 Stunden verspäteten Abflug zusätzlich erforderlich sein, dass die Maschine auch mindestens mehr als 3 Stunden zu spät am Bestimmungsflughafen eintrifft (EuGH, Urt. v. 19.11.2009, Az.: C-402/07 und C-432/07 unter Rn. 32 und Rn. 61 = NJW 2010, 43, 44, 46). Dies legt nahe, dass insoweit jedenfalls teilweise der gleiche Lebenssachverhalt geregelt würde, da die Voraussetzungen des Art. 19 MÜ stets vorlägen und nur zusätzlich erforderlich wäre, dass das Flugzeug auch zu spät gestartet ist.

b)

15. Der Anspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO könnte auch ein Schadensersatzanspruch im Sinne des Art. 29 S. 1 MÜ sein. Die Frage seines Rechtscharakters ist bislang ungeklärt und auch Gegenstand eines Vorlagebeschlusses des AGs Köln vom 03.11.2010, Az.: 142 C 535/08 (das Verfahren wird beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-581/10 geführt).

16. Dass der Anspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO trotz seiner deutschen Bezeichnung als „Ausgleichsanspruch“ ein Schadensersatzanspruch sein dürfte, könnte sich daraus ergeben, dass Art. 12 FluggastrechteVO von „weitergehenden Schadensersatzansprüchen“ spricht, auf die nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 FluggastrechteVO die „Ausgleichsleistung“ angerechnet werden könne. Dies legt nahe, dass die untereinander verrechenbaren Ansprüche den gleichen Rechtscharakter haben könnten. Die niederländische Sprachfassung der FluggastrechteVO dürfte diese Auslegung stützen, da diese in Art. 7 und Art. 12 FluggastrechteVO eine einheitliche Terminologie gebraucht. Der Anspruch aus Art. 7 FluggastrechteVO wird als „recht op compensatie“ und Art. 12 FluggastrechteVO als „verdere compensatie“ bezeichnet. Die niederländische Sprachfassung gebraucht den Begriff „compensatie“ zudem in Art. 13 FluggastrechteVO synonym mit dem Begriff „schadevergoeding“, was mit „Schadensersatz“ ins Deutsche zu übersetzen ist (vgl. van Capelle/Punt, Velder internationale vaktermenlijst, 1991, Stichwort „schadevergoeding“). Überdies hat der europäische Verordnungsgeber im Gesetzgebungsverfahren zwar bei den Betreuungs- und Unterstützungsleistungen die ursprünglich für die Fluggesellschaften vorgesehene Exkulpationsmöglichkeit gestrichen, diese für die Ausgleichsansprüche aber beibehalten (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Az.: C-344/04 unter Rn. 50-54 = NJW 2006, 351, 355). Da die Exkulpationsmöglichkeit der des MÜ entspricht, könnte dies dafür sprechen, dass der Verordnungsgeber davon ausgegangen ist, in Art. 7 FluggastrechteVO einen Schadensersatzanspruch im Sinne von Art. 29 MÜ zu regeln.

17. Es erscheint aufgrund der obigen Erwägungen ebenfalls ungeklärt, ob der Ausgleichsanspruch eine Vorschrift über eine standardisierte sofortige Wiedergutmachung ist, die von den Regelungen des MÜ nicht berührt wird. Dies dürfte der EuGH bislang ausdrücklich nur für die Betreuungs- und Unterstützungsleistungen festgestellt haben (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Az.: C-344/04 unter Rn. 45/46 = NJW 2006, 351, 355). Ob dies auch auf den Ausgleichsanspruch zutrifft, erscheint fraglich. Anders als bei den Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen ist kein besonderes Bedürfnis der Fluggäste ersichtlich, diesen Betrag neben den vorgenannten Leistungen sofort ausgezahlt zu bekommen. Bedeutsam erscheint überdies, dass das entscheidende Charakteristikum der sofortigen Wiedergutmachungen darin zu sehen ist, dass diese „standardisiert und sofort – ohne die Mühen gerichtlicher Geltendmachung (EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Az.: C-344/04 unter Rn. 45 = NJW 2006, 351, 355)“ geltendgemacht werden können. Dies ist bei den Betreuungs- und Unterstützungsleistungen unmittelbar einsichtig, weil die Fluggesellschaften sich nicht exkulpieren können. Beim Ausgleichsanspruch besteht hingegen eine Exkulpationsmöglichkeit, deren Vorliegen oftmals nicht sofort zweifelsfrei festgestellt werden kann. Die Vielzahl anhängiger Verfahren dürfte zudem belegen, dass dieser Anspruch oft nicht „ohne die Mühen gerichtlicher Geltendmachung“ zu erlangen ist.

c)

18. Der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO könnte (teilweise) ein nichtkompensatorischer Anspruch im Sinne von Art. 29 S. 2 MÜ sein. Nichtkompensatorische Schadensersatzansprüche im Sinne von Art. 29 S. 2 MÜ sind solche, die unabhängig davon gewährt werden, ob der Anspruchsinhaber einen Schaden erlitten hat oder nicht (vgl. Pokrant in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl. 2009, Art. 29 MÜ Rn. 14). Denkbar wäre, dass dem Reisenden die in Art. 7 Abs. 1 S. 1 Fluggast-rechteVO angegebenen Beträge als Mindestschadenspauschale in jedem Fall zustehen sollen, also auch dann, wenn ihm kein entsprechender Schaden entstanden ist. Dann könnte der Ausgleichsanspruch in den Fällen nichtkompensatorisch sein, in denen die Pauschale seine tatsächlichen Mehraufwendungen übersteigt, die ihm durch die Verspätung entstanden sind. Die FluggastrechteVO eröffnet den Fluggesellschaften keine Möglichkeit, den Ausgleichsanspruch des Fluggastes dadurch zu vermindern, dass sie nachweisen, dass ihm wegen der großen Verspätung kein Schaden oder ein geringerer Schaden entstanden ist, als der in Art. 7 Abs. 1 S. 1 FluggastrechteVO genannte Betrag. Nach seinem Wortlaut ermöglicht Art. 12 Abs. 1 S. 2 FluggastrechteVO nur, die Ausgleichsansprüche auf weitergehende Schadensersatzansprüche anzurechnen.

19. Zur Frage, ob der Ausgleichsanspruch kompensatorisch ist, dürfte bislang keine ausdrückliche Stellungnahme des EuGH vorliegen. Gesicherte Rechtsprechung dürfte sein, dass die in der FluggastrechteVO geregelten Passagierrechte dem Grunde nach trotz des Montrealer Übereinkommens zulässig sind (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Az.: C-344/04 unter Rn. 44 = NJW 2006, 351, 354; EuGH, Urt. v. 19.11.2009, Az.: C-402/07 und C-432/07 unter Rn. 51 = NJW 2010, 43, 45). Dies zieht das vorlegende Gericht auch nicht in Zweifel. Zudem dürfte sich auch aus dem Wortlaut des Art. 29 S. MÜ ergeben, dass das Abkommen seine Vertragspartner nicht hindert, weitere Anspruchsgrundlagen für die abkommensrechtlich geregelten Sachverhalte zu schaffen, sondern diese lediglich den Einschränkungen des Übereinkommens unterwirft. Damit dürfte aber noch nicht festgelegt sein, ob der Ausgleichsanspruch kompensatorisch oder (zumindest teilweise) nichtkompensatorisch ist (vgl. auch AG Köln, Beschl. v. 03.11.2011, Az.: 142 C 535/08). Dass der Ausgleichsanspruch in den Fällen, wenn er wegen einer Verspätung zu gewähren ist, nicht den Einschränkungen des MÜ unterfällt, hat der EuGH bislang nicht festgestellt, dies ist lediglich in Bezug auf die Unterstützungs- und Betreuungsleistungen geschehen. Deren Rechtscharakter dürfte sich aber von dem des Ausgleichsanspruchs unterscheiden. Um unnötigen Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die Ausführungen unter II. 4.) b) verwiesen. Auch die Feststellung des EuGH, der Ausgleichsbetrag solle für den unwiderruflich erlittenen Zeitverlust entschädigen (EuGH, Urt. v. 19.11.2009, Az.: C-402/07 und C-432/07 unter Rn. 52 = NJW 2010, 43, 45) dürfe auch keine Aussage enthalten, ob der Anspruch kompensatorisch ist oder nicht. Zeitverlust ist stets unwiderruflich. Dennoch ist Zeitverlust allein grundsätzlich noch kein Schaden. Sollte die verlorene Zeit der durch den Ausgleichsanspruch zu ersetzende Schaden sein, erscheint die ratio legis des Art. 12 Abs. 1 S. 2 FluggastrechteVO zweifelhaft. Die dort bestimmte Anrechnung würde unter diese Prämisse dazu führen, dass die verlorene Zeit an Wert verlieren oder sogar wertlos werden würde, wenn dem Fluggast durch die Verspätung Schaden entsteht. Dies erscheint nicht unmittelbar einsichtig.

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