Segmentierung einer Fugreise in „(Erst-)Flug“ und „Anschlussflug“

AG Rüsselsheim: Segmentierung einer Fugreise in „(Erst-)Flug“ und „Anschlussflug“

Ein Fluggast bucht eine Reise nach Sansibar. Er fliegt pünktlich in Frankfurt ab und landet auch wie geplant in Mombasa. Dort verschiebt sich der Start nach Sansibar allerdings um 24 Stunden, dementsprechend kommt er auch später auf Sansibar an. Der Kläger erhebt gegen den Beklagten einen Anspruch auf Ausgleichszahlung wegen Verspätung.

Das Gericht entschied das der Erstflug von Frankfurt nach Mombasa planmäßig erfolgte, erst der Anschlussflug hatte diese Verspätung. Dabei handelt es sich um zwei einzelne Flugstrecken. Einen Anspruch hat der Kläger auch nicht, da der Start seines Anschlussfluges in Mombasa war und nicht in einem EU-Mitgliedstaat.

AG Rüsselsheim 3 C 72/11 (36) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 10.08.2011
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 10.08.2011, Az: 3 C 72/11 (36)
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Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 10.08.2011

Aktenzeichen: 3 C 72/11 (36)

Leitsatz:

2. Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 findet nur Anwendung, wenn ein Start oder Landung in einer EU – Mitgliedstaat erfolgte.

Zusammenfassung:
3. Im vorliegenden Fall buchte der Kläger für sich und seine Frau eine Flugreise von Frankfurt nach Sansibar. Der Flug war planmäßig von Frankfurt am Main nach Mombasa und von Mombasa nach Sansibar vorgesehen. Gestartet ist die Maschine wie geplant am 26.09.2010 mit einer geringen Verspätung von 17 Minuten, auch die Landung erfolgte planmäßig.

Der Weiterflug nach Sansibar verzögerte sich allerdings um 24 Stunden. Der Kläger erhebt einen Anspruch auf Ausgleichzahlung von der Beklagten wegen einer erheblichen Verspätung des Weiterfluges.
Das Gericht entschied, dass die Klage abgewiesen wird.  Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung eines Ausgleiches. Der Flug von Frankfurt nach Mombasa erfolgte pünktlich, erst der Flug von Mombasa nach Sansibar hatte eine erhebliche Verspätung.

Der zweite Flug startete aber nicht in einem EU Mitgliedsstaat und somit besteht auch kein Anspruch nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Des Weiteren ist nicht der Gesamtflug zu sehen, sondern vielmehr die Einzelstrecke und die startete verspätet von Mombasa.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn die Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten um die Zahlung von Ausgleichsansprüchen nach der Verordnung (EG) 261/2004 (nachfolgend „VO“ genannt).

6. Der Kläger buchte für sich und seine Lebensgefährtin … einen „Direktflug“ bei der Beklagten von Frankfurt am Main nach Sansibar am 26.09.2010 (Flug DE …). Für die Flugbeförderung war planmäßig vorgesehen, dass die Maschine zunächst von Frankfurt nach Mombasa und von dort nach Sansibar fliegen sollte.

7.  Nach einem um 17 Minuten verspäteten Abflug in Frankfurt am Main und der planmäßigen Landung in Mombasa verzögerte sich der Weiterflug um 24 h; der Kläger und seine Lebensgefährtin erreichten Sansibar erst mit einer entsprechenden Ankunftsverspätung. Die Flugentfernung zwischen Frankfurt am Main und Sansibar betrug über 3500 km.

8. Die Mitreisende … trat die ihr aus der Flugverspätung zustehenden Ersatzansprüche für den Fall, dass das Gericht Bedenken gegen die Aktivlegitimation haben sollte, am 14.03.2011 an den Kläger ab, welcher die Abtretung annahm.

9. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers machten dessen behauptete Ansprüche mit Schreiben vom 22.10.2010 sowie vom 18.11.2010 außergerichtlich gegenüber der Beklagten geltend und forderten diese zur Zahlung bis zum 05.11.2010 bzw. bis zum 30.11.2010 auf. Die Beklagte lehnte die Ansprüche mit Schreiben vom 24.11.2010 ab.

10. Der Kläger beantragt,

11. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger EUR 1200,00 nebst Zinsen Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.12.2010 zu zahlen.

12. Die Beklagte beantragt,

13. die Klage abzuweisen.

14. Die Beklagte rügt die Aktivlegitimation des Klägers. Sie behauptet, dass Ursache der Verspätung des Fluges von Mombasa nach Sansibar eine unvorhergesehene Erkrankung des Flugkapitäns gewesen sei. Die Beklagte habe – insoweit unstreitig – keine Möglichkeit gehabt, die Erkrankung des Flugkapitäns zu vermeiden. Die Beklagte meint, es habe keine erhebliche Abflugverspätung in Frankfurt am Main gegeben.

Entscheidungsgründe:

15. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

16. Die Klägerseite hat keinen Anspruch auf Leistung von Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. c), Art. 6 Abs. 1 VO. Nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07) sowie des BGHs vom 18.02.2010 (Aktenzeichen Xa ZR 95/06) sind die Art. 5, 6 und 7 VO dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichzustellen sind, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von 3 h oder mehr erleiden, ihr Ziel also nicht früher als 3 h nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen.

17. Vorliegend ist die VO indessen schon nicht anwendbar. Der Flug von Frankfurt am Main nach Mombasa fand ohne erhebliche Abflug- oder Ankunftsverspätung statt. Verspätet war allein der Flug von Mombasa nach Sansibar. Da dieser Flug nicht auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats angetreten wurde und das Ziel des Fluges auch nicht ein Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats war, ist der Anwendungsbereich der VO nicht eröffnet, Art. 3 Abs. 1 VO.

18. Dem steht nicht entgegen, dass Gegenstand der Buchung eine Beförderung von Frankfurt am Main nach Sansibar via Mombasa war. Als „Flug“ im Sinne der VO ist vorliegend nicht die Reise von Frankfurt am Main nach Sansibar via Mombasa, sondern die Beförderung von Mombasa nach Sansibar zu erblicken.

19. Ein „Flug“ im Sinne der VO ist nicht mit der Flugreise gleichzusetzen, die der jeweilige Fluggast unternimmt. Vielmehr ist unter einem „Flug“ im Sinne der VO die einzelne „Einheit“ an der Luftbeförderung, die von einem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird, zu verstehen (so auch BGH NJW 2009, 2740 ff., BGH NJW 2009, 2743 ff., EuGH C-173/07, Rz. 32, 40, im Ergebnis wohl auch BGH, Urteil vom 14.10.2010, Xa ZR 15/10, Rz. 32 ff.).

20. Die VO selbst definiert den Begriff des Fluges nicht. Aus der Verwendung des Begriffes „Flug“ in Art. 2 h) VO wird jedoch deutlich, dass die Verordnung von einer Segmentierung einer Reise in „(Erst-)Flug“ und „Anschlussflug“ ausgeht. Der Begriff „Endziel“ wird unter ausdrücklicher Berücksichtigung von „Anschlussflügen“ als Zielort des „letzten“ Fluges definiert, so dass eine Reise mit Endziel begriffsnotwendig in mehrere „Flüge“ zu zerteilen ist. Dass es bei der Bestimmung eines „Fluges“ im Sinne der VO auf eine identische Flugnummer oder aber den Hintergrund der Zwischenlandung (Betankung, Zu- oder Ausstieg von Fluggästen etc.) oder darauf ankommt, welches Unternehmen den Flug durchführt, lässt sich der VO nicht entnehmen.

21. Nichts anderes ergibt sich auch aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, der unter dem Begriff „Flug“ nicht in die gesamte (Hin- oder Rück-)Reise, sondern den Transport mit einem Fluggerät von Flughafen A nach Flughafen B versteht. Erfolgt hierauf ein Weitertransport von Flughafen B nach Flughafen C, ist allgemein vom „Anschluss-“ bzw. „Folgeflug“ oder auch schlicht vom „nächsten Flug“ die Rede.

22. Nicht ausschlaggebend für die Bestimmung des Begriffs „Flug“ ist, dass Erst- und Folgeflug hier Teil eines Vertrags waren und gemeinsam gebucht wurden. Dieser Umstand führt nicht dazu, dass der Erst- und Folgeflug in einem besonders engen und unauflöslichen Verhältnis zueinander stehen (so auch AG Düsseldorf, Urteil vom 08.04.2008, 23 C 14910/07). Nach den allgemeinen Erfahrungen ist es regelmäßig möglich, die einzelnen Einheiten einer Flugreise separat oder auch zeitlich versetzt – mit einem längeren Aufenthalt am Ort der Zwischenlandung – zu buchen. Der Kläger kann sich hier auch nicht darauf zurückziehen, dass er einen „Direktflug“ gebucht habe. Es ist gerichtsbekannt, dass auch ein „Direktflug“ nicht notwendigerweise eine Zwischenlandung ausschließt; der „Direktflug“ ist vielmehr allein davon gekennzeichnet, dass die Flugnummer trotz Zwischenlandung beibehalten wird. Aufgrund zahlreicher anderer Verfahren zu dem hier streitgegenständlichen Flug am 26.09.2010 ist überdies gerichtsbekannt, dass die – hier nicht vorgelegte – Buchungsbestätigung die Zwischenlandung in Mombasa ausdrücklich ausweist.

23. Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass dem Luftfahrtunternehmen so die – freilich sehr theoretische – Möglichkeit gegeben wird, einen einheitlich gebuchten Flug zu einem Ziel jenseits des Gemeinschaftsgebiets (bei innergemeinschaftlichen Flügen bliebe eine Segmentierung ohne Auswirkung) in mehrere Segmente zu zergliedern und so durch eine Zwischenlandung außerhalb des Gemeinschaftsgebiets den Anwendungsbereich der VO auszuhebeln (a.A., allerdings nur im Hinblick auf den Gerichtsstand und nur für den Fall der Annullierung: AG Wedding, Urteil vom 15.02.2010, Az. 18 C 180/09, Urteil vom 27.06.2011, Az. 19 C 84/11). Ein solches Vorgehen eines Luftfahrtunternehmens ist in der Praxis nicht zu erwarten, da es unwirtschaftlich ist und dem Luftfahrtunternehmen keinen spürbaren Vorteil bringt. Ein grundsätzlich weder betriebswirtschaftlich noch technisch veranlasster Zwischenstopp außerhalb des Gemeinschaftsgebiets, der planmäßig nur zur Umgehung der VO eingelegt wird, würde unweigerlich zu einer zusätzlichen Kostenbelastung für das betroffene Luftfahrtunternehmen in erheblichem Maße führen. Eine Zwischenlandung führt bereits aufgrund der zusätzlichen Landung und des zusätzlichen Starts zu einer erheblichen Verlängerung der Flugdauer. Hinzu kommen weitere Verzögerungen durch eine erforderliche Neubetankung sowie den hierfür notwendigen Aus- und Einstieg der Passagiere. Schließlich müssen auch sämtliche flugtechnischen Überprüfungen erneut durchgeführt werden. Bereits die hierdurch eintretenden Mehrkosten aufgrund der zeitlichen Verzögerungen im Hinblick auf den Einsatz von Personal und Fluggerät, aber auch die zusätzlichen Kerosinkosten und Flughafengebühren lassen eine planmäßig künstliche Segmentierung eines jeden Fluges zur Umgehung der VO unwirtschaftlich werden.

24. Eine solche Segmentierung des Fluges brächte dem Luftfahrtunternehmen demgegenüber auch keinen Vorteil, da die VO nur im Hinblick auf den zweiten Flug nicht einschlägig wäre. Ein Ausschluss der Verordnung kommt nur bezüglich einer Verspätung des zweiten Fluges in Betracht, der ohne die künstliche Segmentierung überhaupt nicht als eigener Flug durchgeführt worden wäre. Hinsichtlich der – im tatsächlichen Geschehen einzig relevanten – Verspätung am ersten Abflughafen bleibt die Verordnung auch bei einer künstlichen Segmentierung anwendbar; das Luftfahrtunternehmen erhält keinen spürbaren Vorteil.

25. Im Übrigen wäre ein Anspruch der Klägerseite auf Leistung von Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. c), Art. 6 Abs. 1 VO aber auch dann ausgeschlossen, wenn man die gesamte Reise als einheitlichen Flug betrachten würde. Vorliegend würde es an einer neben der relevanten Ankunftsverspätung erforderlichen Abflugverspätung fehlen. Verspätet im Sinne des Art. 6 Abs. 1 VO sind nur Flüge, bei denen sich auch die Abflugszeit im relevanten Maß verzögert. Art. 6 Abs. 1 VO enthält unter lit. a) bis c) insofern eine dezidierte Regelung zu relevanten Verspätungen, bei denen stets auf eine Verzögerung gegenüber der planmäßigen Abflugszeit abgestellt wird. Hieraus folgt, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 VO – und damit auch der einer analogen Anwendung des Art. 7 VO – eine erhebliche Abflugverspätung voraussetzt (so auch LG Frankfurt am Main, Urteil vom 23.09.2010, Az. 2-24 S 44/10).

26. Nichts anderes ergibt sich auch aus der Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19.11.2009 (Aktenzeichen C-402/07 und C-432/07), die unter Rz. 31 f. ausdrücklich auf eine Verzögerung gegenüber der planmäßigen Abflugszeit abhebt. Dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die analoge Anwendung des Art. 7 VO auf reine Verspätungsfälle darüber hinaus auch eine erhebliche Ankunftsverspätung von 3 h erforderlich sein soll, steht der ausdrücklichen gesetzlichen Wertung des Art. 6 VO nicht entgegen. Vielmehr wird hierdurch der Bereich einer entsprechenden Anwendung des Art. 7 VO für Verspätungsfälle lediglich dahingehend eingeschränkt, dass zu der erheblichen Abflugverspätung auch ein tatsächlicher Zeitverlust von höchstens 3 h – nämlich in Form einer entsprechenden Ankunftsverspätung – treten muss. Es lässt sich weder dem Verordnungstext noch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entnehmen, dass es bei Verspätungsfällen nicht mehr auf die in Art. 6 VO genannte Abflugverspätung ankommen, sondern jeder Zeitverlust von über 3 h entschädigt werden soll (so auch LG Frankfurt am Main, a.a.O.). Da der Verordnungstext ausdrücklich auf eine Abflugverspätung abstellt, fehlt es an einer für eine analoge Anwendung des Art. 7 VO erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.

27. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO; der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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