Keine Bindung an entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH

AG Düsseldorf: Keine Bindung an entgegenstehende Rechtsprechung des EuGH

Flugreisende forderten von einer Fluggesellschaft eine Ausgleichszahlung aufgrund der über 6-stündigen Verspätung ihres Fluges.

Das Amtsgericht Düsseldorf wies die Klage ab und widersprach damit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, welche erhebliche Verspätung mit ausgleichspflichtiger Annullierung gleichsetzt und beides gleich behandelt.

AG Düsseldorf 51 C 15046/11 (Aktenzeichen)
AG Düsseldorf: AG Düsseldorf, Urt. vom 26.07.2012
Rechtsweg: AG Düsseldorf, Urt. v. 26.07.2012, Az: 51 C 15046/11
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Amtsgericht Düsseldorf

1. Urteil vom 26. Juli 2012

Aktenzeichen 51 C 15046/11

Leitsatz:

2. Artikel 7 der Europäischen Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004 findet nur Anwendung, sofern die Verordnung auf ihn verweist. Im Falle von Verspätungen, die der Artikel 6 behandelt, ist dies nicht gegeben, sodass keine Ausgleichansprüche ableitbar sind.

Zusammenfassung:

3. Flugreisende begehrten eine Ausgleichszahlung aufgrund der mehr als 6-stündigen und damit erheblichen Verspätung ihres Fluges. Sie beriefen sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, welche Verspätungen am Endziel von über 3 Stunden mit Annullierung gleichsetzt und entsprechend Ausgleichsansprüche zugesteht.

Das Amtsgericht Düsseldorf folgte in seinem Urteil der Rechtsauslegung des EuGH nicht und wies die Klage ab. In der Begründung hieße es, der eindeutige Wortlaut der Verordnung sähe eine Anwendung des Artikels 7 der Europäischen Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004 nur vor, sofern darauf verwiesen werde. Dies sei für im Artikel 6 der Verordnung und damit für Flugverspätungen nicht gegeben. Die Kammer sah sich an die nicht überzeugende Rechtsauslegung des EuGH, sowie des Bundesgerichtshofes nicht dahingehend gebunden, die Gleichsetzung von großer Verspätung und Annullierung nicht ablehnen zu dürfen.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Den Klägern fallen die Kosten des Rechtsstreits zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

5. Die Kläger nehmen die Beklagte auf Ausgleichszahlung in Höhe von je 400,00 Euro nach der EU-​Fluggastrechte-​Verordnung VO EG Nr. 261/2004 in Anspruch.

6. Die Kläger flogen mit der Beklagten von Rhodos nach E unter der Flugnummer E 0000. Der Flug wurde von der Beklagten als Luftfahrtunternehmen ausgeführt. Es sollte planmäßig um 10:50 Uhr am 13.10.2011 abgeflogen werden; das Flugzeug sollte am gleichen Tag um 13:50 Uhr in E landen. Tatsächlich landete der Flug in E jedoch erst am 13.10.2011 um 20:00 Uhr. Die Ankunft erfolgte mithin 6 Stunden und 20 Minuten später als ursprünglich geplant. Die Flugentfernung zwischen Rhodos und E beträgt 2 370 km.

7. Die Kläger verlangen aus diesem Sachverhalt neben vorgerichtlichen Kosten einen Ausgleich analog Art. 7 I b der oben genannten Fluggastrechte-​Verordnung in Höhe von jeweils 400,00 Euro. Sie vertreten die Ansicht, der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 VO EG Nr. 261/2004 finde auch Anwendung auf die Fälle verspäteter Flüge mit einem Zeitverlust von 3 Stunden oder mehr gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit und verweisen auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 19.11.2009, C-​402/07 und C-​432/07, NJW 2010, 43 ff.) und des BGH (Urteil vom 18.02.2010, Xa ZR 95/06, NJW 2010, 2281 f.).

8. Die Kläger weisen darauf hin, dass die Beklagte nicht gem. Art. 5 III der EU-​Fluggastrechte-​Verordnung von ihrer Leistungsverpflichtung wegen des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände befreit sei.

9. Die Kläger vertreten darüber hinaus die Meinung, gleichzeitig gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung des geltend gemachten Verzugsschadens zu haben. Gegen die Inrechnungstellung einer 1,5 Geschäftsgebühr sei nichts einzuwenden.

10. Die Kläger beantragen,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1 und an den Kläger zu 2 je 400,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab dem 13.10.2011 sowie je zur Hälfte 139,23 Euro Verzugsschaden zu zahlen,

hilfsweise,

sie von der Forderung ihrer Vertreter in dieser Höhe freizustellen.

11. Die Beklagte bittet um

Klageabweisung.

12. Sie meint, die Klage sei schon mangels Vorlage einer Buchungsbestätigung unschlüssig.

13. Die Beklagte erklärt vorsorglich die Anrechnung gem. Art. 12 I der oben genannten Verordnung. Diese Anrechnung erfolgt hinsichtlich der geltend gemachten vorgerichtlichen Gebühren und etwaiger Schadensersatz- oder Minderungsansprüche.

14. Die Beklagte beruft sich für in den Flug E 0000 vom 13.10.2011 von Rhodos nach E auf das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes mit der Folge, dass gem. Art. 5 III der EU-​Verordnung Leistungsfreiheit eingetreten sei. Die Beklagte behauptet, Grund für die Verspätung des Fluges von Rhodos nach E sei der Ausfall der Flugsicherungssysteme in Griechenland in den für den Flug relevanten Flugsicherungssektoren gewesen. Die Durchführung eines Verkehrsfluges ohne die Leitung durch ein funktionierendes Flugsicherungssystems sei nicht möglich.

15. Die Beklagte tritt dem Anspruch der Kläger auf Erstattung außergerichtlicher Anwaltsgebühren ausführlich entgegen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Klageerwiderung vom 16.02.2012, Blatt 1 ff. d. A. verwiesen.

Entscheidungsgründe:

16. Die Klage ist unbegründet.

17. Die Kläger haben anlässlich der von ihnen erlittenen Flugverspätung keinen Anspruch aus Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004.

18. Vorweg zu schicken ist, dass die Beklagte es unstreitig gelassen hat, die Kläger befördert zu haben. Da sich der von den Klägern geltend gemachte Anspruch gegen die Beklagte als ausführende Luftfahrtführerin richtet, kommt es nicht darauf an, ob die Kläger zur Vorlage einer bestätigten Buchung in der Lage sind. Es kommt hinzu, dass die Kläger in der Anlage K 2 zur Replik die Buchungsbestätigung und die Tickets eingereicht haben.

19. Im vorliegenden Fall liegt eine Flugverspätung vor, die in Art. 6 der Verordnung geregelt ist. Entgegen der von den Klägern zitierten Rechtsprechung des EuGH und des BGH kann aber im Falle einer dem Artikel 6 unterliegenden Verspätung eines Fluges eine Verpflichtung der Fluggesellschaft, eine Ausgleichszahlung hierfür leisten zu müssen, nicht angenommen werden.

20. Der Wortlaut der Verordnung ist eindeutig. Nach dem Wortlaut des Art. 7 ist eine Ausgleichszahlung in den Fällen zu leisten, in denen die Verordnung auf Art. 7 verweist. Im Falle der Verspätung ist dies nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 6 nicht der Fall. Will man den Tatbestand einer Verspätung mit dem unstreitig ausgleichspflichtigen Tatbestand etwa der Annullierung eines Fluges gleichstellen, so unterstellt man dem Verordnungsgeber eine planwidrige Regelungslücke, also praktisch ein gesetzgeberisches Versehen, dahingehend, dass trotz entsprechender Absicht für den Fall der Verspätung keine Ausgleichszahlung normiert worden ist bzw. dieser Fall planwidrig und versehentlich übersehen wurde. Hiervon kann nicht ausgegangen werden. Die Erwägungen des EuGH in diesem Punkt sind unzutreffend. Der vom EuGH in Anspruch genommene Erwägungsgrund der Verordnung, nämlich den Fluggästen ein „hohes Flugniveau“ zu gewährleisten, bedeutet nicht, dass in allen geregelten Fällen ein einheitliches und gleich hohes Schutzniveau vom damaligen Verordnungsgeber beabsichtigt gewesen sein soll. Es ist daher im Falle der Aufführung und Regelung unterschiedlicher Tatbestände schon rein logisch für unterschiedliche Fälle auch ein unterschiedlich hohes „Schutzniveau“ denkbar. So ist die Verordnung Nr. 261/2004 auch aufgebaut. Die Fälle der Nichtbeförderung, der Annullierung und der Verspätung werden im Einzelnen und getrennt voneinander aufgeführt und jeweils ausführlichen Bestimmungen unterworfen. Dies wäre im Falle der Absicht der Gewährung eines immer gleichen Schutzniveaus nicht nötig gewesen und ergäbe demzufolge auch keinen nachvollziehbaren Sinn, da man dann die Fälle hätte einheitlich regeln können, wenn man sie auch einheitlichen Rechtsfolgen hätte unterwerfen wollen. Die detaillierte Aufführung und unterschiedliche Regelung von mehreren Tatbeständen im Gesetz weist daher in die gegenteilige Richtung, nämlich, dass eben unterschiedlich hohe Schutzniveaus bezüglich der Rechtsfolgen hergestellt werden sollten. Der EuGH geht unzutreffend und ohne tiefere Begründung davon aus, dass ein hohes Schutzniveau auch immer ein gleich hohes Schutzniveau bedeuten muss. Dies hätte der Verordnungsgeber auch auf einfachere Weise herstellen können, entweder durch eine gemeinsame Regelung für alle Fälle oder durch einen ebenso einfachen Verweis in Art. 6 auf Art. 7. Beides liegt jedoch nicht vor. Vielmehr ist in den unterschiedlichen Bestimmungen für voneinander abgegrenzte Tatbestände der Wille einer unterschiedlichen Behandlung unterschiedlicher Fälle erkennbar und eben nicht die Absicht, alle Fälle mehr oder weniger gleich behandeln zu wollen. Die Absicht, alle Fälle gleich behandeln zu wollen, kann deshalb dem europäischen Verordnungsgeber nicht einfach unterstellt werden. Die Anwendung des Art. 7 auch auf Verspätungsfälle hätte der ausdrücklichen Entscheidung des Verordnungsgebers bedurft. Der Rechtsprechung kommt bei dieser Sachlage keine Befugnis zu, dem Verordnungsgeber zu unterstellen, er habe keine Unterschiede in dem jeweiligen Umfang der Gewährung eines hohen Schutzniveaus beabsichtigt.

21. Auch eine Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes führt zu keiner anderen Beurteilung. Selbst wenn man sich der Auffassung des EuGH anschließen wollte, dass die Interessenlage des Fluggastes und der ihm entstehende Schaden im Falle einer Annullierung und einer Verspätung als gleich zu bewerten sein sollen (was weder zwingend noch begründet ist), so führt allein diese Annahme noch nicht dazu, dass diese Fälle auch gleich zu behandeln sein müssen. Denn auf Grund der obigen Erwägungen kann nicht unterstellt werden, dass diese Wertung der Gleichbehandlung dieser Fälle auch die Wertung des Verordnungsgebers bei Verabschiedung seines Regelwerkes war. Wäre der Verordnungsgeber von der Gleichartigkeit der Fälle und der Interessenlagen ausgegangen, hätte es ihm oblegen, zu entscheiden, ob er in beiden Fällen eine Ausgleichszahlung gewähren wollte oder aber in keinem Fall oder etwa in unterschiedlicher Höhe. Denn für den Verordnungsgeber wären auch die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Gleichbehandlung für die Betroffenen einer solchen Regelung zu bedenken gewesen, was nicht ausschließt, dass er zu einer anderen Bewertung gekommen wäre, hätte er gewollt oder erkannt, dass beide Fälle mit gleichen Rechtsfolgen versehen werden müssten. Da aber aus den bereits ausgeführten Gründen nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Verordnungsgeber eine Gleichbehandlung der Verspätung mit der Annullierung mit der Rechtsfolge einer Ausgleichzahlung in der von ihm vorgesehenen Höhe bereits in seine Absichten aufgenommen hatte, obliegt es nach wie vor der legislativen Entscheidung des Verordnungsgebers, darüber zu befinden, ob Fälle gleich gelagert sind, oder ob sie als gleich gelagert zu behandeln sind.

22. Es wiederspricht zwar grundsätzlich nicht den Maximen der Gewaltenteilung, wenn die Judikative über Analogien neue Haftungstatbestände schafft. Dies ist bei der Betrachtung jahrelanger Rechtsentwicklungen häufig der Fall gewesen, ohne dass der Rechtsprechung vorgeworfen worden wäre, ihre Befugnisse zu überschreiten. Im konkreten Fall jedoch erweisen sich die Erwägungen des EuGH als Überdehnung judikativer Befugnisse und als Verletzung der in einem auf Gewaltenteilung beruhenden rechtsstaatlichen System allein der Legislative zukommenden Kompetenzen, weil die Rechtsprechung trotz entgegenstehenden Wortlauts der gesetzgeberischen Entscheidung unterschiedliche Fälle gleich behandelt. Dies kann das Gericht nicht mittragen.

23. Das Gericht ist nicht der Meinung, dass es an die Rechtsprechung des BGH und des EuGH so gebunden ist, dass es eine Analogie des Art. 7 auf Flugverspätungsfälle nicht ablehnen darf. Die Kläger haben hierzu ausgeführt, die von ihnen zitierten Urteile des EuGH bewirkten nicht nur eine Bindungswirkung inter partes, sondern auch erga omnes. Art. 243 EG-​Vertrag berechtigt die Instanzgerichte zur Aussetzung des Verfahrens und zur Vorlage an den EuGH, verpflichtet sie aber nicht. Eine Bindung an ein Urteil des EuGH besteht nur für die Parteien des Ausgangstreitverfahrens, also für das vorlegende Gericht und für die mit demselben Verfahren befassten Instanzgerichte (vgl. Karpenstein in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Lose-​Blatt-​Sammlung, Art. 234 Randzimmer 93 ff; Gaitanides in von der Groeben/Schwarze, Vertrag über die Europäische Union, Kommentar, 6. Auflage, Band 4, Art. 234 Randzimmer 89; Kommentar zu Wegener in Kommentar zum EU-​Vertrag und EG-​Vertrag, Art. 234 Randziffer 32). Keine Bindungswirkung entfaltet sich gegenüber allen mit gleich gelagerten Fällen sich beschäftigende Gerichte.

24. Die ungeklärte Rechtslage hinsichtlich des Bestehens eines Anspruchs auf Ausgleichsleistung bei einer nur verspäteten Beförderung durch ein Luftfahrtunternehmen verdeutlicht sich auch dadurch, dass deutsche und anderen EU-​Mitgliedsstaaten angehörige Gerichte Vorlagebeschlüsse erlassen haben, vgl. etwa den Vorlagebeschluss des Landgerichts Köln vom 26.07.2011 (10 S 224/10), des Amtsgerichts Köln vom 04.10.2010 (142 C 535/08), des Amtsgerichts Lübeck vom 20.11.2011 (33 C 3038/10) sowie des UK High Court vom 10.08.2010 (CO 6569/2010). Auch setzten einige Gerichte bis zur Entscheidung des EuGH analog 148 ZPO die Verfahren aus, so etwa das Landgericht Berlin in seinem Beschluss vom 21.02.2012 (49 S 34/11), das Amtsgericht Wedding in seinem Beschluss vom 26.09.2011 (16 C 357/11), das Amtsgericht Nürnberg in seinem Beschluss vom 06.10.2011 (18 C 5781/11) und das Amtsgericht Steinfurt in seinem Beschluss vom 02.12.2011 (21 C 156/11).

25. Auf die Frage, ob die Beklagte sich entlasten kann, kommt es nach allem dem ebenso wenig an wie auf die Frage, ob den Klägern den von ihnen geltend gemachte Anspruch auf Begleichung der vorgerichtlichen Kosten dem Grunde und der Höhe nach zustehen kann.

26. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 I, 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.

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