Außergewöhnliche Umstände und ausführendes Luftfahrtunternehmen

AG Hannover: Außergewöhnliche Umstände und ausführendes Luftfahrtunternehmen

Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung wegen der Annullierung seines Fluges. Die beklagte Fluggesellschaft berief sich ohne Erfolg auf wilden Streik als einen außergewöhnlichen Umstand und wurde verurteilt.

AG Hannover 425 C 1171/17 (Aktenzeichen)
AG Hannover: AG Hannover, Urt. vom 03.05.2017
Rechtsweg: AG Hannover, Urt. v. 03.05.2017, Az: 425 C 1171/17
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Amtsgericht Hannover

1. Urteil vom 3. Mai 2017

Aktenzeichen 425 C 1171/17

Leitsatz:

2. Eine unerwartet hohe Krankmeldungswelle des Personals einer Fluggesellschaft stellt keinen außergewöhnlichen Umstand dar.

Zusammenfassung:

3. Ein Flugreisender forderte für sich und seine Ehefrau eine Ausgleichszahlung, da der Flug des Ehepaars von Hannover nach Teneriffa annulliert wurde. Außerdem begehrte der Kläger die Erstattung von Parkgebühren, die ihm dadurch zusätzlich entstanden waren. Die beklagte Fluggesellschaft berief sich auf wilden Streik seines Personals als außergewöhnlichen Umstand, der zu einer Umstrukturierung des Flugplans inklusive zahlreicher Annullierungen geführt hatte.

Das Amtsgericht Hannover gab der Klage weitgehend statt. Der Kläger war durch die Abtretung des Rechts seiner Gattin aktivlegitimiert. Ferner stand ihm für die Annullierung eine Ausgleichszahlung zu. Außergewöhnliche Umstände, die in der Fluggastrechteverordnung nicht definiert werden, sah das Gericht nicht vorliegen, da der Ausfall von Personal technischen Defekten gleich ein Risiko darstellt, das dem normalen Flugbetrieb innewohnt. Außerdem hatte die Beklagte auf den Personalausfall durch die radikale Streichung von Flügen und die Durchführung von Leerflügen in einer Weise reagiert, die den Ermessenspielraum überschritt und die Menge geschädigter Passagiere vergrößert hatte.

Die Erstattung der Parkgebühren stand dem Kläger indes nicht zu, da die Verordnung diesbezüglich keine Ausgleichspflichten vorsieht.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 800,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.02.2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 6 % und die Beklagte zu 94 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen die gegen sie gerichtete Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Der Kläger begehrt von der Beklagten Ausgleichszahlungen nach der sogenannten Fluggastrechteverordnung (EG-Verordnung Nr. 261/2004) aus eigenen und abgetretenem Recht sowie Erstattung von Fahr-/Parkkosten.

6. Der Kläger hatte am 10.05.2016 für sich und seine Ehefrau bei Schauinslandreisen eine Reise nach Teneriffa für die Zeit vom 8. Oktober bis 18.10.2016 gebucht. Der Hinflug von Hannover nach Teneriffa sollte von 10:45 Uhr bis 14:55 Uhr durch die Beklagte mit der Flugnummer X3 2144 durchgeführt werden.

7. Am Abend des 30.09.2016 (Freitag) informierte der Aufsichtsratsvorsitzende der Beklagten sämtliche Mitarbeiter in einem Management-Letter darüber, dass die Geschäftsleitung Gespräche mit der Etihad Airways über die Zukunft und die Zusammenarbeit der Beklagten mit Air Berlin/Etihad sowie gegebenenfalls Lufthansa/Eurowings führe. Bei den Mitarbeitern und der Arbeitnehmervertretung wurde dies als eine einschneidende Umstrukturierung bei der … eingeordnet. Die Arbeitnehmervertretung richtete sogleich einen Krisenstab ein und verteilte eine Mitteilung mit Forderungen an den Arbeitgeber an die Mitarbeiter. Daraufhin kam es zu einer Welle von Krankmeldungen des Cockpitpersonals und des Kabinenpersonals. gen. Am Abend des 07.10.2016 wurde vereinbart, dass die Entscheidung über die Zukunft der Beklagten vertagt werde. Die Arbeitnehmervertretung rief daraufhin das Personal auf, den Flugdienst wieder aufzunehmen. Als der Kläger unter seine Ehefrau am 8. Oktober gegen 8:45 Uhr am Flughafen Hannover eintrafen, wurde an der Anzeigetafel „annulliert“ angezeigt. Nach der Großkreisberechnung beträgt die Entfernung von Hannover nach Teneriffa 3.473 km.

8. Der Kläger behauptet, dass seine Ehefrau ihm ihre Ansprüche aus der Luftbeförderung seitens der Beklagten abgetreten hat. Für die Anfahrt mit eigenem Kraftfahrzeug zum Flughafen (156 km) seien ihm inklusive Parkkosten von 2,00 EUR Kosten in Höhe von 46,80 EUR entstanden. Im Übrigen bestreitet er das gesamte Vorbringen der Beklagten mit Nichtwissen. Bevor eine Einvernahme der Zeugin … in Betracht käme, müsste die Beklagtenseite Dienstpläne vorlegen. Er bestreitet, dass ein sogenannter wilder Streik vorgelegen habe sowie die Authentizität der angeblichen Aussagen in der geschlossenen Facebook-Gruppe und der geschlossenen WhatsApp-Gruppe. Wenn die Beklagte einen wilden Streik behauptet, müsse sie sich auch die Frage gefallen lassen, was sie eigentlich an Sanktionen gegen die mit oder ohne ärztlichen Attest krank gemeldeten Mitarbeiter des fliegenden Personals ergriffen habe, wenn die Krankmeldungen aus Sicht der Beklagten rechtswidrig gewesen sein sollen. Er weist darauf hin, dass Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung eng auszulegen ist, um ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sicherzustellen. Die Beklagte könne offenbar hausgemachte Probleme nicht auf dem Rücken ihrer Passagiere austragen und ihnen dann auch noch an die geschuldete Ausgleichszahlung vorenthalten. Personalmangel – auch durch Krankheit – sei ein Phänomen, das auch beim Betrieb eines Luftfahrtunternehmens auftritt und somit typischerweise der Risikofähre des Luftfahrtunternehmens zuzurechnen sei. Dem gesamten Vorbringen der Beklagtenseite fehle es an der erforderlichen Substanz. Er bestreitet, dass die Beklagte alles Erforderliche getan haben soll, um die Annullierung zu verhindern. Er bestreitet zudem, dass die Beklagte auch bei renommierten und vor allem großen Fluggesellschaften nach Subchartern nachgefragt habe. Schließlich sei die Beklagte verpflichtet gewesen, bei anderen Fluggesellschaften nach freien Flügen nachzufragen. Die Ferry-Flüge am 08.10.2016 hätten auch mit Passagieren durchgeführt werden können. Im Übrigen weist er darauf hin, dass nach dem eigenen Managementletter der Beklagten ohnehin Überkapazitäten im Flugmarkt vorhanden gewesen sind, also auch bei der Beklagten, die hätten eingesetzt werden können. Er bestreitet eine Erforderlichkeit der Aufhebung des gesamten Flugplans.

9. Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 848,80 EUR Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

10. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11. Sie bestreitet eine Abtretung der Ehefrau des Klägers sowie einen Anspruch der Klägerseite auf Ausgleichszahlungen nach der Fluggastrechteverordnung, weil außergewöhnliche Umstände vorgelegen hätten, die sich auch bei allen zumutbaren Maßnahmen nicht hätten vermeiden lassen. Die Krankmeldungswelle sei als Streikmaßnahme einzustufen. Insoweit bezieht sich die Beklagte auf verschiedene Pressemeldungen. Im Einzelnen wird auf Blatt 20–25 der Akte (Seite 4–9 der Klageerwiderung) Bezug genommen. Diese kollektive Krankmeldungswelle stelle einen außergewöhnlichen Umstand gemäß Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung dar. Es habe ein wilder Streik vorgelegen. Dies ergebe sich aus dem Inhalt der ab dem 2./03.10.2016 gebildeten geschlossenen Facebook-Gruppe bzw. WhatsApp-Gruppe innerhalb des Crewpersonals. Ein Streik sei insbesondere auch dann ein außergewöhnlicher Umstand, wenn es sich um einen unangekündigten, wilden Streik handele, denn dieser trete stets spontan auf und nehme damit dem Luftfahrtunternehmen jegliche Möglichkeit, sich darauf im Vorhinein einzustellen. Jedenfalls aber hätten die vorliegenden Umstände nicht mehr zu dem „normalen Betrieb“ einer Airline gehört. Eine derartige Krankheitswelle führe zu einer Lahmlegung des Luftfahrtunternehmens und stelle ein von außen kommendes, nicht beherrschbares Vorkommnis dar, das weit jenseits der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftverkehrsunternehmens liege. Dies habe es in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland nicht gegeben und niemand habe damit rechnen können, sodass man sich auch nicht habe darauf einstellen können. Schließlich habe die Beklagte sofort alles unternommen, was irgendwie zu unternehmen gewesen sei. In einer Situation wie dieser, in der ein außergewöhnlicher Umstand naturgemäß nicht nur einen oder wenige Flüge betreffe, sondern das gesamte Flugprogramm eines Luftfahrtunternehmens und darin zu extremen Verwerfungen führe, habe das Luftfahrtunternehmen den Flugplan insgesamt in den Blick zu nehmen und neu zu organisieren, soweit ihm dies möglich sei, wobei die Interessen aller seiner Fluggäste gleichermaßen zu berücksichtigen seien. Im Rahmen der notwendigen Umplanung komme dem Luftfahrtunternehmen ein Ermessen zu. Dass die Beklagte über eine auf Engpässe gut vorbereitete Crewplanung verfüge, sei daran zu sehen, dass trotz des überdurchschnittlichen Krankheitsstandes am 2. Oktober noch nahezu ausnahmslos alle Flüge pünktlich geflogen seien. Sie habe mehrfach täglich an den Tagen 2.10. bis 09.10.2016 bei sämtlichen Airlines und Charterflugagenten, die den Subcharter-Markt vollständig abdeckten, nach Subchartern nachgefragt. Ab dem 5./6.10.2016 habe die drastische Steigerung der Krankmeldungszahlen eine Planung der ursprünglich in Aussicht genommenen Flüge für den 05.10.2016 und die Folgetage nicht mehr zugelassen. Deshalb sei es erforderlich gewesen, die Hinflüge der Flugtage 7./08.10.2016 vollständig zu annullieren. Diese Entscheidung beruhe auf der Prognose, dass mindestens mit gleich bleibendem, wenn nicht auch mit einem höheren Ausfall des Crewpersonals zu rechnen gewesen sei. Man habe zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht wissen können, ob/wann der wilde Streik ein Ende haben würde und eine Flugplanung wieder möglich sein werde. Es sei deshalb nicht zu verantworten gewesen, die Fluggäste am 7./8.10.2016 zu dem Abflughäfen erscheinen und abwarten zu lassen. Von der Verkehrszentrale sei entschieden worden, die Kräfte darauf zu konzentrieren, die bislang noch durchzuführenden Flüge des 5. und 6.10.2016 sowie möglichst alle Rückflüge des 7./8.10.2016 zustand zu bringen. Es sei unerheblich, wie die Geschehnisse arbeitsrechtlich oder strafrechtlich einzustufen seien. Es sei mit dem Ziele verhandelt worden, dass die Crews so schnell wie möglich wieder ihre Arbeit aufnehmen und ein geordneter Flugbetrieb wiederhergestellt werden könne. Andere Maßnahmen wären ineffiziente gewesen. Hinsichtlich der geltend gemachten Fahrzeugkosten und Parkgebühren fehle es an einer Anspruchsgrundlage.

12. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

13. Die Klage ist überwiegend begründet.

14. Dem Kläger steht aus eigenem und abgetretenen Recht gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen von 2 × 400,00 EUR aus Art. 5 Absatz 1 c, Art. 7 Absatz 1 b EG-Verordnung Nr. 261/2004 zu.

15. Der Kläger ist aktivlegitimiert. Er hat durch Vorlage der Abtretungsvereinbarung vom 10.10.2016 nachgewiesen, dass seine Ehefrau ihre Ansprüche an ihn abgetreten hat.

16. Gemäß Art. 5 Abs. 3 EG VO 261/2004 ist die Beklagte verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 zu leisten, wenn sie als Luftfahrtunternehmen nicht darlegen und beweisen kann, dass eine Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände ist weder in Art. 2, der verschiedene Begriffsbestimmungen enthält, noch in sonstigen Vorschriften der Verordnung definiert. Inhalt und Reichweite des Tatbestands sind daher im Wege der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung zu ermitteln. Der BGH (Urteil vom 21.8.2012 – Aktenzeichen: X ZR 138/11) führt dazu aus, dass bei der Auslegung die Bedeutung und die Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziele zu bestimmen sei. Auch die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts können seinen Inhalt präzisieren und seien daher zur Auslegung heranzuziehen. Bestimmungen, die eine Ausnahme von unionsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellen, seien ferner eng, d.h. so auszulegen, dass das vom Unionsgesetzgeber gewollte Schutzniveau gewahrt bleibe.

17. Der BGH führt weiter aus: „Nach seinem Wortlaut, der – im Unionsrecht nicht anders als im deutschen Recht – den Ausgangspunkt der Auslegung bildet, kennzeichnet es die gegebenenfalls zu einem Wegfall der Ausgleichsverpflichtung führenden Umstände, dass sie außergewöhnlich (englisch „extraordinary“, französisch „extraordinaires“) sind, d.h. nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Der Unionsgesetzgeber hat damit einen Begriff gewählt, der – im Ausgangspunkt ähnlich wie das auch in Betracht gezogene (Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 27/2003 vom 18. März 2003, ABl. EU Nr. C125 E v. 27. Mai 2003, S. 70) Kriterium der höheren Gewalt – auf die Erfassung von Ereignissen abzielt, die nicht mit dem Luftverkehr verbunden sind, sondern als – jedenfalls in der Regel von außen kommende – besondere Umstände seine ordnungs- und plangemäße Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Den dem Begriff der höheren Gewalt immanenten Gesichtspunkt der Unabwendbarkeit hat der Gesetzgeber dabei in der Weise berücksichtigt, dass außergewöhnliche Umstände nicht per se zum Wegfall der Ausgleichspflicht führen. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn sich die außergewöhnlichen Umstände auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn von dem Luftverkehrsunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dies macht zugleich deutlich, dass ein bestimmtes außergewöhnliches Ereignis wie beispielsweise ein Erdbeben oder ein Orkan nicht schon für sich genommen zur Entlastung des Luftverkehrsunternehmens führt, sondern nur dann, wenn die hierdurch hervorgerufenen Bedingungen für die Durchführung eines geplanten Flugs auch bei Aufbietung aller möglichen und zumutbaren Mittel nicht in der Weise verändert oder sonst beeinflusst werden können, dass der Flug planmäßig durchgeführt werden kann (vgl. EuGH, Wallentin-Hermann/Alitalia Rn. 22). Erwägungsgrund 14 der Verordnung bestätigt und bekräftigt dieses sich aus Wortlaut und Zweck der Norm ergebende Verständnis. Danach können außergewöhnliche Umstände insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftverkehrsunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten. Nach Erwägungsgrund 15 „sollte“ sogar vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es, obgleich alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung dieser Folge ergriffen wurden, bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt. Beide Erwägungsgründe zeigen, dass für die Qualifikation der Umstände als außergewöhnlich weder ihre – möglicherweise vielfältigen – Ursachen noch ihre Herkunft aus dem Verantwortungsbereich des Luftverkehrsunternehmens oder eines Dritten oder ihre generelle Unbeeinflussbarkeit entscheidend sind, sondern vielmehr der Umstand, dass sie sich von denjenigen Ereignissen unterscheiden, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Fluges gerechnet werden muss.“

18. Im Urteil des BGH vom 21.8.2012 – Aktenzeichen: X ZR 138/11 wird ausgeführt: „Lassen außergewöhnliche Umstände besorgen, dass dem Luftverkehrsunternehmen demnächst ein erheblicher Teil seiner Piloten nicht zur Verfügung stehen wird, können an die Darlegung der Gründe, warum ein bestimmter Flug annulliert worden ist, keine hohen Anforderungen gestellt werden. In einer solchen Situation steht das Luftverkehrsunternehmen vor der Aufgabe, den Betriebsablauf möglichst schon im Vorfeld entsprechend zu reorganisieren. Hierbei hat es wie bereits dargelegt vor allem darauf hinzuwirken, dass die Beeinträchtigung für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt und dass nach dem Wegfall der Beeinträchtigungen möglichst schnell wieder der Normalbetrieb aufgenommen werden kann. Schöpft das Luftverkehrsunternehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die Nichtdurchführung/Verspätung eines einzelnen Fluges in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert oder verspätet durchgeführt werden können. In Anbetracht der komplexen Entscheidungssituation, bei der eine Vielzahl von Flügen sowie deren Verknüpfung untereinander zu berücksichtigen sind, ist dem Luftverkehrsunternehmen vielmehr der erforderliche Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen zuzubilligen. Eine Verkürzung der Verbraucherrechte ist hierdurch nicht zu besorgen, da es nicht zuletzt im eigenen wirtschaftlichen Interesse des Luftverkehrsunternehmens liegt, die Auswirkungen des Streiks und die streikbedingten Beeinträchtigungen der Fluggäste so gering wie möglich zu halten.“

19. Bei der Beurteilung kann aber auch die 2 Monate später ergangene Entscheidung des EuGH vom EUGH 04.10.2012, Aktenzeichen: C-22/11, nicht außer Betracht bleiben. Der entschiedene Fall bezog sich zwar auf eine Umorganisation, die sich auf einen Flug auswirkte, zu dessen Zeitpunkt der Streik bereits beendet war. Dennoch enthält die Entscheidung grundsätzliche Ausführungen. Danach kann es einem Luftfahrtunternehmen nicht erlaubt werden, unter Berufung auf das Interesse anderer Fluggäste, in angemessener Zeit befördert zu werden, den Kreis der Fälle, in denen es berechtigt wäre, einem Fluggast die Beförderung zu verweigern, erheblich zu erweitern. Dies hätte zwangsläufig zur Folge, dass ein solcher Fluggast völlig schutzlos gestellt wäre, was dem Ziel der Verordnung zuwiderlaufen würde, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste durch eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte sicherzustellen. Ferner gehe aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung hervor, dass sich die außergewöhnlichen Umstände nur auf einen einzelnes Flugzeug an einem bestimmten Tag beziehen dürfen, was ausgeschlossen sei, wenn Flüge umorganisiert werden. In Anbetracht des Erfordernisses, Ausnahme von Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, eng auszulegen, könne es nicht zugelassen werden, dass sich das Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung im Falle der Nichtbeförderung mit der Begründung befreien könne, dass die Nichtbeförderung darauf beruhe, dass die Flüge dieses Unternehmens infolge außergewöhnlicher Umstände umorganisiert worden seien. In diesem Zusammenhang weist das Gericht zudem darauf hin, dass das Luftfahrtunternehmen das Recht hat, bei anderen Personen, die die Nichtbeförderung verursacht haben, Regress zu nehmen.

20. Die Beklagte kann sich schon nicht auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gem. Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung berufen. Laut dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung können solche Umstände insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten. Der von der Beklagten vorgetragene „wilde Streik“ ihres Flugpersonals stellt keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung dar. Art. 5 Abs. 3 der VO ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände erfasst nur solche, die auf ein Vorkommnis zurückgehen, das nicht Teil der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache von dem Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen ist. Es handelt sich um in der Regel von außen kommende, nicht mit dem Luftverkehr verbundene Ereignisse. Die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Flugzeuge und die Bereitstellung von arbeitsfähigem und arbeitswilligem Flugpersonal sind immanenter Bestandteil des normalen Luftfahrtbetriebs. Ob die behauptete extreme Krankmeldungswelle des Cockpit-Personals für die Beklagte ein unerwartetes Vorkommnis oder bei einer früheren Einbindung der Arbeitnehmervertretern hätte verhindert werden können, kann dahinstehen. Denn ebenso wie außergewöhnliche Funktionsstörungen beim Fluggerät, die als Teil der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens, die untrennbar mit dem Betrieb des Flugzeugs verbunden sind, angesehen werden, trifft dies auch auf unvorhergesehenen, umfangreichen Ausfall des eigenen Flugpersonals zu. Genauso wie tatsächliche Erkrankungen des Flugpersonals sind auch vorgeschobene Krankmeldungen dem üblichen Tätigkeitsbereich der Fluggesellschaft zuzurechnen. Die behauptete Krankmeldungswelle ist nicht etwa von außen bzw. durch Dritte (z.B. Gewerkschaft) verursacht worden, sondern beruhte allein auf innerbetrieblichen Vorgängen. Es handelte sich um eine Reaktion des Flugpersonals auf die Information der Belegschaft über eine geplante Umstrukturierung durch ein „Management-Letter“. Die Gestaltung der internen Informationspolitik über eine solche Umstrukturierung und die Abschätzung der Auswirkungen und möglichen Reaktionen der Belegschaft gehören zum Betrieb des Luftfahrtunternehmens.

21. Außerdem erscheint die von der Beklagten behauptete Prognoseentscheidung, für den 08.10.2016 keinerlei Hinflüge mehr durchzuführen, durch die vorgenannten Erwägungen nicht abgedeckt zu sein. Zunächst erscheint es mangels schlüssiger Darlegung der Beklagten bereits als fraglich, ob es tatsächlich bereits am 5. oder 6.10. eine entsprechende Prognoseentscheidung getragen von dem Gedanken, die Reisenden gar nicht erst zum Flughafen anreisen zu lassen, gegeben hat, weil die Beklagte nicht nur im vorliegenden Fall den Kläger und dessen Ehefrau, sondern – wie vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung nochmals angesprochen und aufgrund der inzwischen zahlreichen anhängigen Verfahren auch gerichtsbekannt – noch am 8.10. Fluggäste hat anreisen lassen. Soweit nach der BGH-Rechtsprechung ein Ermessenspielraum bestehen soll, wurde nicht schlüssig dargetan, dass das Ermessen pflichtgemäß ausgeübt worden ist. Hierfür wäre erforderlich gewesen, Basisdaten für die noch durchzuführenden Flüge zu erheben, alle Möglichkeiten/Ressourcen zu eruieren und die unterschiedlichen Interessen abzuwägen. Es ergibt sich aus dem Vorbringen der Beklagten schon nicht, ob die Daten vom 5.10. oder 6.10. der Entscheidung zu Grunde gelegt worden sein sollen und diese überhaupt schon erfasst worden waren. Von welchen Möglichkeiten/Ressourcen zum Entscheidungszeitpunkt ausgegangen wurde, lässt sich dem Vorbringen der Beklagten ebenfalls nicht entnehmen. Eine Interessenabwägung – insbesondere die Einbeziehung der Interessen der Fluggäste – wurde gar nicht dargetan. Im Übrigen erscheint es aufgrund des Erfordernisses einer engen Auslegung der Verordnung, um ein hohes Schutzniveau zu erzielen, als sehr fraglich, eine Annullierung sämtlicher Hinflüge zuzulassen, obwohl noch knapp 50 % der Hinflüge – allerdings leer – durchgeführt worden sind. Die Entscheidung, die Hinflüge leer durchzuführen ist weder mit dem Erwägungen des BGH, das die Beeinträchtigungen für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering gehalten werden sollen, noch mit den oben dargestellten Erwägungen des EuGH in Einklang zu bringen. Denn die Annullierung sämtlicher Hinflüge stellte die größte möglichste Beeinträchtigung für die Fluggäste dar und es wurden somit auch Flüge annulliert, die mangels Erkrankung der betroffenen Crew hätten durchgeführt werden können. Die hiermit verbundene erhebliche Erweiterung der betroffenen Fluggäste erscheint mit den Ausführungen des EuGH nicht im Einklang zu stehen. Schließlich wurde seitens der Beklagten auch nicht ausreichend dargetan, entsprechend den Anforderungen des BGH alle zur Verfügung stehende Ressourcen im gebotenen Umfang ausgeschöpft zu haben. Zwar bezieht sich die Subcharteranfrage gemäß den Anlagen B 11 entgegen dem Einwand der Klägerseite auch auf größere Flugunternehmen, jedoch beziehen sich die Anfragen nur auf den 2. und 3. Oktober und für die nachfolgenden Tage fehlen jegliche konkrete Darlegungen. Zwar ergibt sich aus der Anlage B 13, dass an den 8.10. verschiedenen Flügen durch Fremdunternehmen durchgeführt worden sein sollen. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Zum einen weist die Klägerseite zutreffend darauf hin, dass Anlass des Managementletters Überkapazitäten im Flugmarkt gewesen ist. Zum anderen trägt die Beklagte selbst vor, dass wegen Saisonende in anderen Feriengebieten freie Kapazitäten vorhanden waren. Bezogen auf den 8. Oktober erschöpft sich das Vorbringen der Beklagtenseite dennoch in pauschalen Behauptungen, ohne ihr Vorbringen durch Darlegung und Vorlage konkreter Anfragen für den 8.10. zu substantiierten. Jegliche Ausführungen der Beklagten fehlen zu dem Einwand der Klägerseite, dass bei anderen Fluggesellschaften auch freie Plätze hätten angefragt werden können und müssen. Mangels Erklärung der Beklagten hierzu muss davon ausgegangen werden, dass diese Möglichkeit nicht aufgegriffen worden ist. Schließlich erscheint auch der Umstand, dass die Beklagte arbeitsrechtliche Maßnahmen trotz des von ihr behaupteten wilden Streiks nicht in Betracht gezogen hat, als fraglich. Zwar ist der Beklagten zuzugestehen, auch Effizienzgründe in ihre Ermessensentscheidung einzubeziehen, sodass strafrechtliche Maßnahmen im betroffenen zeitlichen Rahmen sicherlich nicht effektiv gewesen wären. Die Möglichkeit, sich bei Anhaltspunkten für einen wilden Streik bereits ab dem 1. Krankheitstag ein ärztliches Attest vorzulegen zu lassen oder in herausragenden Fällen auch eine Abmahnung auszusprechen, hätten möglicherweise die Ausweitungen der behaupteten rechtswidrigen Krankmeldungen eindämmen können. Weshalb die Beklagte auch diese Maßnahmen nicht in Betracht gezogen hat, wurde nicht dargetan.

22. Nach alledem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die vollständige Annullierung aller Hinflüge am 8.10. tatsächlich aufgrund der Umstände gerechtfertigt gewesen ist.

23. Unbegründet ist hingegen die Klage bezüglich der Fahrt- und Parkkosten, da die Fluggastrechteverordnung hierfür keine Anspruchsgrundlage vorsieht.

24. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB.

25. Die Kostenentscheidung beruht § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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