Medizinischer Notfall außergewöhnlicher Umstand

AG Wedding: Medizinischer Notfall außergewöhnlicher Umstand

Ein Reisender buchte bei einem Luftfahrtunternehmen einen Linienflug. Dieser verspätete sich aufgrund eines medizinischen Notfalls an Bord um mehr als 5 Stunden. Der Kläger verlangt nun eine Ausgleichszahlung von der Airline. Diese weigert sich der Zahlung. In dem medizinischen Notfall sei ein außergewöhnlicher Umstand zu sehen, der zu einer Haftungsbefreiung führe.

Das Amtsgericht Wedding hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Ein medizinischer Notfall an Bord eines Flugzeuges sei von der Fluggesellschaft nicht zu kontrollieren und stelle aus diesem Grund einen Umstand dar, für den das Unternehmen nicht zu haften habe.

AG Wedding 2 C 115/10(Aktenzeichen)
AG Wedding: AG Wedding, Urt. vom 28.10.2010
Rechtsweg: AG Wedding, Urt. v. 28.10.2010, Az: 2 C 115/10
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Amtsgericht Wedding

1. Urteil vom 28. Oktober 2010

Aktenzeichen: 2 C 115/10

Leitsatz:
2. Ein medizinischer Notfall stellt einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 7 der Verordnung 261/2004 dar.

Zusammenfassung:
3. Ein Reisender buchte bei einem privaten Luftfahrtunternehmen einen Linienflug. Weil dieser mit mehr als 5 Stunden Verspätung startete, verlangt der Fluggast nun eine Ausgleichszahlung im Sinne von Art. 7 der Fluggastrechte Verordnung.
Die Airline verweigert jedoch die Zahlung. An Bord der Zubringerfluges habe sich ein medizinischer Notfall ereignet, weswegen der Pilot dazu gezwungen war zu wenden und den Startflughafen anzufliegen. In dem Notfall sei ein außergewöhnlicher Umstand zu sehen, der die Beklagte von einer Haftung befreie.
Das Amtsgericht Wedding hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Flugverspätungen von mehr als 3 Stunden seien nach der Fluggastrechte-Verordnung grundsätzlich durch eine angemessene Ausgleichszahlung zu entschädigen. Eine Ausnahme bestehe jedoch für Fälle, in denen die Verspätung auf einen außergewöhnlichen Umstand zurückzuführen sei.
Einen solchen definiere Art. 5 der Verordnung 261/2004 als nicht vorherzusehenden Zustand, der vollkommen außerhalb des Einwirkungsbereichs der Airline liege.
Der plötzlich Auftretende Bedarf an medizinischer Notversorgung sei für die Fluggesellschaft weder vorhersehbar, noch könne sie ihn eigenständig abwenden ohne den Flug zu unterbrechen. In der Folge hafte das Unternehmen dem Fluggast für die unverschuldete Verspätung nicht.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits als Gesamtschuldner zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Klägern wird nachgelassen, die Vollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages zzgl. 10 % abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten um Ausgleichsansprüche aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung zur Ausgleichs- und Unterstützungsleistung für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, im Folgenden „EG-Verordnung Nr. 261/2004„.

6. Die Kläger buchten über den Reiseveranstalter D. bei der Beklagten für den 30.10.2009 den Flug AB … von Malaga nach Berlin. Vorgesehener Abflugtermin war um 10:10 Uhr Ortszeit, die Ankunft in Berlin sollte um 13:25 Uhr erfolgen; tatsächlich verließ die Maschine erst um 15:41 Uhr das Gate in Málaga und erreichte Berlin um 18:49 Uhr, also mit einer Verspätung von über 5 Stunden.

7. Auf dem Vorflug des eingesetzten Flugzeuges von Düsseldorf nach Málaga kehrte der Pilot aufgrund eines medizinischen Notfalls an Bord der Maschine zum Ausgangsflughafen nach Düsseldorf zurück.

8. Dort verließ die Maschine das Gate um 11:50 Uhr und erreichte Málaga um 14:42 Uhr.

9. Die Kläger forderten die Beklagte mit Schreiben vom 25.11.2009, 07.12.2009 und 07.01.2010 auf, eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400,00 EUR pro Person, also insgesamt 1.200,00 EUR zu zahlen.

10. Mit Schreiben vom 02.12.2009 und 25.01.2010 lehnte die Beklagte die Zahlung eines Ausgleiches in dieser Höhe ab, stellte jedoch bereits am 02.12.2009 einen Scheck in Höhe von 50,00 EUR als Erstattungsbetrag für die Verspätung aus.

11. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger stellte für seine außergerichtlichen Bemühungen am 11.02.2010 eine Rechnung über 155,30 € (Kopie Bl. 12 der Akten), deren nichtanrechenbaren Teil die Kläger im eigenen Namen für die Rechtsschutzversicherung geltend machen.

12. Die Kläger sind der Ansicht, dass die Beklagte gem. Art. 7 EG-Verordnung Nr. 261/2004 aufgrund der Verspätung des Fluges verpflichtet sei, eine Ausgleichszahlung von 400,00 EUR pro Person zu leisten.

13. Sie behaupten, dass die Beklagte nicht die notwendigen Vorkehrungen getroffen habe, um einen zügigen Weiterflug aus Düsseldorf zu gewährleisten und vertreten die Auffassung, dass insoweit die Verspätung der Beklagten zurechenbar sei.

14. Die Kläger beantragen die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger zu 1 bis 3 jeweils 400,00 EUR nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.12.2009 und an die Kläger als Gesamtgläubiger nicht festsetzbare außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 89,55 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

15. Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.

16. Sie behauptet, alles Zumutbare unternommen zu haben, um die Folgen des medizinischen Notfalls abzuwenden.

17. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

18. Die zulässige Klage ist unbegründet.

19. Zwischen den Parteien bestand unstreitig ein Beförderungsvertrag. Auf diesen ist gemäß Art. 3 Abs. 1 die EG-Verordnung Nr. 261/2004 über Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung, Annullierung und großer Verspätung von Flügen anwendbar, da die Kläger ihre Reise auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats angetreten haben. Ein Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 Abs. 1 (b) EG-Verordnung Nr. 261/2004 besteht jedoch nicht.

20. Durch die EG-Verordnung Nr. 261/2004 sollen die Rechte von Fluggästen im europäischen und eingeschränkt auch im internationalen Luftverkehr verbessert werden. Der Anwendungsbereich von Art. 7 der EG-Verordnung Nr. 261/2004 wurde deshalb erweitert auf die Fälle der über dreistündigen Verspätung eines Fluges, vgl. EuGH, Urteil vom 19.11.2009 Rechtssachen C-402/07 und C-432/07.

21. Die Verspätung des Flugs AB … war aber gemäß Art. 5 Abs. 3 EG-Verordnung Nr. 261/2004 auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

22. Zu den außergewöhnlichen Umständen muss nach der nicht abschließenden Aufzählung im Erwägungsgrund Nr. 14 der EG-Verordnung Nr. 261/2004, der bei der Interpretation heranzuziehen ist, auch ein medizinischer Notfall, der jedenfalls zum Zeitpunkt des Abfluges nicht vorhersehbar war, zählen. Solche außergewöhnlichen Umstände waren hier aufgrund der Erkrankung des Passagiers und der damit verbundenen Verzögerung sowie der notwendigen Rückkehr nach Düsseldorf gegeben.

23. Bei der Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 EG-Verordnung Nr. 261/2004 handelt es sich um einen verschuldensabhängigen Anspruch. Er greift nur dann, wenn der Luftbeförderer schuldhaft handelt, wobei eine Beweislastumkehr gilt, d.h. gemäß Art. 5 Abs. 3 EG-Verordnung Nr. 261/2004 der Beförderer nachweisen kann, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurück geht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

24. Die Beklagte hat substantiiert und schlüssig dargelegt, dass sie die Verzögerung aufgrund der notwendigen Rückkehr nach Düsseldorf nicht hätte abwenden können. Nach ihrem Vortrag ist davon auszugehen, dass die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Abflughafen Düsseldorf aufgrund der Wetterlage und der Bedürfnisse des Patienten aber auch aufgrund der besseren Zusammenarbeit zwischen Flughafen und Fluggesellschaft sowie Rettungskräften gegeben war.

25. Der lange Aufenthalt in Düsseldorf nach der außerplanmäßigen Rückkehr zur Versorgung des Patienten kann der Beklagten im Gegensatz zu der Auffassung der Kläger hier nicht zur Last gelegt werden, denn das Gericht geht nach dem Vortrag der Beklagten davon aus, dass die notwendige längere Aufenthaltszeit in Düsseldorf darauf zurückzuführen war, dass hier ein außerplanmäßiger Flug außerhalb des Flugplans für diesen Tag vorlag, der die Beantragung einer neuen Start- und Landegenehmigung voraussetzte.

26. Entgegen der Auffassung der Kläger führt auch nicht der Umstand, dass in Málaga zügig abgefertigt und weniger als eine Stunde nach Ankunft wieder gestartet werden konnte, dazu, dass hier ein Verschulden der Beklagten anzunehmen ist. Es ist schlüssig vorgetragen, dass die Beklagte aufgrund des langen Aufenthaltes in Düsseldorf die Gelegenheit hatte und nutzte, bereits vor Abflug des Flugzeuges in Düsseldorf eine aufgrund der Verspätung ebenfalls erforderliche Start- und Landegenehmigung für Málaga zu beantragen.

27. Während in Düsseldorf zunächst die Versorgung des erkrankten Passagiers erfolgen musste, musste die Maschine in Malaga “ nur“ von den Passagieren bestiegen und deren Gepäck nach einem gängigem koordinierten Ablauf eingeladen werden.

28. Auch der Behauptung der Kläger, das Ausladen des Gepäckstückes des erkrankten Passagiers in Düsseldorf hätte schneller erfolgen können, folgt das Gericht nicht.

29. Vielmehr steht fest, dass das Auffinden und Ausladen eines einzelnen Gepäckstückes naturgemäß mehr Zeit in Anspruch nimmt als das Be- und Entladen aller an Bord befindlichen Gepäckstücke. Die Gepäckstücke sind markiert und können schnell identifiziert werden. Dennoch ist das Auffinden eines einzelnen aller an Bord befindlichen Gepäckstücke naturgemäß mit mehr Zeitaufwand verbunden und erfordert einen logistisch größeren Aufwand als das in seinem Ablauf stark koordinierte Ausladen allen Gepäcks.

30. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Schadensersatz aus den §§ 283, 280 Abs. 1 S. 2 BGB, da die Beklagte aufgrund des Vorliegens der außergewöhnlichen Umstände kein Verschulden trifft.

31. Den Klägern steht auch kein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von € 89,55 nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz für die nicht festsetzbaren außergerichtlichen Anwaltskosten aus §§ 280 Abs. 1, 2 BGB zu, da diese keinen ersatzfähigen Schaden darstellen.

32. Der verzugsbedingte Schadensersatz besteht in Abhängigkeit von der Begründetheit des Hauptanspruches, der hier jedoch nach den obigen Ausführungen nicht gegeben ist.

33. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen hinsichtlich der Kosten aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO und hinsichtlich der Entscheidung zu Ziffer 3. aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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