Schadenersatz nach Sturz in Straßenbahn
Schadenersatz nach Sturz in Straßenbahn
Eine ältere Frau stürzte in der Straßenbahn und verletzte sich an der Schulter. Sie klagte auf Schmerzensgeld, doch das Gericht wies die Klage ab, da die Frau sich in der Straßenbahn nicht festgehalten hatte.
Es läge eine Verletzung ihrer Eigensicherungspflicht vor für die der beklagte Betreiber der Bahn nicht haftbar zu machen sei.
LG Essen | 18 O 325/15 (Aktenzeichen) |
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LG Essen: | LG Essen, Urt. vom 04.01.2016 |
Rechtsweg: | LG Essen, Urt. v. 04.01.2016, Az: 18 O 325/15 |
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Leitsatz:
2. Kommt ein Fahrgast in den öffentlichen Verkehrsmitteln (hier Straßenbahn) seiner Eigensicherungspflicht nicht nach und kommt es dadurch bei ihm zu einer Verletzung, so ist der Betreiber des öffentlichen Verkehrsmittels nicht schadensersatzpflichtig.
Zusammenfassung:
3. Eine ältere Frau stürzte als die Straßenbahn, in die sie gerade eingestiegen war, losfuhr. Dabei verletzte sich die Frau sich an der Schulter. Sie klagte gegen den Straßenbahnbetreiber auf Schmerzensgeld, ihre Klage wurde jedoch abgewiesen. Laut Gericht habe sie keinen Anspruch auf eine Schmerzensgeldzahlung, da in der Straßenbahn eine Eigensicherungspflicht vorläge, die es den Kunden vorschreibe sich auf angemessene Weise selbst gegen Stürze und Verletzungen zu sichern (beispielsweise durch das Festhalten an Haltegriffen), gerade im Moment des Anfahrens sei diese Eigensicherung unbedingt notwendig.
Da es im Türbereich, wo die Klägerin zu Fall gekommen war, ausreichend Haltegriffe gegeben habe, die jedoch von ihr nicht benutzt wurden, sei ihr Sturz in gewissem Maße selbstverschuldet gewesen und die Beklagte also nicht schmerzensgeldpflichtig.
Tenor:
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
5. Die Parteien streiten um Ansprüche auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einem Sturzereignis in einer Straßenbahn.
6. Die Klägerin betrat am … gegen 10:40 Uhr zusammen mit ihrem Ehemann an der Haltestelle A-Str. in F die Straßenbahn-Linie … in Richtung I-Straße. Die Betreiberin der Straßenbahn ist die Beklagte. Die Klägerin selbst nutzte zu diesem Zeitpunkt einen Gehstock, den sie seit einer Wirbelsäulenoperation bei sich führt. Mit dem Stock kann die Klägerin ohne fremde Hilfe im Schrittempo gehen. Der Ehemann der Klägerin nutzte mit beiden Armen jeweils eine Gehhilfe.
7. Noch bevor die Klägerin einen festen Halt auf einem der Sitze gefunden hatte, fuhr die Straßenbahn an. Die Klägerin, die sich zu diesem Zeitpunkt auch nirgendwo festgehalten hatte, verlor dadurch das Gleichgewicht, schlug mit der linken Schulter gegen eine Wand und prallte sodann zu Boden. Die Klägerin verletzte sich durch den Sturz an der Schulter. Bei der Klägerin liegt heute eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung des linken Armes aufgrund einer Rotatorenmanschettenruptur vor. Die Unfallbedingtheit dieses Zustandes steht zwischen den Parteien im Streit. Unstreitig war die Rotatorenmanschette der Klägerin vor dem Sturzereignis jedoch jedenfalls bereits vorgeschädigt.
8. Die Klägerin hat vorgerichtlich Ansprüche wegen des Sturzereignisses gegen die Beklagte geltend gemacht. Durch Schreiben vom 23.09.2015 hat die Beklagte eine Einstandspflicht abgelehnt.
9. Die Klägerin behauptet, sie habe unmittelbar nach dem Betreten der Bahn versucht, festen Halt auf einem der Notsitze zu erlangen. Die Fahrerin sei jedoch so zeitig angefahren, dass die Zeit hierfür nicht ausgereicht habe. Die Rotatorenmanschettenruptur in der linken Schulter sei infolge des Unfallereignisses eingetreten. Es handele sich insofern um einen Dauerschaden, insbesondere sei eine operative Behandlung nicht erfolgversprechend.
die Beklagte zu verurteilen, an sie ein ordnungsgemäßes Schmerzensgeld anlässlich eines Vorfalls vom … gegen 10:40 Uhr an der Haltestelle A-Straße in der Linie … Richtung I-Straße nebst 5 % Zinsen oberhalb Basiszinssatz ab dem 23.09.2015 zu zahlen sowie die Klägerin von der Zahlung des Verzugsschadens in Höhe von 1.029,35 € gegenüber ihren Prozessbevollmächtigten freizustellen.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, sämtliche materielle und immaterielle Schäden, welche aus dem oben genannten Ereignis noch entstehen werden, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind, an sie zu zahlen.
die Klage abzuweisen.
12. Die Beklagte beruft sich auf ein weit überwiegendes Mitverschulden der Klägerin, weil diese ihre Pflicht zur Eigensicherung verletzt habe. Der Anfahrvorgang könne aus technischen Gründen erst 30 Sekunden nach dem Verlassen des Eingangsbereiches durch die Klägerin begonnen haben.
13. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien sowie die zur Akte gereichten Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
14. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
15. Der Klägerin steht kein Anspruch gegen die Beklagte auf Schadenersatz zu, so dass weder der Zahlungsantrag, noch der Feststellungsantrag begründet sind.
16. Ein Anspruch der Klägerin auf Schadenersatz folgt insbesondere nicht aus §§ 1 I, 6 HPflG.
17. Zwar ist es im vorliegenden Fall bei Betrieb einer Straßenbahn zu einer Verletzung des Körpers der Klägerin gekommen, so dass grundsätzlich eine verschuldensunabhängige Haftung der Beklagten als Straßenbahnbetreiberin für die Ereignisfolgen besteht.
18. Dem Anspruch der Klägerin steht jedoch ein nach §§ 4 HPflG, 254 BGB zu berücksichtigendes weit überwiegendes Mitverschulden der Klägerin entgegen, hinter welches die Gefährdungshaftung der Beklagten zurücktritt.
19. Der Klägerin fällt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Eigensicherung aus § 4 III 5 BefBedV zur Last. Nach § 4 I 1 BefBedV haben sich Fahrgäste bei Benutzung der Fahrzeuge so zu verhalten, wie es die Sicherheit und Ordnung des Betriebs, ihre eigene Sicherheit und die Rücksicht auf andere Personen gebieten. Die dem Fahrgast obliegenden Verhaltenspflichten werden in § 4 III 3 BefBedV dahin konkretisiert, dass zügig ein- und auszusteigen sowie in das Wageninnere aufzurücken ist.
Nach § 4 III 5 BefBedV ist schließlich jeder Fahrgast verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Gegen letztgenannte Pflicht hat die Klägerin verstoßen. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt zu Fall, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (OLG Koblenz, Urteil vom 14.08.2000, Az.: 12 U 893/99, Tz. 13; OLG Oldenburg, Urteil vom 06.07.1999, Az.: 5 U 62/99, Tz. 11).
20. Diesen Anscheinsbeweis hat die Klägerin nicht erschüttert. Insofern fehlt es bereits an einem hinreichenden Sachvortrag zu einer Situation, die abweichend vom Normalfall die Annahme rechtfertigen würde, dass ein Sturz im Rahmen des Anfahrvorganges nicht auf einem Verstoß gegen die Pflicht zur Eigensicherung beruhen würde. Unstreitig hatte die Klägerin im vorliegenden Fall die Zeit vom Eintreten bis zum Anfahren nicht dazu genutzt, sich einen sicheren Halt zu verschaffen. Soweit die Klägerin noch in der Klageschrift vorgetragen hatte, einen Sitzplatz noch gar nicht erreicht zu haben, hatte die Klägerin diesen Sachvortrag im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung dahingehend klargestellt, dass sie den Sitzplatz zwar erreicht hatte, aber gerade erst dabei war, sich zu setzen, als die Bahn anfuhr. Dass die Klägerin bereits ihre endgültige Sitzposition gefunden und gleichwohl vom Anfahrdruck wieder vom Sitz gestoßen worden wäre, hat die Klägerin nicht behauptet. Soweit die Klägerin behauptet hat, dass es ihr aufgrund des zeitigen Anfahrens der Straßenbahn gar nicht möglich gewesen sei, sich rechtzeitig zu setzen, steht dieser Vortrag einem Verstoß gegen die Pflicht zur Eigensicherung schon deswegen nicht entgegen, weil eine Eigensicherung auch dadurch erfolgen kann, dass zunächst ein fester Halt an einer Haltestange gesucht wird. Insbesondere nach einem Betreten von öffentlichen Verkehrsmitteln besteht die Pflicht, sich zunächst an im Eingangsbereich vorhandenen Haltevorrichtungen Halt zu verschaffen, um dem Anfahrdruck zu widerstehen, soweit nicht sicher davon auszugehen ist, dass ein Sitzplatz noch vor dem Anfahren gefahrlos erreicht werden kann (OLG Frankfurt NZV 2011, 199). Jedenfalls gegen diese Pflicht hat die Klägerin – auch nach ihrem eigenen Sachvortrag – verstoßen. Denn im vorliegenden Fall waren unmittelbar im Eingangsbereich, durch welchen die Klägern die Straßenbahn betreten hatte, wie auf den im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegten und in Augenschein genommenen Lichtbildern (s. Anlage zum Sitzungsprotokoll vom 04.01.2016) gut zu erkennen war, Haltestangen vorhanden. Diese befanden sich zudem noch in unmittelbarer Nähe zu den von der Klägerin ausgewählten Notsitzen. Dass die Klägerin auch nur versucht hätte, sich an diesen festzuhalten, hat sie nicht behauptet.
21. Steht wie im vorliegenden Fall ein Verstoß des Fahrgastes gegen die Pflicht zur Eigensicherung fest, so tritt dahinter die Gefährdungshaftung des Betreibers des öffentlichen Verkehrsmittels regelmäßig vollständig zurück (vgl. OLG Dresden MDR 2014, 897; OLG Frankfurt NZV 2011, 199). Umstände, die im vorliegenden Fall eine andere Bewertung rechtfertigen könnten, sind nicht erkennbar.
22. Zwar kommt es durchaus in Betracht, eine Mithaftung des Straßenbahnbetreibers anzunehmen, wenn ein Sturz eines Fahrgastes jedenfalls auch auf einem konkreten Pflichtverstoß des Fahrers/der Fahrerin der Straßenbahn zurückzuführen ist. Das dies der Fall wäre, vermag die Kammer im vorliegenden Fall indes nicht festzustellen. Insbesondere hat die Fahrerin der Linie … ihre Pflichten gegenüber der Klägerin nicht dadurch verletzt, dass sie mit dem Anfahren nicht abgewartet hat, bis die Klägerin einen sicheren Halt gefunden hatte. Denn der Fahrer eines öffentlichen Verkehrsmittels darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Fahrgäste ihrer Verpflichtung aus § 4 III 5 BefBedV, sich jederzeit einen festen Halt zu verschaffen, nachkommen und braucht sich deswegen vor dem Anfahren regelmäßig nicht zu vergewissern, ob sämtliche Fahrgäste auch tatsächlich dieser Verpflichtung bereits nachgekommen sind. Soweit in der Rechtsprechung hiervon dann eine Ausnahme gemacht wird, wenn Fahrgäste – nach außen hin erkennbar – in ihrer Fähigkeit, selbständig einen festen Halt zu finden, in schwerwiegender Weise eingeschränkt sind (vgl. BGH VersR 1993, 241: „schwere Behinderung“, so auch: OLG Frankfurt NZV 2011, 199; KG Berlin NZV 2013, 78), so liegt eine derartige Ausnahmesituation im vorliegenden Fall nicht vor. Die Klägerin nutzt zwar einen Gehstock. Sie war aber – wie sie im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung selbst angab – ohne weiteres in der Lage, in normaler Schrittgeschwindigkeit zu gehen, was bei einer Beobachtung ihres Gangverhaltens auch ohne weiteres ersichtlich war. Auch hat die Klägerin nicht behauptet, in ihrer Fähigkeit, sich festzuhalten, erheblich eingeschränkt gewesen zu sein. Die Fahrerin der Linie … durfte daher darauf vertrauen, dass die Klägerin selbstverantwortlich in der Lage sein würde, sich entweder rechtzeitig vor dem Anfahren auf einen Sitzplatz zu setzen oder sich alternativ an einer Haltestange festzuhalten, um den Anfahrruck abzuwarten.
23. Darauf, ob die Gehbehinderung des Ehemannes der Klägerin ausreichte, um eine Wartepflicht der Fahrerin der Straßenbahn zu begründen, kommt es nicht an, da die Verletzung einer etwaigen Wartepflicht gegenüber dem Ehemann der Klägerin nicht geeignet wäre, den Mithaftungsanteil der Beklagten gegenüber der Klägerin zu vergrößern.
24. Ein Anspruch der Klägerin aus §§ 280 I, 611 BGB wegen Schlechterfüllung des Beförderungsvertrages kommt deswegen nicht in Betracht, weil eine Pflichtverletzung der Straßenbahnfahrerin, die der Beklagten gem. § 278 BGB zuzurechnen wäre, nicht ersichtlich ist.
25. Ein Anspruch aus § 831 BGB gegen die Beklagte scheitert ebenfalls. Zwar begründet diese Norm eine Haftung für vermutetes Verschulden, sie findet aber nach höchstrichterlicher Rechtsprechung mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm keine Anwendung in Fällen, in denen sich der Verrichtungsgehilfe (hier die Straßenbahnführerin) objektiv fehlerfrei verhalten hat. Grund ist, dass in einem solchen Fall auch gegen den Verrichtungsherrn im Falle eigenen (zurechenbaren) Handelns kein Anspruch bestünde (BGH NJW 1996, 3205).
26. Weitere Anspruchsgrundlagen für das klageweise geltend gemachte Begehren in der Hauptsache sind nicht ersichtlich.
27. Mangels Begründetheit der Hauptsacheforderung stehen der Klägerin auch die geltend gemachten Nebenansprüche nicht zu.
28. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 I 1, 709 ZPO.
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