Erstreckung des Begriffs „innergemeinschaftlicher Flug“ auf „überseeische Länder und Hoheitsgebiete“

AG Düsseldorf: Erstreckung des Begriffs „innergemeinschaftlicher Flug“ auf „überseeische Länder und Hoheitsgebiete“

Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung wegen einer Verspätung von St. Marten nach Düsseldorf. Das Verfahren wurde ausgesetzt, weil unklar war, ob die karibische Insel der Fluggastverordnung nach als innergemeinschaftlich anzusehen war.

AG Düsseldorf 25 C 72/16 (Aktenzeichen)
AG Düsseldorf: AG Düsseldorf, Urt. vom 28.11.2016
Rechtsweg: AG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.2016, Az: 25 C 72/16
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Amtgericht Düsseldorf

1. Urteil vom 28. November 2016

Aktenzeichen 25 C 72/16

Leitsatz:

2. Dem Europäischen Gerichtshof wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 so auszulegen, dass sich der Begriff „innergemeinschaftlich“ auch auf diejenigen Gebiete erstreckt, welche sogenannte „überseeische Länder und Hoheitsgebiete“ sind, für welche lediglich das besondere Assoziierungssystem gilt?

Zusammenfassung:

3. Ein Flugreisender forderte eine Ausgleichszahlung gemäß der europäischen Fluggastrechteverordnung für eine Verspätung von St. Marten in der Karibik über Paris nach Düsseldorf. Die Insel ist in einen französischen und einen niederländischen Teil getrennt, die zwar beide zur den überseeischen Gebieten der Europäischen Union gehören, nach deren Verträgen aber nicht gleich behandelt werden, was die Gültigkeit von bspw. der Fluggastrechtverordnung angeht. Ob man die Insel bzw. ihre beiden Teile als innergemeinschaftlich betrachtete, war für die Höhe der potentiellen Ausgleichszahlung maßgeblich.

Das Amtsgericht Düsseldorf setzte das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob sich der Begriff „innergemeinschaftlich“ auch auf die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete erstrecke. Jedoch wurde die Klage zurückgezogen, sodass eine Beantwortung nicht mehr notwendig war.

Tenor:

4. Das Verfahren wird bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ausgesetzt.

Dem Europäischen Gerichtshof wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 so auszulegen, dass sich der Begriff „innergemeinschaftlich“ auch auf diejenigen Gebiete erstreckt, welche gemäß Anhang II des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union sogenannte „überseeische Länder und Hoheitsgebiete“ sind, für welche lediglich das im Vierten Teil des AEUV geregelte besondere Assoziierungssystem gilt?

Tatbestand:

5. Kläger ist Herr Florian H., Beklagte ist die Fluggesellschaft A.

6. Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Entschädigungsleistung wegen einer Flugverspätung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Der Kläger verfügte über eine bestätigte Buchung für die Flüge:

Datum Flug-Nr.  Abflug Uhrzeit  Ankunft Uhrzeit
15.01.2016 AF 1306 Paris (CDG) 07:20 Düsseldorf

(DUS)

08:40
14.01.2016 AF 499 Sint Maarten

(SXM)

17:00 Paris (CDG) 15.01.2016,

06:20

7. Der Abflugort des Klägers liegt auf der Karibikinsel St. Martin. Die Insel St. Martin ist unterteilt in den nördlichen französischen Teil „Saint-​Martin“ und den südlichen niederländischen Teil „Sint Maarten“.

8. Der Flug AF 499 wurde auf Grund von zwischen den Parteien streitigen Umständen verspätet durchgeführt. Der Kläger verpasste den Anschlussflug in Paris und erreichte sein Endziel nach Ersatzbeförderung mit einer Verspätung von mehr als 5 Stunden.

9. Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Ausgleichsleistung in Höhe von 600,00 EUR. Die Beklagte will allenfalls 400,00 EUR leisten.

10. Die Parteien streiten über das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes und die Höhe der zu leistenden Ausgleichszahlung wegen der Auslegung des in der Verordnung genannten Begriffes „innergemeinschaftlich“.

11. Der Kläger ist der Ansicht, „Sint Maarten“ gehöre nicht zum Gebiet der Europäischen Union, sondern sei Teil der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“, in welchen nur einzelne Aspekte des Europarechts gelten und welche auch nicht zum Zollgebiet der Europäischen Union gehören.

12. Die Beklagte ist der Ansicht, „Sint Maarten“ sei seit dem 10.10.2010 ein autonomes Land innerhalb des Königreichs der Niederlande und damit Hoheitsgebiet der Europäischen Union.

13. Die für die Entscheidung maßgebliche Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 lautet:

14. Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

15. 250,00 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger,

b)

16. 400,00 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km,

c)

17. 600,00 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Entscheidungsgründe:

18. Für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 gemäß deren Art. 3 spielt die Einordnung der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ keine Rolle, da die Beklagte jedenfalls ein „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ist.

19. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel bei der Auslegung der zitierten Vorschrift des Unionsrechts hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den in Anhang II zum AEUV genannten „überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten“ um „innergemeinschaftliche“ Gebiete im Sinne von Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 handelt.

20. Während die Verträge gem. Art. 355 Abs. 1 AEUV auch für den französischen Teil „Saint-​Martin“ gelten, handelt es sich bei dem niederländischen Teil „Sint Maarten“ gem. Art. 355 Abs. 2 AEUV i.V.m. Anhang II zum AEUV um ein „überseeisches Land und Hoheitsgebiet“, für welches lediglich das besondere Assoziierungssystem des Vierten Teils des AEUV gilt.

1.

21. Gegen eine Einordnung der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ als „innergemeinschaftliche“ Gebiete spricht:

1.

22. Artikel 355 AEUV bestimmt:

23. „Zusätzlich zu den Bestimmungen des Artikels 52 des Vertrags über die Europäische Union über den räumlichen Geltungsbereich der Verträge gelten folgende Bestimmungen:

(1)

24. Die Verträge gelten nach Artikel 349 für Guadeloupe, Französisch-​Guayana, Martinique, Réunion, Samt Barthélemy, Saint Martin, die Azoren, Madeira und die Kanarischen Inseln.

(2)

25. Für die in Anhang II aufgeführten überseeischen Länder und Hoheitsgebiete gilt das besondere Assoziierungssystem, das im Vierten Teil festgelegt ist.

26. Die Verträge finden keine Anwendung auf die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete, die besondere Beziehungen zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland unterhalten und die in dem genannten Anhang nicht aufgeführt sind.“

27. Aus Art. 355 Abs. 2 AEUV lässt sich ableiten, dass für die „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ die Verträge – und damit auch das Sekundärrecht – nicht anwendbar sein sollen, sondern für diese Gebiete ausschließlich das im Vierten Teil des AEUV geregelte besondere Assoziierungssystem gelten soll.

2.

28. Obgleich „Sint Maarten“ seit dem 10.10.2010 ein autonomes Land innerhalb des Königreichs der Niederlande ist, hat es der Verordnungsgeber bei der letzten Änderung des AEUV durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABI. EU L 112/21 vom 24.4.2012) m.W.v. 1.7.2013 unterlassen, eine Klarstellung hinsichtlich der Position „Sint Maartens“ zu treffen.

3.

29. Art. 10 Abs. 2 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nennt ausdrücklich die „französischen überseeischen Departements“. Damit war dem Verordnungsgeber bewusst, dass die überseeischen Gebiete eine Sonderposition einnehmen. Die „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ gemäß Anhang II des AEUV werden vom Verordnungsgeber nicht erwähnt, was dafür spricht, dass sie nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen sollen.

II.

30. Für eine Einordnung der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ als „innergemeinschaftliche“ Gebiete spricht:

31. Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich ein Wertungswiderspruch, insbesondere unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten, sähe man den nördlichen französischen Teil „Saint-​Matin“ der Insel St. Martin als „innergemeinschaftliches“ Gebiet an und den südlichen niederländischen Teil „Sint Maarten“ nicht.

32. Es würden der in den Erwägungsgründen (1), (2), (4) und (12) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 niedergelegte Grundgedanke eines umfassenden Verbraucherschutzes und der Gleichbehandlungsgrundsatz unterlaufen, erklärte man den französischen Teil als „innergemeinschaftlich“, den niederländischen Teil hingegen nicht. In diesem Fall würde nämlich ein Fluggast, der eine Reise in den französischen Teil der Insel bucht lediglich eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400,00 EUR erhalten, während ein Fluggast, der eine Reise in den niederländischen Teil der Insel bucht 600,00 EUR erhielte. Dies ist nach Auffassung des Gerichts widersprüchlich und mit dem von der Verordnung bezweckten Verbraucherschutzgedanken und dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht zu vereinbaren, da die Belastungen (Entfernung, Flugzeit etc.) bei einer Annullierung, Nichtbeförderung oder Verspätung für den Fluggast dieselben sind, unabhängig davon, ob er – wie im vorliegenden Fall – vom nördlichen oder südlichen Teil der Insel St. Martin abfliegt.

33. Bei Qualifizierung der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ als nicht innergemeinschaftlich ergäbe sich bei Anwendung der grundsätzlich verbraucherfreundlichen europarechtlichen Vorschriften eine Benachteiligung von Fluggästen, welche in ein „französisches überseeisches Departement“ fliegen, im Gegensatz zu denjenigen, welche in ein „überseeisches Land und Hoheitsgebiet“ reisen, obgleich die Parameter der Reise (Entfernung, Flugzeit) annähernd identisch sind.

34. Dass die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 inkonsequent und auch unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes widersprüchlich sind, zeigt ein Vergleich der Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 2 und 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Denn während in Art. 10 Abs. 2 lit. b) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Flüge zu den „französischen überseeischen Departements“ im Hinblick auf die tatsächliche Entfernung mit Langstreckenflügen über die EU hinaus gleichgestellt sind, ist dies bei den Art. 6 und 7 der Verordnung nicht der Fall. Insoweit kann das Argument der Berücksichtigung der „französischen überseeischen Departements“ bei gleichzeitiger Nichtberücksichtigung der „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ (siehe oben 1. 3.) nicht ausschlaggebend sein.

35. In Bezug auf die vorgelegte Frage hat sich eine obergerichtliche Rechtsprechung noch nicht herausgebildet. Um das Klageverfahren entscheiden zu können benötigt das vorlegende Gericht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über die Auslegung der maßgeblichen Vorschrift des Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004.

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