Medizinischer Notfall bei Vor-​Flug

AG Rüsselsheim: Medizinischer Notfall bei Vorflug

Die Kläger buchten bei der Beklagten ein Flug von Las Vegas nach Frankfurt am Main. Das Flugzeug traf aufgrund eines medizinischen Notfalls auf dem Vorflug erst 22 Stunden später am Zielflughafen ein. Deshalb verlangen die Kläger von der Beklagten sowohl eine Ausgleichszahlung jeweils in Höhe von 600 € als auch die außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 83,54 €. Das Gericht sprach den Klägern die begehrten Ausgleichszahlungen auf Grundlage der Europäischen Fluggastrechteverordnung nicht zu.

AG Rüsselsheim 3 C 2273/13 (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 11.04.2015
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 11.04.2015, Az: 3 C 2273/13
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Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 11. April 2015

Aktenzeichen 3 C 2273/13

Leitsatz:

2. Ein medizinischer Notfall auf dem Vorflug begründet einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004, sodass das Luftfahrtunternehmen nicht haftet.

 

Zusammenfassung:

3. Die Kläger buchten bei der Beklagten ein Flug von Las Vegas nach Frankfurt am Main. Auf dem Vorflug von Frankfurt am Main nach Las Vegas, der schon mit 28 Minuten Verspätung gestartet ist, kam es zu einem medizinischen Notfall. Der betroffene Passagier konnte jedoch von einem Notarzt im Flugzeug behandelt werden. Ihm wurde der Weiterflug gestattet. Der Passagier verlor später aber das Bewusstsein und der Notarzt stellte Herzklappenflimmern fest. Aufgrund der großen Herzinfarktgefahr landete das Flugzeug in Keflavik zwischen. Im Zeitpunkt der Zwischenlandung war die maximal zulässige Flugdienstzeit der Besatzung von 15 Stunden bereits überschritten, auch gab es keine Verlängerungs- oder Ersatzcrewmöglichkeit. Der Vorflug landete schon mit erheblicher Verspätung in Las Vegas. Das Flugzeug des von den Klägern gebuchten Fluges kam schließlich mit 22 Stunden Verspätung am Zielflughafen an.

Deshalb verlangen die Kläger von der Beklagten sowohl eine Ausgleichszahlung jeweils in Höhe von 600 € als auch die außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 83,54 €.

Gemäß Art. 5 Abs. 3 der Europäischen Fluggastrechteverordnung entfällt für das Luftfahrtunternehmen die Pflicht zu Zahlung des Ausgleichs, wenn nachweislich ein außergewöhnlicher Umstand vorlag,  der auch dann nicht vermieden worden wäre, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dabei muss der Umstand nicht beherrschbar und unvermeidbar sein. Die Unvermeidbarkeit bezieht sich auch auf die rechtlich relevante Verspätung. Der medizinische Notfall war nicht vorhersehbar, sodass er unvermeidbar war. Eine Ersatzbesatzung hätte erst nach Keflavik gebrachten werden und dann nach Las Vegas weiterfliegen müssen, sodass es auch mit dieser aufgrund der Einhaltung der Flugdienstzeit zu einer Verspätung gekommen wäre. Ein Ersatzflugzeug hätte in Frankfurt am Main erst nach 3 Stunden starten können, sodass der Abflug in Las Vegas ebenfalls verspätet erfolgt wäre. Im Luftraum Amerika war kein Ersatzflugzeug verfügbar. Somit war ein solches zum Zeitpunkt des medizinischen Notfalls genauso ungeeignet, um die Verspätung zu vermeiden. Folglich lag ein außergewöhnlicher Umstand vor. Für das Luftfahrtunternehmen entfällt die Pflicht zur Ausgleichszahlung.

Das Gericht sprach den Klägern damit die begehrte Ausgleichszahlung auf Grundlage der Europäischen Fluggastrechteverordnung nicht zu. Die Nebenforderungen wurden ebenfalls abgelehnt.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben die Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Die Kläger begehren von der Beklagten insbesondere die Zahlung von Ausgleichsansprüchen nach der Verordnung (EG) 261/2004 (nachfolgend „VO“ genannt) wegen Flugverspätung, wogegen sich die Beklagte unter Berufung auf einen medizinischen Notfall an Bord des Vorfluges verteidigt.

6. Die Kläger buchten einen Flug von Las Vegas nach Frankfurt am Main mit der planmäßigen Abflugzeit am 01.03.2013 um 1.20 Uhr UTC (Ortszeit: 28.02.2013, 17.20 Uhr), der unter der Flugnummer … von der Beklagten durchgeführt werden sollte. Der Flug traf am Zielflughafen erst mit etwa 22 Stunden Verspätung ein. Die Flugentfernung betrug mehr als 3.500 km.

7. Nach Zahlungsaufforderung durch die Kläger mit Schreiben vom 17.03.2013 mandatierten diese ihre Prozessbevollmächtigten, die die Beklagte ebenfalls erfolglos zur Zahlung aufforderten.

8. Die Kläger beantragen,

9. die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger jeweils EUR 600,- nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.04.2013 sowie jeweils außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von EUR 83,54,- zu zahlen.

10. Die Beklagte beantragt,

11. die Klage abzuweisen.

12. Die Beklagte beruft sich auf eine Enthaftung nach Art. 5 Abs. 3 VO und behauptet in diesem Zusammenhang, die Verspätung sei auf einen medizinischen Notfall an Bord des Vorfluges von Frankfurt am Main nach Las Vegas zurückzuführen. Die Beklagte behauptet im Kern, der Vorflug … sei am Vortag des betroffenen Fluges (28.02.2013) um 11.43 Uhr UTC mit einer geringfügigen Verspätung von 28 Minuten in Frankfurt am Main gestartet. Während des Fluges sei ein medizinischer Notfall bei einem Passagier eingetreten. Daraufhin sei um 17.54 Uhr UTC eine Zwischenlandung erfolgt, um den Passagier in ein Krankenhaus zu bringen. Ein Weiterflug mit dem eingesetzten Fluggerät nach Las Vegas sei wegen Überschreitung der zulässigen Flugdienstzeiten der Besatzung nicht möglich gewesen. Selbst wenn eine Ersatzbesatzung unmittelbar vor Ort zur Verfügung gestanden hätte, hätte der betroffene Flug frühestens mit einer Verspätung von mehr als 3 Stunden um 4.39 Uhr UTC in Las Vegas starten können.

13. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen …. Auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 12.09.2013 (Bl. 22 f. d.A.) und der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme vom 27.03.2014 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

14. Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat zur Überzeugung des Gerichts dargetan und bewiesen, dass ein medizinischer Notfall auf dem Vorflug die rechtliche relevante Verspätung maßgeblich verursacht hat und damit die Voraussetzungen für eine Enthaftung gemäß Art. 5 Abs. 3 VO gegeben sind.

15. Die Beklagte kann sich mit Erfolg auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 der VO berufen. Nach dem Rechtsgedanken des Art. 5 Abs. 3 VO kann der Ausgleichsanspruch entfallen, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Nach den vom Europäischen Gerichtshof mit Urteil vom 22.12.2008 (Aktenzeichen C-​549/07) dazu aufgestellten Grundsätzen kommt ein Ausschluss des Ausgleichsanspruchs in Betracht, wenn die Verspätung auf tatsächlich unbeherrschbare und nicht als Teil der normalen Tätigkeit einzuordnende Vorkommnisse zurückzuführen ist.

16. Die Fluggesellschaft hat nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dabei nicht nur – nach Maßgabe des Wortlauts von Art. 5 Abs. 3 VO – die Unvermeidbarkeit des außergewöhnlichen Umstands darzutun, sondern darüber hinaus weiter – über den Wortlaut hinaus – die Unvermeidbarkeit der rechtlich relevanten Verspätung darzulegen (BGH, Urteil vom 24.09.2013 – X ZR 160/12). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat die Beklagte dagegen nicht darzutun, dass sie jedwede über 3 Stunden hinausgehende Verspätung möglichst gering gehalten hat (BGH, Urteil vom 24.09.2013 – X ZR 160/12). Ein „Wiederaufleben“ der Haftung nach stattgehabter Enthaftung kommt in Bezug auf einen bestimmten Flug nach dieser Rechtsprechungslinie nicht in Betracht.

17. Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben hat die Beklagte zur Überzeugung des Gerichts bewiesen, dass der medizinische Notfall an Bord des Vorfluges für das Eintreten der rechtlich relevanten Verspätung von 3 Stunden ursächlich war. Der Zeuge … hat überzeugend und detailreich bestätigt, dass der betroffene Flug mit dem für den Vorflug eingesetzten Flugzeug durchgeführt werden sollte. Bereits eine Stunde nach Abflug des Vorfluges habe es einen Hinweis auf gesundheitliche Probleme eines Passagiers gegeben, wobei dem Passagier durch einen Notarzt an Bord eine Weiterflugmöglichkeit bescheinigt worden sei. Gegen 15.30 Uhr UTC habe der Passagier das Bewusstsein verloren, und der Notarzt habe Herzkammerflimmern festgestellt. Der Notarzt habe eine sofortige Landung aufgrund großer Herzinfarktgefahr empfohlen. Das auf medizinische Notfälle in der Luftfahrt spezialisierte Unternehmen International-​SOS habe empfohlen, in Keflavik zu landen. Allein die Umstände, dass der Zeuge Mitarbeiter der Beklagten ist und seine Informationen aus Berichten des Notarztes, des Kapitäns und der Purserette entnimmt, erschüttern die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht. Ebenso wenig begründet der Umstand Zweifel, dass die Ausführungen der Beklagten sich nicht vollständig mit den Schilderungen des Zeugen decken. Denn der Zeuge hat den Vortrag in seinem entscheidungserheblichen Kern vollumfänglich bestätigt.

18. Das Gericht hält auf Grundlage der überzeugenden Schilderung des Zeugen … und der kurzen Zeitspanne zwischen dem Eintritt des medizinischen Notfalls um 15.30 Uhr UTC und dem geplanten Start des betroffenen Flugs um 1.20 UTC am Folgetag – selbst bei Anlegung äußerst strenger Maßstäbe – die Unvermeidbarkeit der rechtlich relevanten Verspätung für von der Beklagten dargetan und bewiesen. Der Zeuge … hat glaubhaft dargetan, dass die Beklagte zum Zeitpunkt der Kenntnis von dem medizinischen Notfall keine Möglichkeit gehabt hätte, den betroffenen Flug von Las Vegas nach Frankfurt am Main noch mit einer Verspätung von weniger als 3 Stunden durchzuführen. Das Fluggerät sei um 17.54 Uhr UTC in Keflavik gelandet, womit die maximal zulässigen Flugdienstzeiten der Besatzung bereits überschritten gewesen seien. Die eingesetzte Crew habe eine maximale Flugdienstzeit von 15 Stunden gehabt. Dies sei die absolute Grenze für Flugdienstzeiten, über die hinaus auch keine Verlängerungsmöglichkeit durch den Kapitän bestehe.

19. Eine Ersatzbesatzung hätte nach Verbringung nach Keflavik ebenfalls nicht rechtzeitig starten können, denn auch diese Besatzung hätte nicht sowohl die flugdienstzeitrelevante „Verbringung“ nach Keflavik als auch den Weiterflug nach Las Vegas innerhalb der zulässigen maximalen Flugdienstzeiten durchführen können. Schließlich sei auch der Einsatz eines Ersatzfluggeräts zur Vermeidung einer rechtlich relevanten Verspätung ungeeignet gewesen. Denn bei Einsatz eines Ersatzfluggeräts von Frankfurt am Main aus um 15.30 UTC (d.h. zum Zeitpunkt der Kenntnis vom medizinischen Notfall) hätte ein Start in Frankfurt am Main frühestens nach 3 Stunden erfolgen können, was zu einer Ankunft in Las Vegas am 01.03.2013 um 6.10 Uhr UTC geführt hätte. Unter Berücksichtigung einer üblichen Bodenzeit von 1.50 Stunden hätte das Flugzeug frühestens um 8.00 UTC in Las Vegas starten können. Im Luftraum „Amerika“ stünden keine Ersatzfluggeräte zur Verfügung.

20. Die Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung. Kosten: § 91 ZPO. Vorläufige Vollstreckbarkeit: §§ 708 Nr. 11, 709 ZPO.

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