Eigenverschulden des nicht angeschnallten Fahrgastes bei Sturz aus dem Sitz

AG Eutin: Eigenverschulden des nicht angeschnallten Fahrgastes bei Sturz aus dem Sitz

Die Klägerin hatte bei der Beklagten eine Busreise gebucht und unternommen. Durch ein Bremsmanöver des Busfahrers stürzte die nicht angeschnallte Klägerin aus dem Sitz in den Fußraum. Sie verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Das Gericht wies die Klage ab. Für einen derartigen Anspruch sei ein Verschulden der Beklagten notwendig, das aber nicht ersichtlich sei. Vielmehr sei es Sache eines Busgastes, sich selbst gegen gewöhnliche Gefahren zu sichern.

AG Eutin 6 C 173/02 (Aktenzeichen)
AG Eutin: AG Eutin, Urt. vom 18.09.2003
Rechtsweg: AG Eutin, Urt. v. 18.09.2003, Az: 6 C 173/02
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Amtsgericht Eutin

1. Urteil vom 18. September 2003

Aktenzeichen 6 C 173/02

Leitsatz:

2. Es gibt keine Pflicht des busbetreibenden Unternehmens, in Bussen, die nicht verpflichtend mit Anschnallgurten ausgestattet sind, auf vorhandene Gurte hinzuweisen.

Zusammenfassung:

3. Die Klägerin hatte bei der Beklagten eine Busreise gebucht und unternommen. Durch ein Bremsmanöver des Busfahrers stürzte die nicht angeschnallte, schlafende Klägerin aus ihrem Sitz in den Fußraum und zog sich Hämatome und Prellungen zu. Sie verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld. Ob auf die in der ersten Reihe, in der die Klägerin saß, vorhandenen Gurte hingewiesen wurde, ist strittig.

Das Gericht wies die Klage ab. Für einen derartigen Anspruch sei ein Verschulden der Beklagten notwendig, das aber nicht ersichtlich sei. Insbesondere bestehe keine Pflicht, auf vorhandene Gurte hinzuweisen, da für den in Rede stehenden Bus schon die Ausstattung mit Gurten nicht rechtlich verpflichtend ist. Vielmehr sei es Sache eines Busgastes, sich selbst gegen gewöhnliche Gefahren der Busbenutzung zu sichern. Selbst bei Nichtkenntnis der Anschnallgurte sei es deswegen Verschulden der Klägerin, wenn sie während der Fahrt einnickt und sich in der Folge nicht etwa durch Festhalten absichert.

Tenor

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die gegen sie gerichtete Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aus diesem Urteil gegen sie vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

5. Die Klägerin begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Busunfall der sich am 15.10.2002 in Malcesine am Gardasee ereignet hat. Die Klägerin ist Reiseteilnehmerin, die Beklagte ist Reiseveranstalterin. Der Unfall ereignete sich als der Fahrer des Busses in der Ortsdurchfahrt Malcesine den Bus abrupt zum Stehen brachte. Grund dafür war, dass ein italienischer Autofahrer dem Bus die Vorfahrt genommen hatte. Der Fahrer des italienischen Fahrzeuges war noch kurz am Unfallort anwesend, ist jedoch von der Polizei entlassen worden, ohne dass seine Identität ermittelt worden wäre. Die Klägerin saß rechts hinter dem Fahrer. Sie hatte, um bequemer sitzen zu können, ihren Sitz in den Gang gezogen. Während der Fahrt war sie eingenickt. Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Klägerin nicht angeschnallt, obwohl an den Sitzen in der ersten Reihe des Busses Gurte vorhanden sind. Durch den Unfall stürzte die Klägerin in den Fußraum neben den Fahrer. Dabei zog sie sich multiple ausgedehnte Hämatome am Gesäß und an den Oberschenkeln sowie Prellungen an der rechten Rippe und an der Hüfte zu. Bei dem Bus handelt es sich um einen Bus des Typs Bova FHD 14, der erstmals zugelassen worden ist am 01.02.1999.

6. Die Klägerin behauptet, sie habe nicht gewusst, dass in dem Bus Gurte vorhanden seien. Es habe weder ein Schild am Sitz gegeben noch einen Aufkleber vorne im Bus. Bei seiner Begrüßung habe der Busfahrer zwar demonstriert, wie man die Sitze in den Gang ziehen kann, habe aber nicht auf die Gurte hingewiesen. Ihr selbst seien die Gurte nicht aufgefallen, da sie zwischen den Sitzen versteckt waren. Sie behauptet, sie habe an 6 von 10 Urlaubstagen nicht mehr an den Veranstaltungen teilnehmen können und habe im Hotel bleiben müssen. Daher verlangt sie 6/10 des Reisepreises erstattet, was 268,94 EUR entspricht.

7. Die Klägerin beantragt,

1.

8. die Beklagte zu verurteilen, 268,94 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 09.01.2003 an die Klägerin zu zahlen.

2.

9. die Beklagte weiter zu verurteilen, ein in der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 09.01.2003 an die Klägerin zu zahlen.

10. Die Beklagte beantragt,

11. die Klage abzuweisen.

12. Sie behauptet, die Klägerin habe gewusst, dass an dem Sitz Gurte vorhanden seien. Direkt am Sitz befindet sich ein Hinweis auf die Gurte, zudem sei vorn im Bus oberhalb des Fahrers ein Schild angebracht. Der Busfahrer habe auch zu Beginn der Reise auf die Gurte in der ersten Reihe hingewiesen. Im übrigen seien die Gurte auch für Laien zu erkennen, denn sie lägen offen auf den Sitzen; keinesfalls seien sie zwischen den Sitzen versteckt. Sie bestreitet, dass die Klägerin im Hotel bleiben musste. Sie habe aus anderen Gründen an einer Fahrt nach Venedig nicht teilgenommen und sei im übrigen in der Gegend spazieren gegangen.

Entscheidungsgründe

13. Die zulässige Klage ist unbegründet.

14. Die Klägerin hat keinen Anspruch aus den §§ 281 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB i. V. mit dem Reisevertrag oder § 651f Abs. 1 BGB oder § 823 Abs. 1 BGB oder die §§ 7, 8 a, 17, 18 StVG.

15. Die genannten Anspruchsgrundlagen vermitteln einen Anspruch auf Schadensersatz und ggf. Schmerzensgeld. Sämtliche Vorschriften setzen jedoch ein Verschulden voraus. Ein Verschulden wird bei einer Rechtsgutverletzung durch aktives Tun widerleglich vermutet. Soll sich die Rechtsgutverletzung auf Grund eines Unterlassens – so wie hier – ergeben, so muss das Verschulden begründet und ggf. bewiesen werden. Das kann etwa geschehen durch die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht. Bereits nach dem Vortrag der Klägerin kommt die Verletzung einer solchen Verkehrssicherungspflicht jedoch nicht in Betracht.

16. Eine Pflicht, auf vorhandene Gurte hinzuweisen ergibt sich nicht auf Grund einer gesetzlichen Pflicht. Ausdrücklich ist eine solche Pflicht in den hier einschlägigen Regelwerken insbesondere der BO-Kraft und der StVZO nicht enthalten. Sie kann sich allenfalls mittelbar ergeben aus der Verpflichtung, sich im Bus anzuschnallen. Eine solche Verpflichtung sich anzuschnallen kann es aber nur in solchen Bussen geben, die verpflichtend mit Anschnallgurten auszustatten sind (vgl. zum Ganzen: Fey TransportR 1999, 56, 58). Eine gesetzlich nominierte Ausrüstungsverpflichtung für den Großbus herkömmlichen Typs gibt es aber erst für Busse, die ab dem 01.10.1999 erstmals in den Verkehr gebracht worden sind. Darauf hat die Beklagtenvertreterin unter Anführung der einschlägigen Vorschriften im Schriftsatz vom 03.06.2003 (Bl. 44 d. A) hingewiesen. Mit Beschluss vom 30.06.2003 hat das Gericht darauf hingewiesen, dass es diese Ansicht der Beklagtenvertreterin teilt (Bl. 50 d. A).

17. Eine Verpflichtung, auf die vorhandenen Gurte hinzuweisen ergibt sich auch nicht aus allgemeinen Grundsätzen. Verkehrssicherungspflichten entstehen immer dann, wenn eine Gefahr für eine Mehrzahl von Personen geschaffen oder ausgeweitet wird. In diesem Fall müssen die zur Abwehr und zum Ausgleich nötigen und zumutbaren Maßnahmen getroffen werden. Nötig und zumutbar sind jedoch nur solche Maßnahmen, die dem Verantwortungsbereich desjenigen unterfallen, der die Gefahr geschaffen hat, d. h. im vorliegenden Fall der Beklagten, die den Omnibus in Betrieb genommen hat. Dazu gehört es jedoch nicht, jede nur denkbare Gefahr auszuschließen, die durch den Betrieb des Omnibusses entsteht. Insbesondere muss der Bus nicht so beschaffen sein, dass jede Fehlreaktion von Fahrgästen auszuschließen ist (vgl. am Beispiel einer Automatiktür: LG Kiel VRS 1986, 251). Jeder Fahrgast eines Busses ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen des Busses nicht zu Fall kommt (vgl. OLG Frankfurt NZV 2002, 367 und OLG Köln Versicherungsrecht 2000, 1120). Die Klägerin hätte unter Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt den Sturz ohne weiteres verhindern können. Sie hatte ihren Sitz in den Gang gezogen und saß in der ersten Reihe, ohne dass nach vorne eine Sicherheitseinrichtung vorhanden war. Unabhängig von der Tatsache, ob die Gurte auf einen Blick für sie zu erkennen waren, hätte sie merken müssen, dass bereits bei einem kleineren Bremsmanöver die Gefahr bestand, dass sie nach vorne in den Fußraum beim Fahrer rutscht. Sie hätte sich wenigstens festhalten müssen (OLG Frankfurt a.a.O.), keinesfalls hätte sie jedoch einschlafen dürfen.

18. Wer mit einem deutschen Reisebus im Ausland unterwegs ist, darf sich nicht darauf verlassen, dass der Busfahrer jede auftretende Verkehrssituation in gleicher Weise meistern kann wie auf deutschen Straßen. Durch geringfügig andere Regeln im Straßenverkehr, anderen Straßenzustand und andere Fahrweise der einheimischen Autofahrer als die gewohnte, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass es zu unerwarteten Verkehrssituationen kommt. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Busfahrer häufig ortsunkundig sein wird und daher größere Aufmerksamkeit auf die Route legen muss.

19. Schließlich bestehen auch keine Ersatzansprüche nach den §§ 7, 8 a, 17, 18 StVG. Die Beklagte trifft in dem Unfall der Klägerin – wie ausgeführt – kein Verschulden. Auch aus dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung steht der Klägerin kein Anspruch auf Ersatz des ihr entstandenen materiellen Schadens zu. Das erhebliche Verschulden der Klägerin schließt eine Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Omnibusses zu Lasten der Beklagten aus (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.).

20. Die prozessualen Nebenentscheidungen finden ihren Grund in den §§ 91, 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

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