Umfang der Nichtbeförderung und Geltungsdauer außergewöhnlicher Umstände

EuGH: Umfang der Nichtbeförderung und Geltungsdauer außergewöhnlicher Umstände

Der Kläger buchte einen Flug bei einer Luftfahrtgesellschaft und verlangt Ausgleich für die Nichtbeförderung auf diesem Flug.

Das EuGH entschied, dass sich der Begriff Nichtbeförderung nicht nur auf Überbuchung bezieht, sondern auch auf andere Gründe.

EuGH C-22/11 (Aktenzeichen)
EuGH: EuGH, Urt. vom 04.10.2012
Rechtsweg: EuGH, Urt. v. 04.10.2012, Az: C-22/11
Fragen & Antworten zum Thema
Verwandte Urteile
Weiterführende Hinweise und Links
Hilfe und Beratung bei Fragen

Europäischer Gerichtshof

1. Urteil vom 04. Oktober 2012

Aktenzeichen C-22/11

Leitsätze:

2. Im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 beinhaltet der Begriff Nichtbeförderung nicht nur das aubleiben der Beförderung aufgrund von Überbuchung, sondern auch aus anderen Gründen.

Ein außergewöhnlicher Umstand gilt nur für den Flug währenddessen er sich ereignet.

Zusammenfassung:

3. Im folgenden Fall wurde ein Fluggast trotz gebuchten Flug aufgrund einer Umorganisation infolge eines Flugpersonalstreiks nicht befördert und verlangt nun Ausgleich für den entfallenen Flug.

Das EuGH definierte zunächst den Begriff Nichtbeförderung. Nach Ansicht des EuGH beschränkt sich dieser nicht nur auf die Nichtbeförderung infolge einer Überbuchung der Maschine, sondern auch auf die Nichtbeförderung aus beispielsweise betrieblichen Gründen oder möglichen außergewöhnlichen Umständen.

Der Geltungsbereich des haftungsbefreienden außergewöhnlichen Umstands erstrecke. Nach Ansicht des EuGH gilt der außergewöhnliche Umstand haftungsbefreiend zu Gunsten des Luftfahrtunternehmens, nur für den Flug auf dem dieser eingetreten ist und nicht auch für die nachfolgenden Flüge.

Tenor:

4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

  1. Der Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne der Art. 2 Buchst. j und 4 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass er sich nicht nur auf die Nichtbeförderung wegen Überbuchung bezieht, sondern auch auf die Nichtbeförderung aus anderen Gründen wie z. B. betrieblichen Gründen.
  1. Art. 2 Buchst. j und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen, dass das Eintreten „außergewöhnlicher Umstände“, die ein Luftfahrtunternehmen dazu veranlassen, Flüge umzuorganisieren, nachdem diese Umstände vorgelegen haben, weder die „Nichtbeförderung“ auf einem dieser nachfolgenden Flüge rechtfertigen noch das betreffende Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 gegenüber dem Fluggast befreien kann, dem es die Beförderung auf einem dieser Flüge verweigert, die durchgeführt werden, nachdem die genannten Umstände vorgelegen haben.

 

Gründe:

5. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 4 und Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Luftfahrtgesellschaft Finnair Oyj (im Folgenden: Finnair) und Herrn Lassooy wegen der Weigerung von Finnair, Herrn Lassooy einen Ausgleich dafür zu zahlen, dass sie ihm auf einem Flug von Barcelona (Spanien) nach Helsinki (Finnland) am 30. Juli 2006 die Beförderung verweigert hat.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung (EWG) Nr. 295/91

6. Die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABl. L 36, S. 5), die bis zum 16. Februar 2005 in Kraft war, bestimmte in ihrem Art. 1:

„Mit dieser Verordnung wird ungeachtet des Staates, in dem ein Luftfahrtunternehmen ansässig ist, der Staatsangehörigkeit des Fluggastes und des Zielortes eine gemeinsame Mindestregelung für den Fall eingeführt, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug von einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, auf das der [EG-]Vertrag anwendbar ist, nicht befördert werden, obwohl sie hierfür einen gültigen Flugschein mit bestätigter Buchung vorweisen können.“

Verordnung Nr. 261/2004

7. Die Erwägungsgründe 1, 3, 4, 9, 10, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(3) Durch die Verordnung … Nr. 295/91 … wurde zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste ist aber immer noch zu hoch; dasselbe gilt für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen.

(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.

(9) Die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste sollte dadurch verringert werden, dass von den Luftfahrtunternehmen verlangt wird, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen, anstatt Fluggästen die Beförderung zu verweigern, und denjenigen, die letztlich nicht befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.

(10) Fluggäste, die gegen ihren Willen nicht befördert werden, sollten in der Lage sein, entweder ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren oder diese unter zufrieden stellenden Bedingungen fortzusetzen, und sie sollten angemessen betreut werden, während sie auf einen späteren Flug warten.

(14) Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

8. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

  1. j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;

…“

9. Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung sieht in Abs. 2 vor:

„Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

  1. a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

…“

  1. Art. 4 („Nichtbeförderung“) der Verordnung lautet:

„(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass Fluggästen die Beförderung zu verweigern ist, so versucht es zunächst, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung unter Bedingungen, die zwischen dem betreffenden Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zu vereinbaren sind, zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen. Die Freiwilligen sind gemäß Artikel 8 zu unterstützen, wobei die Unterstützungsleistungen zusätzlich zu dem in diesem Absatz genannten Ausgleich zu gewähren sind.

(2) Finden sich nicht genügend Freiwillige, um die Beförderung der verbleibenden Fluggäste mit Buchungen mit dem betreffenden Flug zu ermöglichen, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigern.

(3) Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.“

10. Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 sieht in Abs. 3 vor:

„Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“

11. Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt in Abs. 1:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

…“

12. Die Art. 8 und 9 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit deren Art. 4 sehen für Fluggäste einen Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung vor sowie für diejenigen, deren Beförderung verweigert wurde, einen Anspruch auf Betreuungsleistungen.

13. Art. 13 („Regressansprüche“) dieser Verordnung bestimmt:

„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14. Infolge eines Streiks des Personals des Flughafens Barcelona am 28. Juli 2006 musste der Finnair-Linienflug um 11.40 Uhr von Barcelona nach Helsinki annulliert werden. Damit die betroffenen Fluggäste nicht zu lange warten mussten, beschloss Finnair, ihre nachfolgenden Flüge umzuorganisieren.

15. Die betroffenen Fluggäste wurden am folgenden Tag, dem 29. Juli 2006, mit dem Linienflug um 11.40 Uhr und mit einem eigens durchgeführten Flug um 21.40 Uhr nach Helsinki (Finnland) befördert. Einige der Fluggäste, die den Flug am 29. Juli 2006 um 11.40 Uhr gebucht hatten, mussten wegen dieser Umorganisation bis zum 30. Juli 2006 warten, um mit dem Linienflug um 11.40 Uhr oder einem wegen dieses Umstands eigens durchgeführten Flug um 21.40 Uhr nach Helsinki zu gelangen. Ebenso erreichten einige Fluggäste wie Herr Lassooy, die den Flug am 30. Juli 2006 um 11.40 Uhr gebucht hatten und sich ordnungsgemäß am Flugsteig eingefunden hatten, Helsinki erst mit dem außerplanmäßigen Flug, der um 21.40 Uhr startete.

16. Da Herr Lassooy der Ansicht war, dass Finnair ihm die Beförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 ohne triftigen Grund verweigert habe, erhob er beim Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht in Helsinki) gegen Finnair Klage auf die Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung. Mit Urteil vom 19. Dezember 2008 wies das erstinstanzliche Gericht Herrn Lassooys Klage auf Ausgleichszahlung mit der Begründung ab, die Verordnung Nr. 261/2004 betreffe lediglich die Leistung von Ausgleichszahlungen für Fluggäste wegen Nichtbeförderung aufgrund einer Überbuchung aus kommerziellen Gründen. Art. 4 dieser Verordnung sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da Finnair ihre Flüge wegen eines Streiks auf dem Flughafen Barcelona umorganisiert habe, bei dem es sich um einen außergewöhnlichen Umstand gehandelt habe, hinsichtlich dessen Finnair alle Maßnahmen ergriffen habe, die von ihr hätten verlangt werden können.

17. Mit Urteil vom 31. August 2009 hob der Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) das Urteil des Helsingin käräjäoikeus auf und verurteilte Finnair zur Zahlung von 400 Euro an Herrn Lassooy. Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, dass die Verordnung Nr. 261/2004 nicht nur bei Überbuchung anwendbar sei, sondern auch in bestimmten Fällen der Nichtbeförderung aus betrieblichen Gründen, und somit ausschließe, dass ein Luftfahrtunternehmen aus streikbedingten Gründen von seiner Ausgleichsverpflichtung befreit werden könne.

18. Der von Finnair mit einem Rechtsmittel angerufene Korkein oikeus (Oberste Gerichtshof) ist sich nicht sicher, inwiefern gegenüber Fluggästen im Fall einer „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 eine Ausgleichsverpflichtung besteht, welche Gründe eine „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung rechtfertigen können und ob ein Luftfahrtunternehmen sich auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung berufen kann, soweit es um Flüge geht, die auf den wegen derartiger Umstände annullierten Flug folgen.

19. Vor diesem Hintergrund hat der Korkein oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

20. Sind die Verordnung Nr. 261/2004 und insbesondere ihr Art. 4 dahin auszulegen, dass ihre Anwendung auf eine Nichtbeförderung beschränkt ist, die auf eine Überbuchung des ausführenden Luftfahrtunternehmens aus kommerziellen Gründen zurückzuführen ist, oder ist die Verordnung auch auf eine Nichtbeförderung anwendbar, die auf anderen Gründen wie z. B. betrieblichen Problemen beruht?

21. Ist Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die dort genannten vertretbaren Gründe auf Faktoren beschränkt sind, die sich auf den Fluggast beziehen, oder kann die Nichtbeförderung auch aus anderen Gründen vertretbar sein? Wenn die Verordnung so zu verstehen ist, dass die Beförderung auch aus anderen als den auf den Fluggast bezogenen Gründen verweigert werden kann, ist sie dann dahin auszulegen, dass die Nichtbeförderung auch im Fall einer Umorganisation der Flüge wegen der in den Erwägungsgründen 14 und 15 dieser Verordnung genannten außergewöhnlichen Umstände vertretbar ist?

22. Ist die Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass das Luftfahrtunternehmen außer für den aufgrund außergewöhnlicher Umstände annullierten Flug auch in Bezug auf die Reisenden der späteren Flüge von seiner Haftung nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung befreit sein kann, soweit es versucht hat, die negativen Folgen eines außergewöhnlichen Umstands – z. B. eines Streiks –, von dem sein Betrieb betroffen war, auf diesen Kreis von Reisenden, der größer ist als die Gruppe der Fluggäste des annullierten Flugs, zu verteilen, indem es die späteren Flüge so umorganisierte, dass keine Reise eines Fluggasts sich unzumutbar verzögerte? Kann sich das Luftfahrtunternehmen mit anderen Worten auf außergewöhnliche Umstände auch gegenüber Reisenden eines späteren Flugs berufen, auf deren Reise sich das betreffende Vorkommnis nicht unmittelbar ausgewirkt hat? Macht es insoweit einen großen Unterschied, ob die Stellung und der Ausgleichsanspruch des Fluggasts nach Art. 4 der Verordnung über die Nichtbeförderung oder nach Art. 5 über die Annullierung eines Flugs zu beurteilen ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j und Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er sich ausschließlich auf die Nichtbeförderung wegen Überbuchung bezieht, oder dahin, dass er auch auf die Nichtbeförderung aus anderen Gründen wie z. B. betrieblichen Gründen anwendbar ist.

24. Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004, der den Begriff „Nichtbeförderung“ definiert, knüpft diese nach seinem Wortlaut nicht an das Vorliegen einer vom Luftfahrtunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen verursachten „Überbuchung“ des betreffenden Flugs.

25. Zum Kontext dieser Bestimmung und zu den Zielen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, ergibt sich nicht nur aus den Erwägungsgründen 3, 4, 9 und 10 der Verordnung Nr. 261/2004, sondern auch aus den Vorarbeiten zu dieser Verordnung, insbesondere aus dem von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 21. Dezember 2001 vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (KOM[2001] 784 endg.), dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass dieser Verordnung die seinerzeit zu hohe Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste durch Schließung der Lücken der Verordnung Nr. 295/91 verringern wollte, die nach ihrem Art. 1 lediglich eine gemeinsame Mindestregelung für den Fall eingeführt hatte, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug nicht befördert werden.

26. In diesem Kontext hat der Unionsgesetzgeber in Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 bei der Definition des Begriffs „Nichtbeförderung“ jeglichen Hinweis auf den Grund weggelassen, aus dem ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert.

27. Dadurch hat der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich dieser Definition über den Fall der Nichtbeförderung wegen Überbuchung hinaus erweitert, der zuvor als einziger in Art. 1 der Verordnung Nr. 295/91 genannt war, und diesem Begriff eine weite Bedeutung gegeben, die sämtliche Fälle erfasst, in denen ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert.

28. Diese Auslegung wird durch die Feststellung bestätigt, dass eine Beschränkung der Reichweite des Begriffs „Nichtbeförderung“ allein auf die Fälle der Überbuchung in der Praxis zu einer deutlichen Einschränkung des den Fluggästen gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 gewährten Schutzes führen und damit dem Ziel der Verordnung zuwiderlaufen würde, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, was eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Slg. 2006, I-403, Randnr. 69, sowie vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, Slg. 2008, I-11061, Randnr. 18).

29. Wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hätte die Annahme, dass nur die Fälle der Überbuchung unter den Begriff der Nichtbeförderung fallen, zur Folge, dass Fluggäste, die sich – wie der Kläger des Ausgangsverfahrens – in einer Situation befinden, für die sie nicht verantwortlich sind, wie etwa die Situation einer Überbuchung aus wirtschaftlichen Gründen, völlig schutzlos gestellt wären, weil ihnen die Möglichkeit genommen würde, sich auf Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 zu berufen, der in Abs. 3 auf die in den Art. 7 bis 9 dieser Verordnung vorgesehenen Ansprüche auf Ausgleichszahlungen, Erstattung oder anderweitige Beförderung und Betreuungsleistungen Bezug nimmt.

30. Wenn sich ein Luftfahrtunternehmen weigert, einen Fluggast zu befördern, der sich unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat, und der Grund für diese Weigerung ist, dass die von dem Luftfahrtunternehmen durchgeführten Flüge umorganisiert worden sind, ist dies folglich als „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung einzustufen.

31. Demzufolge ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne der Art. 2 Buchst. j und 4 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er sich nicht nur auf die Nichtbeförderung wegen Überbuchung bezieht, sondern auch auf die Nichtbeförderung aus anderen Gründen wie z. B. betrieblichen Gründen.

Zur zweiten und zur dritten Frage

32. Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Eintreten „außergewöhnlicher Umstände“, die ein Luftfahrtunternehmen dazu veranlassen, nach ihrem Eintreten Flüge umzuorganisieren, die „Nichtbeförderung“ eines Fluggasts auf einem dieser nachfolgenden Flüge rechtfertigen und das betreffende Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 gegenüber dem Fluggast befreien kann, dem es die Beförderung auf einem dieser Flüge verweigert, die durchgeführt werden, nachdem die genannten Umstände vorgelegen haben.

33. Erstens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Einstufung als „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 nur aus Gründen ausgeschlossen werden kann, die mit den Fluggästen als solchen zusammenhängen, oder ob einer derartigen Einstufung auch Gründe entgegenstehen können, die mit den Fluggästen nichts zu tun haben und sich insbesondere auf die Umorganisation der Flüge eines Luftfahrtunternehmens beziehen, die dieses Unternehmen infolge „außergewöhnlicher Umstände“, von denen es betroffen war, vorgenommen hat.

34. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. j eine Einstufung als „Nichtbeförderung“ bei zwei Fallgruppen ausschließt. Die erste Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass der Fluggast, der sich am Flugsteig eingefunden hat, die in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Bedingungen nicht eingehalten hat. Die zweite betrifft Fälle, in denen vertretbare Gründe für die Nichtbeförderung vorliegen, „z[um] B[eispiel] im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen“.

35. Um die erste Fallgruppe geht es im Ausgangsverfahren nicht. Hinsichtlich der zweiten Fallgruppe ist festzustellen, dass keiner der in Art. 2 Buchst. j der Verordnung ausdrücklich genannten Gründe im Ausgangsverfahren einschlägig ist. Allerdings wollte der Unionsgesetzgeber mit der Verwendung der Wörter „zum Beispiel“ zum Ausdruck bringen, dass die Aufzählung der Fälle, in denen eine Nichtbeförderung vertretbar sein kann, nicht abschließend ist.

36. Aus dieser Formulierung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine Nichtbeförderung aus einem betrieblichen Grund wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als vertretbar angesehen werden muss.

37. Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fall ist nämlich mit dem einer Nichtbeförderung wegen „anfänglicher“ Überbuchung vergleichbar, da das Luftfahrtunternehmen den Platz des Klägers neu vergeben hat, um andere Fluggäste zu befördern, und es somit selbst die Wahl zwischen verschiedenen zu befördernden Fluggästen getroffen hat.

38. Zwar wurde diese Neuvergabe vorgenommen, damit die Fluggäste, die für die wegen außergewöhnlicher Umstände annullierten Flüge vorgesehen waren, nicht zu lange warten mussten. Dieser Grund ist jedoch nicht mit den in Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 ausdrücklich genannten Gründen vergleichbar, da er in keiner Weise dem Fluggast zuzurechnen ist, dem die

Beförderung verweigert wird.

39. Einem Luftfahrtunternehmen kann nicht erlaubt werden, unter Berufung auf das Interesse anderer Fluggäste, in angemessener Zeit befördert zu werden, den Kreis der Fälle, in denen es berechtigt wäre, einem Fluggast die Beförderung zu verweigern, erheblich zu erweitern. Dies hätte zwangsläufig zur Folge, dass ein solcher Fluggast völlig schutzlos gestellt wäre, was dem Ziel der Verordnung Nr. 261/2004 zuwiderlaufen würde, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste durch eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte sicherzustellen.

40. Zweitens fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob sich ein Luftfahrtunternehmen von seiner in Art. 4 Abs. 3 und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Verpflichtung zur Ausgleichsleistung wegen „Nichtbeförderung“ mit der Begründung befreien kann, dass die Nichtbeförderung darauf beruhe, dass die Flüge dieses Unternehmens infolge des Eintretens „außergewöhnlicher Umstände“ umorganisiert worden seien.

41. Im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 sehen die Art. 2 Buchst. j und 4 dieser Verordnung nicht vor, dass ein Luftfahrtunternehmen im Fall einer „Nichtbeförderung“ im Zusammenhang mit „außergewöhnlichen Umständen“, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, von seiner Verpflichtung befreit ist, Fluggästen, die gegen ihren Willen nicht befördert werden, eine Ausgleichszahlung zu leisten (vgl. entsprechend Urteil IATA und ELFAA, Randnr. 37). Der Unionsgesetzgeber hat folglich nicht beabsichtigt, dass diese Ausgleichsleistung aus Gründen, die mit dem Eintreten „außergewöhnlicher Umstände“ zusammenhängen, ausgeschlossen werden kann.

42. Ferner geht aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 hervor, dass sich die „außergewöhnlichen Umstände“ nur auf „ein einzelnes Flugzeug an einem bestimmten Tag“ beziehen dürfen, was ausgeschlossen ist, wenn einem Fluggast die Beförderung verweigert wird, weil Flüge infolge derartiger Umstände, die einen vorhergehenden Flug betrafen, umorganisiert werden. Der Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ dient nämlich dazu, die Verpflichtungen des Luftfahrtunternehmens zu begrenzen oder diese sogar von den Verpflichtungen zu befreien, wenn sich das betreffende Vorkommnis auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann aber, wenn ein Luftfahrtunternehmen einen für den Tag des Streiks des Personals eines Flughafens vorgesehenen Flug annullieren muss und dann die Entscheidung trifft, seine nachfolgenden Flüge umzuorganisieren, keinesfalls davon ausgegangen werden, dass das Luftfahrtunternehmen durch diesen Streik gezwungen war, einem Fluggast, der sich zwei Tage nach der Annullierung des betroffenen Flugs ordnungsgemäß am Flugsteig eingefunden hat, die Beförderung zu verweigern.

43. In Anbetracht des Erfordernisses, Ausnahmen von Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, eng auszulegen, wie es sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin-Hermann, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann daher nicht zugelassen werden, dass sich das Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung im Fall der „Nichtbeförderung“ mit der Begründung befreien kann, dass die Nichtbeförderung darauf beruhe, dass die Flüge dieses Unternehmens infolge „außergewöhnlicher Umstände“ umorganisiert worden seien.

44. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Erfüllung ihrer Verpflichtungen gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 den Luftfahrtunternehmen nicht das Recht nimmt, bei anderen Personen, die die „Nichtbeförderung“ verursacht haben, auch Dritten, Regress zu nehmen, wie es Art. 13 dieser Verordnung vorsieht. Ein solcher Regress kann daher die finanzielle Belastung der betreffenden Unternehmen aus diesen Verpflichtungen mildern oder sogar beseitigen (Urteil IATA und ELFAA, Randnr. 90).

45. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass das Eintreten „außergewöhnlicher Umstände“, die ein Luftfahrtunternehmen dazu veranlassen, Flüge umzuorganisieren, nachdem diese Umstände vorgelegen haben, weder die „Nichtbeförderung“ auf einem dieser nachfolgenden Flüge rechtfertigen noch das betreffende Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 gegenüber dem Fluggast befreien kann, dem es die Beförderung auf einem dieser Flüge verweigert, die durchgeführt werden, nachdem die genannten Umstände vorgelegen haben.

Kosten

46. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Fragen zu diesem Urteil? Diskutiere in unserem Forum.

Fragen & Antworten zum Thema

Fragen & Antworten zum Thema: EuGH: Nichtbeförderung und Geltungsdauer außergewöhnlicher Umstände

Verwandte Entscheidungen

AG Düsseldorf, Urt. v. 25.03.2013, Az: 54 C 15920/12

AG Rüsselsheim, Urt. v. 27.11.2013, Az: 3 C 305/13 (31)

Berichte und Besprechungen

Forum Fluggastrechte: Außergewöhnliche Umstände bei Nichtbeförderung

Passagierrechte.org: Nichtbeförderung bei außergewöhnlicher Umstand

Rechtsanwälte für Reiserecht

Hilfe bei rechtlichen Fragen: Rechtsanwälte für Reiserecht oder Rechtsanwälte für Fluggastrechte.