Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen

EuGH: Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen

Niederländische Fluggäste klagten gegen den Staatssekretär für Infrastruktur, weil dieser sich weigerte, Fluggesellschaften zur Ausgleichsleistung zu zwingen. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass nationale Stellen eine solche Verpflichtung nicht haben.

EuGH C-145/15 und C-146/15 (Aktenzeichen)
EuGH: EuGH, Urt. vom 17.03.2016
Rechtsweg: EuGH, Urt. v. 17.03.2016, Az: C-145/15 und C-146/15
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Europäischer Gerichtshof

1. Urteil vom 17. März 2016

Aktenzeichen C-145/15 und C-146/15

Leitsatz:

2. Artikel 16 der EG-Verordnung Nr. 261/2004  ist dahin auszulegen, dass die nationale Stelle zur Durchsetzung dieser Verordnung auf die individuelle Beschwerde eines Fluggasts wegen der Weigerung eines Luftfahrtunternehmens, ihm die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung zu zahlen, nicht verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen dieses Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

Zusammenfassung:

3. Drei niederländische Fluggäste klagten in zwei unabhängigen Verfahren gegen den Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt der Niederlande, weil dieser sich weigerte, Durchsetzungsmaßnahmen gegen die Airlines KLM und Royal Air Maroc zu erlassen, um diese zur Ausgleichszahlung für Flugannullierung bzw. Verspätung von mehr als 3 Stunden nach Artikel 7 der EG-Verordnung Nr. 261/2004 zu zwingen. Das vorliegende Gericht stellte fest, dass der Staatsekretär zwar im Falle von systematischen Verstößen gegen die Verordnung zu Durchsetzungsmaßnahmen befugt ist, sich daraus aber keine Verpflichtung ergibt, solche auf Antrag eines Fluggastes zu erlassen. Er rief den Europäischen Gerichtshof an, damit er das entsprechende europäische Recht auslegte.

Dieser fasste beide Verfahren wegen der übereinstimmenden Vorlagefrage zusammen und interpretierte die Verordnung anhand ihres Zwecks und ihrer Erwägungsgründe. Demnach haben die nationalen Stellen zur Durchsetung der EG-Verordnung Nr. 261/2004, hier das niederländische Staatsekretariat für Infrastruktur und Umwelt, eine Kontrollfunktion und ihre Befugnisse, bei Verstößen Sanktionen zu erlassen dienen der Durchsetzung der Verordnung im Großen und Ganzen und nicht einzelner Verbraucherbeschwerden. Deren Zweck wiederum ist nämlich die Dokumentation systematischer Verstöße.

Tenor:

4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass die nationale Stelle, die gemäß Abs. 1 dieses Artikels von jedem Mitgliedstaat benannt wird und die mit der individuellen Beschwerde eines Fluggasts infolge der Weigerung eines Luftfahrtunternehmens, ihm die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung zu zahlen, befasst ist, nicht verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen dieses Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

Gründe:

Urteil:

5. Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).

6. Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, nämlich erstens zwischen Herrn Ruijssenaars und Herrn Jansen einerseits und dem Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu (Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt, im Folgenden: Staatssekretär) andererseits und zweitens zwischen Frau Dees-​Erf und dem Staatssekretär über dessen Weigerung, Durchsetzungsmaßnahmen gegen die Royal Air Maroc SA (im Folgenden: Royal Air Maroc) bzw. die Koninklijke Luchtvaart Maatschappij NV (im Folgenden: KLM) zu erlassen, um diese Gesellschaften zu verpflichten, die in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichsleistung für die um mehr als drei Stunden verspätete Ankunft der Flüge der Kläger der Ausgangsverfahren zu zahlen.

Rechtlicher Rahmen:

7. Unionsrecht

8. Die Erwägungsgründe 1, 21 und 22 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

9. „(1)      Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

10. (21)      Die Mitgliedstaaten sollten Regeln für Sanktionen bei Verstößen gegen diese Verordnung festlegen und deren Durchsetzung gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

11. (22)      Die Mitgliedstaaten sollten die generelle Einhaltung dieser Verordnung durch ihre Luftfahrtunternehmen sicherstellen und überwachen und eine geeignete Stelle zur Erfüllung dieser Durchsetzungsaufgaben benennen. Die Überwachung sollte das Recht von Fluggästen und Luftfahrtunternehmen unberührt lassen, ihre Rechte nach den im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren gerichtlich geltend zu machen.“

12. In Art. 5 Abs. 1 der genannten Verordnung heißt es:

13. „(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

c)

14. vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

  1. i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder
  2. ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

15. iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

…“

16. Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung hat den folgenden Wortlaut:

17. „(1)      Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

18. 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b)

19. 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c)

20. 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

21. Art. 16 („Verstöße“) der Verordnung bestimmt:

22. „(1)      Jeder Mitgliedstaat benennt eine Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung in Bezug auf Flüge von in seinem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen und Flüge von einem Drittland zu diesen Flughäfen zuständig ist. Gegebenenfalls ergreift diese Stelle die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission mit, welche Stelle gemäß diesem Absatz benannt worden ist.

(2)

23. Unbeschadet des Artikels 12 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft.

(3)

24. Die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen diese Verordnung festgelegten Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

25. Niederländisches Recht

26. Die Durchsetzung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 wird u. a. durch die folgenden Bestimmungen des Luftfahrtgesetzes (Wet luchtvaart) vom 18. Juni 1992 (Stb. 1992, Nr. 368) in seiner für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Luftfahrtgesetz) gewährleistet.

27. Nach Art. 11.15 Abs. 1 Buchst. b Nr. 1 des Luftfahrtgesetzes kann der Staatssekretär, der als für die Durchsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 zuständige nationale Stelle benannt ist, eine mit Verwaltungszwang bewehrte Anordnung zur Einhaltung der durch oder aufgrund der Verordnung Nr. 261/2004 erlassenen Bestimmungen erlassen.

28. Das vorlegende Gericht führt unter Hinweis auf die vorbereitenden Arbeiten zum Luftfahrtgesetz aus, dass dieses dem Staatssekretär zwar eine allgemeine Befugnis einräume, bei Verstößen gegen die Verordnung Nr. 261/2004 Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen, insbesondere wenn die Prüfung der Angelegenheit ergebe, dass sich eine Fluggesellschaft systematisch weigere, ihren Verpflichtungen aus der Verordnung nachzukommen. Das Luftfahrtgesetz erlaube ihm jedoch nicht, in jedem Einzelfall, in dem sich eine Fluggesellschaft weigere, den sich aus den Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 ergebenden Anspruch auf Ausgleichsleistungen zu erfüllen, auf Antrag eines Fluggasts Durchsetzungsmaßnahmen zu erlassen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen:

29. Rechtssache C-​145/15

30. Nach der Annullierung ihres für den 8. April 2011 geplanten Fluges mit Abflug in Amsterdam (Niederlande) und Zielort Casablanca (Marokko) forderten Herr Ruijssenaars und Herr Jansen von Royal Air Maroc die Zahlung von Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004.

31. Auf die Weigerung des Luftfahrtunternehmens hin beantragten sie beim Staatssekretär mit Schreiben vom 4. Mai 2012, Durchsetzungsmaßnahmen gegen Royal Air Maroc zu erlassen, um diese zu verpflichten, den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu beheben und ihnen die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 zu zahlen.

32. Mit Bescheid vom 7. Mai 2012 lehnte der Staatssekretär den Antrag von Herrn Ruijssenaars und Herrn Jansen ab. Mit Bescheid vom 3. Oktober 2012 wies er den von ihnen hiergegen eingelegten Widerspruch als unbegründet zurück.

33. Gegen letzteren Bescheid erhoben Herr Ruijssenaars und Herr Jansen daraufhin vor der Rechtbank Oost-​Brabant (erstinstanzliches Gericht Ost-​Brabant) Klage, die mit Entscheidung vom 28. Mai 2013 abgewiesen wurde.

34. Herr Ruijssenaars und Herr Jansen legten beim Raad van State (Staatsrat) Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein.

35. Im Rahmen dieses Verfahrens hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Zuständigkeit des Staatssekretärs für den Erlass der von den Klägern beantragten Durchsetzungsmaßnahmen. Es ist der Auffassung, dass zwar dessen Zuständigkeit für den Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen gegen Luftfahrtunternehmen, die sich systematisch weigerten, ihren Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 261/2004 nachzukommen, feststehe, dies jedoch nicht für Durchsetzungsmaßnahmen gelte, die auf Antrag eines Fluggasts zu Einzelfällen von Verstößen gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 erlassen würden.

36. Das Verhältnis zwischen einem Luftfahrtunternehmen und einem Fluggast sei zivilrechtlicher Natur, und wenn das Luftfahrtunternehmen sich weigere, dem Fluggast die Ausgleichsleistung zu zahlen, sei der Ausgleichsanspruch durch Erhebung einer Zivilklage vor einem Zivilgericht durchzusetzen. Dem Staatssekretär, dessen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten überprüft würden, den Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen gegen Einzelne zu übertragen, begründe die Gefahr, im Fall einer parallelen Klage vor den Zivilgerichten die Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten in den Niederlanden zu untergraben.

37. Des Weiteren werde die Unzuständigkeit des Staatssekretärs für den Erlass der im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen durch die parlamentarischen Materialien zum Luftfahrtgesetz bestätigt, nach denen „es der Behörde nicht zusteht, vom Luftfahrtunternehmen im Namen der Passagiere eine Ausgleichsleistung zu fordern“, sowie dadurch, dass die Durchsetzungsmaßnahmen nach niederländischem Recht nicht geeignet seien, im Fall ihrer Nichteinhaltung durch das betreffende Luftfahrtunternehmen die Entschädigung der Passagiere zu gewährleisten.

38. Außerdem führt der Raad van State (Staatsrat) aus, dass die in dieser Sache einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 unmittelbar gälten und daher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden könnten, so dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz des Fluggasts gewährleistet sei.

39. Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

40. Sind die nationalen Behörden nach Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 im Hinblick darauf, dass nach niederländischem Recht zum Schutz der den Fluggästen nach den unionsrechtlichen Bestimmungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 zustehenden Rechte der Weg zu den Zivilgerichten eröffnet ist, zum Erlass von Durchsetzungsmaßnahmen verpflichtet, die eine Grundlage für die verwaltungsrechtliche Durchsetzung durch die nach diesem Art. 16 bezeichnete Stelle in jedem Einzelfall bieten, in dem gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 verstoßen wird, um in jedem Einzelfall den Anspruch des Fluggasts auf Ausgleichsleistungen gewährleisten zu können?

41. Rechtssache C-​146/15

42. Aufgrund einer Verspätung ihres Fluges vom 17. Dezember 2009 mit Abflug in Curaçao (Niederländische Antillen) und Zielort Amsterdam (Niederlande) um 26 Stunden forderte Frau Dees-​Erf von KLM die Zahlung einer Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004.

43. Auf die Weigerung dieses Luftfahrtunternehmens hin beantragte sie beim Staatssekretär mit Schreiben vom 1. Februar 2012, Durchsetzungsmaßnahmen gegen KLM zu erlassen, um diese dazu zu verpflichten, den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu beheben und ihr gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 eine Ausgleichsleistung zu zahlen.

44. Mit Bescheid vom 2. Februar 2012 lehnte der Staatssekretär den Antrag von Frau Dees-​Erf ab. Mit Bescheid vom 22. Mai 2012 wies er den hiergegen eingelegten Widerspruch als unbegründet zurück.

45. Frau Dees-​Erf erhob daraufhin gegen den letztgenannten Bescheid vor der Rechtbank Den Haag (erstinstanzliches Gericht Den Haag) Klage, die mit Entscheidung vom 13. Februar 2013 abgewiesen wurde.

46. Frau Dees-​Erf legte beim Raad van State (Staatsrat) ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein.

47. Aus denselben Gründen wie den im Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-​145/15 genannten hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die gleiche Vorlagefrage wie in jener Rechtssache vorzulegen.

48. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. März 2015 sind die Rechtssachen C-​145/15 und C-​146/15 zum gemeinsamen schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zur Vorlagefrage:

49. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die nationale Stelle, die gemäß Abs. 1 dieses Artikels von jedem Mitgliedstaat benannt wird und die mit der individuellen Beschwerde eines Fluggasts infolge der Weigerung eines Luftfahrtunternehmens, ihm die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung zu zahlen, befasst ist, verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen dieses Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

50. Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt in seinem Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten eine Stelle benennen, die für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständig ist und gegebenenfalls die notwendigen Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden.

51. Aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem 22. Erwägungsgrund ergibt sich, dass die in diesen Bestimmungen genannte Stelle nach dieser Verordnung die generelle Einhaltung der Verordnung zu überwachen hat.

52. Da die Bestimmungen, aus denen Art. 16 besteht, ein kohärentes Ganzes bilden, sind Art. 16 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 261/2004 so zu verstehen, dass sie die verschiedenen Gesichtspunkte präzisieren, die sich aus den Aufgaben ergeben, die der in Art. 16 Abs. 1 genannten Stelle obliegen.

53. Insbesondere sind die Beschwerden, mit denen die Stelle gemäß Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 von jedem Passagier befasst werden kann, eher als Hinweise zu verstehen, die zur ordnungsgemäßen Anwendung der Verordnung im Allgemeinen beitragen sollen, ohne dass die Stelle verpflichtet wäre, aufgrund solcher Beschwerden tätig zu werden, um das Recht jedes einzelnen Fluggasts auf Erhalt einer Ausgleichsleistung zu gewährleisten.

54. Des Weiteren ist der Begriff „Sanktionen“ in Art. 16 Abs. 3 in Verbindung mit dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass er Maßnahmen bezeichnet, die als Reaktion auf Verstöße ergriffen werden, die die Stelle in Ausübung ihrer allgemeinen Aufsicht nach Art. 16 Abs. 1 aufdeckt, und nicht verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen, die in jedem Einzelfall zu ergreifen sind.

55. Diese Auslegung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 als Ganzes verstößt daher nicht gegen die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele, insbesondere nicht gegen die Ziele, die in ihrem ersten Erwägungsgrund genannt sind, wonach ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden soll.

56. Wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ermöglicht eine solche Auslegung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 außerdem, jeglicher für die Fluggastrechte nachteiliger unterschiedlicher Beurteilung ein und desselben Einzelfalls durch die Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bei der Bearbeitung der bei ihnen erhobenen individuellen Beschwerden einerseits und durch die mit individuellen Klagen auf Zahlung der Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 befassten nationalen Gerichte andererseits vorzubeugen.

57. Des Weiteren stimmt sie überein mit der Rollenverteilung zwischen den Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 und den nationalen Gerichten, wie sie sich aus dem zweiten Satz des 22. Erwägungsgrundes und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile McDonagh, C-​12/11, EU:C:2013:43, Rn. 51, und Sousa Rodríguez u. a., C-​83/10, EU:C:2011:652, Rn. 44).

58. Die Mitgliedstaaten haben dennoch angesichts dieser Ziele und des Handlungsspielraums, über den sie bei der Zuweisung der Zuständigkeiten, die sie den Stellen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 übertragen möchten, verfügen und auf den der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, die Möglichkeit, zum Ausgleich eines unzureichenden Schutzes der Fluggastrechte die Stelle im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung zu ermächtigen, Maßnahmen auf individuelle Beschwerden hin zu ergreifen.

59. Allerdings sind, wie aus Rn. 18 dieses Urteils hervorgeht, die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 im Ausgangsverfahren unmittelbar anwendbar und können daher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden, so dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz der Fluggäste gewährleistet ist.

60. Dies bedeutet, dass Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die nationale Stelle, die gemäß Abs. 1 dieses Artikels von jedem Mitgliedstaat benannt wird und die mit der individuellen Beschwerde eines Fluggasts infolge der Weigerung eines Luftfahrtunternehmens, ihm die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung zu zahlen, befasst ist, nicht verpflichtet ist, Durchsetzungsmaßnahmen gegen dieses Luftfahrtunternehmen zu erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach der Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

Kosten:

61. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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