Ausgleichszahlung bei Flugverspätung

AG Nürtingen: Ausgleichszahlung bei Flugverspätung

Fluggäste nahmen eine Airline für eine Ausgleichszahlung wegen einer eintägigen Flugverspätung und die Erstattung von Verpflegungskosten in Anspruch.

Das Amtsgericht Nürtingen gab lediglich in letztgenanntem Punkt der Klage statt und widersprach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, indem es für die Verspätung keinen Ausgleichsanspruch gewährte.

AG Nürtingen 46 C 520/13 (Aktenzeichen)
AG Nürtingen: AG Nürtingen, Urt. vom 05.07.2013
Rechtsweg: AG Nürtingen, Urt. v. 05.07.2013, Az: 46 C 520/13
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Amtsgericht Nürtingen
1. Urteil vom 05.07.2013
Aktenzeichen 46 C 520/13

Leitsätze:
2. Bei bloßer Flugverspätung besteht kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung.

Reisende sind im Falle einer Notunterbringung für Mehrkosten zu entschädigen.

Zusammenfassung:
3. Flugreisende klagten gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen wegen der eintägigen Verzögerung ihres Fluges aufgrund eines technischen Defekts. Sie und die anderen Passagiere waren notbedingt in einer Unterkunft untergebracht worden, mussten dort jedoch Getränke zu je 5,- Euro selbst bezahlen. Hierfür forderten die Kläger die Erstattung der Mehrkosten von 25,- Euro.

Das Amtsgericht Nürtingen gab dem Anspruch auf Erstattung der Getränkekosten statt. Auf außergewöhnliche Umstände konnte sich die Beklagte nicht berufen, da sie die Art des Defekts nicht näher ausgeführt und ihn nicht bewiesen hat. Jedoch sah das Gericht keinen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung für die Verspätung als gegeben. Hiermit widersprach es konkret der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, der erhebliche Verspätung mit Annullierung gleichsetzt. Nach Auffassung des Amtsgerichts aber sieht die Fluggastrechteverordnung eine Ausgleichszahlung bei Verspätungen nicht vor.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Ziff. 1 25,00 Euro nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 07.12.2012 zu bezahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des beizutreibenden Betrages abzuwenden, es sei denn, der jeweilige Vollstreckungsgläubiger leistet vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe.

Streitwerte:

 

Klagantrag Ziff. 1: 435,00 Euro
Klagantrag Ziff. 2: 400,00 Euro
Klagantrag Ziff. 3:    400,00 Euro
Gesamt­streitwert: 1.235,00 Euro

 

Tatbestand:

5. Mit der am 18.03.2013 beim Amtsgericht Nürtingen eingegangenen Klage verlangen die Kläger Ziff. 1 bis 3 Ausgleichszahlungen unter Berufung auf die EuFlugVO (EG-​VO Nr. 261/2004), wobei die Kläger Ziff. 1 und 2 die Eltern des am… geborenen Klägers Ziff. 3 sind.

6. Die in Anspruch genommene Beklagte ist ein deutsches Flugunternehmen, das in K. seinen Sitz hat.

7. Unstreitig hatten die Kläger über das Reiseunternehmen Neckermann eine Flugreise von Stuttgart nach Kreta und zurück gebucht. Der Rückflug war geplant mit dem Flug der Beklagten Nr. für den… mit dem Abflug um 19.25 Uhr.

8. Tatsächlich fand der Flug von Kreta nach Stuttgart erst am Folgetag statt, dem…. Die Kläger haben umfassend geschildert, in welcher Weise die Reiseleitung und im Anschluss die Beklagte bzw. deren Mitarbeiter sich um die Passagiere gekümmert haben. Obwohl am … gegen 17.25 Uhr den Reisenden und so auch den Klägern erklärt wurde, dass der Flug nach Stuttgart heute nicht mehr erfolgen werde, wurden die Passagiere in das Flughafengebäude beordert und nach einstündigem Warten aufgefordert, einzuchecken, um eine gültige Bordkarte zu erhalten. Diese wurde allerdings am nächsten Tag wieder vernichtet. Gegen 19.35 Uhr wurden die Kläger in Busse verfrachtet und in das Hotel … zur Übernachtung verbracht.

9. In dem Bus erfolgte die Durchsage, dass die Kosten der Übernachtung durch die Beklagten übernommen werde und ebenso die Kosten für das Essen und Trinken. Nach dem präzisierten Vortrag der Kläger bestand das Trinken in der Zur-​Verfügungstellung von Leitungswasser. Andere Getränke mussten gegen Entgelt erworben werden.

10. Bereits um 7.00 Uhr am 11.10.2012 haben die Kläger ein Notfrühstück erhalten und waren aufgefordert, sich in den Bus zu begeben, um zum Flughafen zu fahren. Hier erfolgte ein erneuter Check In. Auf der Anzeigetafel im Wartebereich wurde bekannt gegeben, dass der Abflug um 10.00 Uhr erfolgen sollte. Gegen 10.50 Uhr erschien dann der Pilot der den wartenden Reisenden mitteilte, dass die Maschine ein technisches Problem habe und somit nicht fliegen könne. Er erklärte, es sei hier ein Defekt an der linken Bremse gegeben.

11. Über Lautsprecher wurden die Reisenden informiert, dass sie sich zu den Schaltern 15 – 17 am Flughafen begeben sollten, um weitere Informationen zu erhalten, wobei diese Schalter jedoch nicht besetzt waren. In der Folge tauchte die Reiseleitung des Unternehmens N. auf, die die Reisenden erneut um 11.15 Uhr in Busse beorderte und zum Mittagessen in eine griechische Taverne brachte. Auch hier wurde mitgeteilt, Essen und Getränke seien inclusive. Auch hier war nach dem präzisierten Vortrag der Kläger das Getränk lediglich Leitungswasser und Zusatzgetränke mussten gegen Entgelt erworben werden. Um 14.00 Uhr wurden die Reisenden und so auch die Kläger aus dem Gasthaus abgeholt und erneut zum Flughafen gebracht. Dort erfolgte, wie ausgeführt, der Abflug um 15.45 Uhr.

12. Die Kläger berufen sich auf die Entscheidung des EuGH, die ihnen das Gericht in der Terminsbestimmung zitiert hat, Urteil vom 19.11.2009 zu AZ: C-​402/07 und C-​432/07. Die Kläger nehmen als Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Ausgleichsanspruch von 400,00 Euro pro Person ganz selbstverständlich Art. 7 der VO EG Nr. 261/2004 in Anspruch.

13. Die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit Schreiben vom 21.11.2012, vgl. Anlage K 3, Bl. 11 d. GA. für die Kläger Ziff. 1 und 2 und auch für den Kläger Ziff. 3 eine Entschädigung i.H.v. jeweils 400,00 Euro geltend gemacht.

14. Des weiteren wurden 35,00 Euro verlangt für die Zusatzbeschaffung von Erfrischungsgetränken, nachdem diese in den Unterkünften (Hotel, Taverne) nicht übernommen wurden. Die Klägervertreterin hat diesbezüglich Frist bis 04.12.2012 gesetzt.

15. Mit Schreiben vom 06.12.2012, vgl. Anlage K 5, Bl. 14 d. GA. haben die Beklagtenvertreter umfänglich geantwortet, wobei zu einem etwa vorliegenden außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung keine substantiierten Äußerungen gemacht wurden, ebenso nicht im Laufe des Verfahrens.

16. Die Kläger haben beantragt, wie folgt für Recht zu erkennen:

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) 435,00 Euro nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.11.2012 zu bezahlen.
  2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) 400,00 Euro nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.11.2012 zu bezahlen.
  3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 3) 400,00 Euro nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 05.12.2012 zu bezahlen.
  4. Die Beklagte wird verurteilt, an die R. Rechtsschutzversicherung AG gesetzlich vertreten durch den Vorstand … vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten i.H.v. 261,21 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

17. Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.

18. Sie hat sich einem umfänglichen Hinweis des Amtsgerichts Nürtingen bezüglich des Verhältnisses zwischen Annullierung und großer Nur-​Verspätung im Rahmen der EuFlugVO vgl. ab S. 2 der Verfügung vom 23.03.3013, Bl. 21 ff. d.GA. angeschlossen und darauf abgehoben, dass im Nur-​Verspätungsfall keine Ausgleichszahlung geschuldet werde.

19. Die Beklagte hatte sich allerdings außergerichtlich auf diesen Gesichtspunkt nicht berufen, sondern lediglich allgemeine Ausführungen zu den außergewöhnlichen Umständen gemacht.

20. Die Beklagte hat bestritten, dass der Kläger Kosten für Getränke i.H.v. 35,00 Euro zu tragen hatte. Die Beklagte habe durch die Mitarbeiter des Handlingagenten vor Ort für kostenlose Mahlzeiten und Getränke gesorgt.

21. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst beigefügten Anlagen sowie auf ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vom 24.06.2013 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

22. Die Klage ist zulässig jedoch lediglich i.H.v. 25,00 Euro nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 07.12.2012 begründet. Im Übrigen ist die Klage unbegründet und war daher abzuweisen.

23. Zum zugesprochenen Betrag von 25,00 Euro:

24. Die Kläger haben sowohl außergerichtlich als auch zuletzt in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass die Erfrischungen, die sie auf Kosten der Beklagten bei der sehr großen Verspätung für zwei Besuche in Hotel und Gaststätte erhalten haben, in schlichtem Leitungswasser bestanden.

25. Konkretisiert wurde, dass der Einheitspreis für eine 0,2 l Colaflasche oder Fantaflasche sich auf 5,00 Euro belaufen hat und hier auch die Flasche nur zu erwerben war gegen Bares. Eine Quittung hierfür wurde den Klägern nach deren glaubhaftem Vortrag nicht erteilt. Daher hat sich das Gericht entschlossen, dem schlichten Vortrag der Kläger Glauben zu schenken und davon auszugehen, dass sie dem Gericht hier keinen Bären aufgebunden haben. Konkret wurden glaubhaft gemacht fünf Einheiten a 5,00 Euro, mithin 25,00 Euro.

26. Die Beklagtenseite ist hierauf außergerichtlich überhaupt nicht eingegangen und hat gerichtlich nur pauschal bestritten. Den Verzugsbeginn hat das Gericht mit der Ablehnung des Gesamtanspruches gegenüber der Klägervertreterin festgelegt, nachdem der Kläger Ziff. 1 mit seinem ersten Anspruchsschreiben vom 23.10.2012, vgl. Anlage K 2, Bl. 7 d. GA. für die nicht gewährten Getränke zunächst keinen Ersatz forderte.

27. Soweit die Kläger jeder für sich 400,00 Euro Ausgleichszahlung wegen der großen Verspätung (mehr als 20 Stunden) beanspruchen, konnte das Amtsgericht Nürtingen dem aus Rechtsgründen nicht entsprechen, wiewohl nicht verkannt wird, dass nach dem nicht substantiiert bestrittenen Vortrag der Kläger die Beklagte die von der großen Verspätung betroffenen Kläger nur stiefmütterlich behandelt hat. Das Gericht bemerkt an dieser Stelle, dass viele Klagen nach der EuFlugVO in Nur-​Verspätungsfällen dadurch gekennzeichnet sind, dass die jeweilige Fluggesellschaft mit nichtssagenden Leerformeln und erkennbaren Beruhigungspillen die von den Unannehmlichkeiten betroffenen Passagiere abspeisen wollen. Würden sie sich mit Empathie um die Passagiere kümmern, würden die Passagiere im Nur-​Verspätungsfall häufig einsehen, dass sich die Luftfahrtgesellschaft tatsächlich bemüht hat, baldigst den verspäteten Flug dann doch durchzuführen.

28. Vorab:

29. Auf einen nicht näher definierten Defekt an den Bremsen des Fluggerätes kann sich die Beklagte im Hinblick auf außergewöhnliche Umstände nicht berufen, diese Schilderung, was mit dem betreffenden Fluggerät los ist, lässt keinerlei Zuordnung zu. Außergewöhnliche Umstände darzutun und zu beweisen ist Sache der Beklagten.

30. Für die geltend gemachten Ansprüche der Kläger, was die Nur-​Verspätung angeht, kann das Amtsgericht Nürtingen, Referat 11 C und 46 C weiterhin keine Anspruchsgrundlage entdecken.

31. In der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 nimmt dieser nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen zunächst zutreffend an, dass nach der Begrifflichkeit ein verspäteter Flug, unabhängig von der Dauer der Verspätung, auch wenn es sich um eine große Verspätung handelt, nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn der Abflug entsprechend der ursprünglichen Flugplanung stattfindet. Wenn daher die Fluggäste mit einem Flug befördert werden, dessen Abflugzeit sich gegenüber der ursprünglich geplanten Abflugzeit verzögert, kann der Flug nur dann als „annulliert“ angesehen werden, wenn das Luftfahrtunternehmen die Fluggäste mit einem anderen Flug befördert, dessen ursprüngliche Planung von der des ursprünglich geplanten Fluges abweicht.

32. Demnach kann grundsätzlich von einer Annullierung ausgegangen werden, wenn der ursprünglich geplante und verspätete Flug auf einen anderen Flug verlegt wird, d. h. wenn die Planung des ursprünglichen Fluges aufgegeben wird und die Fluggäste dieses Fluges zu den Fluggästen eines anderen, ebenfalls geplanten Fluges stoßen und zwar unabhängig von dem Flug, für den die so umgebuchten Fluggäste gebucht hatten, vgl. hierzu die gleichlautenden Ausführungen des EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009, Rdnr. 34-​36. Der EuGH hat mithin nach der Begrifflichkeit weiterhin an der Unterscheidung von annulliertem Flug und verspätetem Flug festgehalten.

33.  In den Ausführungen ab der Rdnr. 40 der Entscheidung des EuGH wird zwar konzediert, dass sich aus dem Wortlaut der Verordnung nicht unmittelbar ergibt, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch zusteht.

34. Der EuGH weist jedoch darauf hin, dass die Möglichkeit der Berufung auf „außergewöhnliche Umstände“, unter denen die Luftfahrtunternehmen von der Ausgleichszahlung nach Artikel 7 der Verordnung EG Nr. 261/2004 frei werden könnten, zwar nur in Artikel 5 Abs. III der Verordnung vorgesehen sei, der die Annullierung eines Fluges betrifft, doch heiße es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung (die Erwägungsgründe sind dieser vorangestellt), dass dieser Rechtfertigungsgrund (außergewöhnliche Umstände) auch dann geltend gemacht werden könne, wenn eine Entscheidung des Flugmanagements zu einem einzelnem Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge habe, dass es zu einer „großen Verspätung Verspätung bis zum nächsten Tag“ komme. Da der Begriff der großen Verspätung im Kontext der außergewöhnlichen Umstände genannt sei, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch ihn mit dem Ausgleichsanspruch verknüpft habe.

35.  Implizit werde dies durch das Ziel der Verordnung bestätigt, da sich aus den ersten vier Erwägungsgründen und insbesondere aus dem 2. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergäbe, dass sie darauf abziele, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder einer Annullierung oder Verspätung eines Fluges betroffen seien, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind.

36. Dies gelte umso mehr, als die Vorschriften, mit denen den Fluggästen Ansprüche eingeräumt werden, einschließlich derjenigen, die einen Ausgleichsanspruch vorsehen, weit auszulegen seien. Unter diesen Umständen könne nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass die Fluggäste verspäteter Flüge keinen Ausgleichsanspruch haben und im Hinblick auf die Anerkennung eines solchen Anspruches nicht den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können.

37.  Insgesamt spricht sich der EuGH im Hinblick auf die bedeutende Verspätung dafür aus, dass die Situation von Fluggästen verspäteter Flüge mit der von annullierten Flügen zu vergleichen sei. Mit diesen Maßnahmen solle die Verordnung unter anderem den Schaden ausgleichen, der in einem Zeitverlust der betroffenen Fluggäste besteht und der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden könne.

38. Der EuGH stellt heraus, dass eine unterschiedliche Behandlung der mit einem annullierten Flug konfrontierten Fluggäste oder von einer großen Verspätung des Fluges betroffenen Fluggäste durch keine objektive Erwägung gerechtfertigt werden könne.

39.  Eine unterschiedliche Behandlung sieht der EuGH als Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot an.

40. Der EuGH ist der Auffassung, dass diese Schlussfolgerung nicht dadurch widerlegt werde, dass Artikel 6 der Verordnung für die Fluggäste verspäteter Flüge verschiedene Formen von Unterstützungsleistungen nach den Artikeln 8 und 9 der Verordnung vorsehe.

41.  Dem allem vermag das Amtsgericht Nürtingen nicht zu folgen.

42.  Gegen die vom EuGH vorgenommene Auslegung spricht bereits der Wortlaut, nämlich Artikel 1 der Verordnung, der die Fallgruppen a) Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste, b) Annullierung des Fluges und c) Verspätung des Fluges voneinander unterscheidet. Die Unterscheidung dieser Begriffe ist sinnlos, wenn anschließend durch Richterrecht die unterschiedlichen Rechtsfolgen wieder eingeebnet würden. Der Verordnungsgeber hat mit der akribischen Begrifflichkeit seinen Willen klar ausgedrückt, unter welchen Umständen welche Leistungen die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu erbringen haben, und hat damit seinen politischen Willen in Gesetzesform gegossen.

43.  Für den Fall der Nichtbeförderung wird gemäß Artikel 4 Abs. III in vollem Umfang auf den Anspruch der Fluggäste auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9 verwiesen.

44.  Im Falle der Annullierung wird gem. Artikel 5 auf die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 verwiesen, sowie die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Abs. I a) und Abs. II. Es handelt sich bei Artikel 5 mit den weiteren Bestimmungen um ein filigranes System der Ansprüche, bezüglich derer der Rechtsanwender nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen davon ausgehen muss, dass es einer Interessenabwägung des Gesetzgebers entsprungen ist und nach dem Prinzip der Gewaltenteilung der Richter sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen darf, wenn ihm bestimmte Ergebnisse der Regelung nicht gefallen. Der Richter ist jeweils Rechtsanwender, jedoch nicht Ersatzgesetzgeber. Eine Regelungslücke in dem Normengebilde der Verordnung ist von vornherein nicht auszumachen, da die Verordnung per se nur fragmentarischen Charakter hat und keine „ungeplante“ Regelungslücke aufweist.

45.  Ein Hauptargument des EuGH für die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung bei größerer Verspätung ist die Formulierung der Vorerwägungen in Nr. 15. Es heißt dort „Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Fluges zu einer großen Verspätung, oder Verspätung bis zum nächsten Tag, oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

46. Es mutet schon eigenartig an, dass das Bemühen des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich des in dem Erwägungsgrund Nr. 14 versuchsweise näher definierten Begriff der „außergewöhnlichen Umstände“ im Erwägungsgrund Nr. 15 zur Einschränkung von Ansprüchen zu umschreiben, dazu benutzt wird, aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen explizit in der eigentlichen Verordnung nicht zugebilligte Ansprüche durch Richterrecht zu kreieren. Der gesetzgeberische Wille des Verordnungsgebers hat sich im Wortlaut der Verordnung manifestiert und dort wurde die Feinabgrenzung vorgenommen, mögen auch die vorangestellten Erwägungen die Motive für den Erlass der Verordnung umschreiben.

47. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die für den Verspätungsfall in Artikel 6 der Verordnung im Einzelnen aufgeführten Unterstützungsleistungen, insbesondere die Betreuungsleistungen, die in Artikel 9 genannt sind, auch bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, weder beschränkt noch ausgeschlossen werden. Das bedeutet, der Verordnungsgeber hat, entgegen den Vorerwägungen in Nr. 14, etwa im Fall der mehrnächtigen Hotelunterbringung, dem Flugunternehmen das unentgeltliche Anbieten dieser Leistung auferlegt. Insoweit findet in der Verordnung weder eine Beschränkung noch ein Ausschluss statt. Als Beispiel sei hier genannt, die Situation der mehrtägigen Unterbrechung des Flugverkehres durch die Folgen eines größeren Vulkanausbruchs mit den entsprechenden Folgen für die Lahmlegung des Flugverkehrs. Hier ist für Jedermann ersichtlich, dass für diese Störungsart die Flugunternehmung keinerlei Verschulden oder auch nur eine nach Beherrschungsräumen abgegrenzte Verantwortung zukommen kann und dennoch hat der Verordnungsgeber es für richtig befunden, den Fluggästen den Anspruch auf unentgeltliche Betreuungsleistungen zuzubilligen. Nach dem Wortlaut der Verordnung werden in dem beschriebenen Falle die annullierungsbetroffenen Fluggäste mit den verspätungsbetroffenen Fluggästen gleich behandelt.

48. Ein Blick in die Nomenklatur der übrigen Vorerwägungen zur Verordnung ergibt, dass die Folgen der unterschiedlichen Kategorien (Nichtbeförderung, Annullierung und große Verspätung, vgl. Erwägungsgrund Nr. 2) in unterschiedlicher Weise angesprochen sind.

49. So ist etwa im Erwägungsgrund Nr. 9 im Falle der Nichtbeförderung von einer vollwertigen Ausgleichsleistung die Rede. Auch im Erwägungsgrund Nr. 12 ist im Satz 3 von einem Ausgleich die Rede, den die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen zu leisten hätten, wobei hier nur der Fall der Annullierung angesprochen ist, und als Korrelat mit Rücksichtnahme auf die Interessen der Luftfahrtunternehmungen dieser wieder entfallen solle, wenn die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

50.  Sämtliche Vorerwägungen lassen nicht erkennen, dass Ausgleichsleistungen im Falle von Nur-​Verspätungen auch nur andeutungsweise angesprochen werden.

51. Vielmehr ist in Nr. 17 der Vorerwägungen formuliert „Fluggäste, deren Flüge sich um eine bestimmte Zeit verspäten, sollten angemessen betreut werden und es sollte ihnen möglich sein, ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren, oder diese unter zufriedenstellenden Bedingungen fortzusetzen.“

52. Von einer Ausgleichsleistung ist im Verspätungsfalle, jedenfalls bei genauer Lektüre der Vorerwägungen, überhaupt nicht die Rede.

53.  Für die Verspätungsfälle, sieht in Erfüllung der Vorerwägung Nr. 17, Artikel 6, in abgestufter Weise, Unterstützungsleistungen (Betreuungsleistungen) vor, indem auf Artikel 9 Bezug genommen wird. Auch die Stornierungsmöglichkeit des Fluges durch den Fluggast unter Rückerstattung des Flugpreises ist über Artikel 6 Abs. I lit. iii) in Verbindung mit Artikel 8 Abs. I lit. a) der Verordnung angesprochen, während bereits eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühest möglichen Zeitpunkt oder eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze, schon gar nicht mehr vorgesehen ist. Im hier entschiedenen Fall hat die Beklagte jedoch genau das den Klägern angeboten und die Kläger haben davon Gebrauch gemacht.

54.  Für das Gericht steht es nach den vorstehenden Ausführungen außer Frage, dass die Verordnung auch unter Berücksichtigung der Vorerwägungen für den Verspätungsfall eine Ausgleichszahlung im Sinne von Artikel 7 der Verordnung weder ausdrücklich vorsieht, noch in analoger Anwendung dieser Vorschrift bejaht werden kann.

55.  Auch eine darüber hinaus vorgenommene Interessenabwägung führt nicht dazu, gewillkürte Nichtbeförderung oder die Annullierung mit dem Verspätungsfall gleich zu setzen. Im Verspätungsfall hat sich das Luftfahrtunternehmen, jedenfalls im Anwendungsbereich der Verordnung, im Ergebnis erfolgreich bemüht, die Ursachen für die Verspätung in der Weise zu beseitigen, dass der ursprünglich geplante Flug dann doch noch durchgeführt wird, während im Nichtbeförderungsfall eine gewillkürte Verweigerung der Mitnahme des Fluggastes stattgefunden hat und im Fall der Annullierung der gesamte Flug zur Nichtdurchführung kam.

56.   Dieser entscheidende Unterschied, der im Falle der Verspätung mit Sicherheit mit Zusatzkosten auf Seiten des Flugunternehmens verbunden ist, hat für das Amtsgericht Nürtingen nachvollziehbar zur aufgezeigten Differenzierung der Fallgestaltungen, Nichtbeförderung und Verspätung, geführt.

57. Eine Gleichsetzung, in Ansehung der Ausgleichsregelung, von Annullierung und Verspätung, wenn nur die Verspätung lange genug dauert, so wie es der EuGH für Recht befunden hat, ist nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen weder nach den Vorerwägungsgründen, noch nach dem Wortlaut der Verordnung möglich.

58. Diese Ausführungen entsprechen jenen, die das Gericht bereits im Urteil vom 27.09.2010 – 11 C 1219/10 – gemacht hat.

59. Das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 27.09.2010 hat allerdings in der Berufungsinstanz bei dem Landgericht Stuttgart, AZ 13 S 227/10, Urteil vom 20.04.2011 , vgl. Bl. 48 ff. d. GA., keine Resonanz gefunden.

60. Es hat ausgeführt:

61. „Entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts in der angefochtenen Entscheidung ist der von den Klägern jeweils geltend gemachte Anspruch auf der Grundlage der VO EG Nr. 261/2004 in Höhe von zweimal 250,00 Euro auch materiell gegeben.

62. Dabei kann dahinstehen, ob hier – wie die Beklagte behauptet – eine große Verspätung oder – nach der Behauptung der Kläger – eine Annullierung des ursprünglich für den 11.10.2007 vorgesehenen Fluges vorgelegen hat. Denn der EuGH hat mit Urteil vom 19.11.2009 (C-​402/07 und C-​432/07, RRa 2009, 282 ff. – zitiert nach juris) im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 der VO EG Nr. 261/2004 Fluggäste eines verspäteten Fluges mit einem Zeitverlust von drei Stunden oder mehr – bezogen auf die ursprüngliche Ankunftszeit – denjenigen eines annullierten Fluges gleichgestellt. Da dieser Entscheidung des EuGH zwei mit dem vorliegenden Fall vergleichbare Fälle zugrunde lagen, hat dieses Urteil, dem u.a. ein Vorabentscheidungsverfahren des BGH gemäß Artikel 267 AEUV zugrunde lag (X ZR 95/06, NJW 2007, 3437 ff. – zitiert nach juris), nicht nur die Wirkung inter partes, sondern auch die Wirkung erga omnes. Die einheitliche Anwendung des Unionsrechts („effet utile“) erfordert es, dass – in vergleichbaren Fällen – nationale Gerichte das Unionsrecht in der vom EuGH vorgegebenen Auslegung anwenden (vgl. Wienhues in: Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Seite 2390 f.). Die oberste Auslegungskompetenz des EuGH (siehe Thorn in: Palandt, BGB, 70. Aufl. 2011, Vorbemerkung Rom I 1 (IPR) Rdnr. 4) führt danach in Bezug auf die Auslegung von Verordnungen als sekundärem Gemeinschaftsrecht zu einer Bindungswirkung für die nationalen Gerichte im Hinblick auf die grundsätzlich verbindliche Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH (siehe Staudinger/Schürmann, NJW 2010, 2771 ff. – zitiert nach beck-​online; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 06.07.2010, 2 BvR 2661/06, NJW 2010, 3422 ff. – zitiert nach juris).

63.  Abgesehen von dieser Bindungswirkung hinsichtlich der Auslegung der VO EG Nr. 261/2004, der sich auch der BGH für die Frage von Ausgleichsansprüchen bei großer Flugverspätung angeschlossen hat (so BGH, Urteil vom 18.02.2010, Xa ZR 95/06 nach erfolgter Vorlage an den EuGH; siehe auch die weitere Vorlage des BGH an den EuGH betreffend Flugverspätungen unterhalb der Grenzen gem. Art. 6 Abs. 1 der VO EG Nr. 261/2004: Beschluss vom 09.12.2010, Xa ZR 80/10 – zitiert nach juris), hält die Kammer die durch den EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2009 vorgenommene Auslegung der VO EG Nr. 261/2004 im Hinblick auf einen Ausgleichsanspruch auch für Fälle großer Flugverspätungen für überzeugend.

64. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts ist gerade bei stark von der Entstehungsgeschichte her geprägten europäischen Verordnungen nicht nur auf die Auslegung nach Wortlaut und Systematik abzustellen. Vielmehr sind europäische Verordnungen und somit auch die VO EG Nr. 261/2004 zudem historisch und teleologisch auszulegen. Aus den Vorerwägungen zu dieser Verordnung, die die vorherige Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ablösen sollte, wird deutlich, dass Sinn und Zweck der Verordnung ist, alle Fluggäste zu schützen, unabhängig davon, ob diese nicht befördert werden oder deren Flug annulliert oder von einer großen Verspätung betroffen ist (vgl. insbesondere die Erwägungsgründe Nrn. 2, 3). Denn aus der Sicht des schützenswerten Fluggastes macht es keinen Unterschied, ob er mit derselben oder einer anderen Maschine zu einem späteren Zeitpunkt befördert wird. Für ihn ist bei einer erheblichen Verzögerung des geplanten Fluges Art und Grund der Verzögerung irrelevant.

65. Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der für das Gemeinschaftsrecht prägend ist, erscheint es damit auch aus der Sicht der Kammer zutreffend, von großen Flugverspätungen betroffene Fluggäste mit denjenigen eines annullierten Fluges gleichzustellen. Andernfalls würden sich auch in der Praxis schwierige Abgrenzungsfragen zwischen großer Verspätung und Annullierung eines Fluges, die ggf. von der Bezeichnung durch das Luftfahrtunternehmen abhingen, ergeben.

66.  Danach folgt die Kammer der durch den EuGH im Urteil vom 19.11.2009 (C-​402/07 und C-​432/07 – s.o.) vorgenommenen Auslegung der VO EG Nr. 261/04 im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Artikel 5 und 7 dieser Verordnung auch auf Fälle großer Flugverspätungen und schließt sich weiterhin der insoweit ergangenen jüngeren Rechtsprechung des BGH (Xa ZR 95/06, Xa ZR 80/10 – s.o.) an (so auch LG Darmstadt, Urteil vom 16.06.2010, 7 S 200/08, RRa 2010, 275 f. – zitiert nach juris). Die Kläger können mithin von der Beklagten auf der Grundlage der – an keine weiteren Voraussetzungen geknüpften – Art. 5 Abs. 1 c) i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der VO EG Nr. 261/2004 jeweils die Zahlung von 250,00 Euro verlangen.“

67. Trotz Kenntnis dieser Entscheidung bleibt das Amtsgericht Nürtingen, Referat 11 C, bei seiner in der Entscheidung vom 27.09.2010 dargestellten Auffassung.

68. Eine zwingende Bindungswirkung des Urteils des EuGH für ein Instanzgericht, gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel möglich ist, ist nicht ersichtlich. Aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen, Referat 11 C, setzt sich das Landgericht Stuttgart in seiner Entscheidung vom 20.04.2011 mit der tragenden Argumentation des Amtsgerichts Nürtingen, vgl. Randziffern 33 – 47 des Urteils vom 29.09.2010, in der anonymisierten Fassung gem. System Juris, bedauerlicherweise inhaltlich nicht auseinander. Das Landgericht Stuttgart hebt darauf ab, dass europäische Verordnungen und somit auch die Verordnung EG Nr. 261/2004 historisch und teleologisch auszulegen seien. Dabei stellt das Landgericht Stuttgart ausschließlich auf die Sicht des betroffenen Fluggastes ab und meint, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz für das Gemeinschaftsrecht prägend sei und daher sei es auch zutreffend, von großen Flugverspätungen betroffene Fluggäste mit denjenigen eines annullierten Flugzeuges gleichzustellen.

69. Das Landgericht Stuttgart hat bei seiner Argumentation nicht berücksichtigt, dass auch die Vorerwägungen, wenn sie genau gelesen werden, nur den Schluss zulassen, dass Ausgleichsleistungen im Nur-​Verspätungsfalle nicht genannt sind, vgl. hierzu Nr. 17 der Vorerwägungen. Die Vorerwägungen wollen nur in der Nr. 9 (Nichtbeförderung) und in der Nr. 12 (Annullierung) eine Ausgleichsleistung zubilligen. Damit ist aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen genügend dargetan, dass der Wille des Verordnungsgebers ausdrücklich die Ausgleichsleistung nur für die Nichtbeförderung und für die Annullierung eines Fluges vorsieht und eben nicht für die Nur- Verspätung. Man mag dieses Ergebnis bedauern und für einen gesetzgeberischen Missgriff halten. Sich über den erklärten Willen des Verordnungsgebers allerdings hinwegzusetzen, hält das Amtsgericht Nürtingen, Referat 11 C, weiterhin für schlicht unzulässig. Es gibt weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine Analogiebasis für eine Entscheidung, wie sie der EuGH mit seinem Urteil vom 19.11.2009 getroffen hat. Aus der Sicht des Amtsgerichts Nürtingen, Referat 11 C, setzt sich ein Gericht an die Stelle des Gesetzgebers und über diesen hinweg, wenn es einen vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewollten Anspruch kraft Richterrechts erfindet, der auch noch verschuldensunabhängig gewährt wird. Es ist Sache des Gesetzgebers und nicht eines Gerichts, Ansprüche per Norm zur verbindlichen Regel zu machen. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen, dass im Fall der Verspätung der geplante Flug durchgeführt wird und die Fluggesellschaft mit dem Stellen der Mannschaft und dem Verbrauchen von Kraftstoff unter Abnutzung des Flugzeuges ein wirtschaftliches Opfer bringt, was im Falle der Annullierung nicht der Fall ist. Schon allein dieser Umstand verbietet es, unter Gleichheitsgesichtspunkten und Überbetonung des Verbraucherschutzes einen gesetzlich nicht gewährten Ausgleichsanspruch zu erfinden.

70. Nach allem hält das Amtsgericht Nürtingen, Referat 11 C, an der mit dem Urteil vom 27.09.2010 begonnenen Rechtsprechung fest.

71. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Große Kammer) hat in seiner Entscheidung vom 10.01.2006 – C-​344/04, in der er sich ebenfalls mit der Verordnung Nr. 261/2004 beschäftigte, in der im System Juris abgedruckten Fassung unter Nr. 76 formuliert: „Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsaktes können zwar denselben präzisieren, sie erlauben es aber nicht, von den Regelungen des Rechtsaktes abzuweichen“.

72. Dem ist nichts hinzuzufügen!

73. Die seit langem erwartete Entscheidung des EuGH (Große Kammer) vom 23.10.2012 in den verbundenen Rechtssachen C-​581/10 und C-​629/10, in welcher die sog. Sturgeon – Entscheidung des EuGH (4. Kammer) bestätigt wird, vermag nicht zu überzeugen.

74. Unter Randnummer 20 dieses Urteils wiederholt der EuGH Vorlagefragen des Amtsgerichts Köln, insbesondere Nr. 3 „Wie ist der dem Urteil Sturgeon u.a. zugrundeliegende Auslegungsmaßstab, der eine Ausdehnung des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 auf Verspätungsfälle zulässt, mit dem Auslegungsmaßstab, den der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10.01.2006, IATA und ELFAA (C-​344/04 Slg. 2006, I – 403) auf die Verordnung anwendet, vereinbar?“

75. Unter den Randnummern 29 – 39 und 65 beschäftigt sich der EuGH mit der Vorlagefrage. Er bringt jedoch keinerlei Begründung zu dem hier interessierenden Punkt, aufgrund welcher Entscheidungskompetenz der EuGH eine nicht planwidrige Regelungslücke im Gesetz im Wege der Analogie ausfüllen darf.

76. Der EuGH betont den Gleichheitsgrundsatz und den Verbraucherschutz, um das von ihm gefundene Ergebnis zu rechtfertigen. Damit ist jedoch die Frage der Entscheidungskompetenz des EuGH, sich über den erklärten und erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen zu dürfen, nicht beantwortet. Nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen, Referat 11 C, verstößt der EuGH mit seinen Entscheidungen gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Seine Entscheidung ist eine solche „praeter legem“, wenn nicht „contra legem“.

77. Nach Auffassung des Amtsgerichts Nürtingen, Referat 11 C, hat der EuGH mit seiner Entscheidung vom 23.10.2012, entgegen der Auffassung des Landgerichts Stuttgart, 13. Zivilkammer im Urteil vom 07.11.2012, Aktenzeichen 13 S 95/12 das Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Köln nicht beantwortet und insbesondere um die Problematik der Gewaltenteilung und des Nichtvorliegens einer planwidrigen Regelungslücke herumgeschrieben.

78. Das Gericht kann nicht entdecken, dass die Tatsache, dass die Europäische Union kein Staat ist und die Legitimation des EuGH auf vertraglicher Grundlage beruht, die grundsätzlichen Prinzipien der Gewaltenteilung bei der Rechtssetzung und der Rechtsanwendung außer Kraft setzen will. Diese Prinzipien sind die Grundlage eines demokratischen Gebildes mit dem erkennbaren Willen das Gewaltenteilungsprinzip bei dem Zusammenwirken seiner Institutionen zu verwirklichen.

79. Dass die EU sich ein Parlament, zusammen mit dem Rat, als Gesetzgebungsorgan geschaffen hat und der EuGH die höchste Rechtsprechungsinstanz ist, die über die Anwendung des Rechts zu wachen hat und bei Verstößen zu intervenieren hat, ist nichts anderes als das, was im bundesdeutschen Verfassungsgefüge Parlament ( Gesetzgebungsorgan ) und Gerichte darstellen.

80. Sonderrechte des EuGH in Ansehung des Gewaltenteilungsprinzips kann das Amtsgericht Nürtingen weiterhin nicht erkennen.

81. Nachdem der EuGH bei mehreren Gelegenheiten die diesbezüglichen Vorstöße nicht einmal eines Wortes würdigte, muss bedauerlicherweise davon ausgegangen werden, dass der EuGH sich begründungslos eine Rechtssetzungskompetenz anmaßt, die gefälligst die nationalen Gerichte zu befolgen haben.

82. Das Amtsgericht Nürtingen vermag dieser Rechtsprechung und der Unterwerfung der nationalen Rechtsprechung unter die Rechtsprechung des EuGH nicht zu folgen.

83. Auch das jüngste Urteil des BGH vom 07.05.2013, X ZR 127/11, dort Randnummer 18, überzeugt nicht. Er formuliert: „Vielmehr hat sich der Unionsgerichtshof der richterlichen Aufgabe gestellt, diejenige Lücke zu füllen, die der Verordnungsgeber dadurch gelassen hat, dass er einerseits auch für erheblich verspätete Flüge keinen Ausgleichsanspruch vorsieht und andererseits kein objektives , dem Einfluss des betroffenen Luftverkehrsunternehmens entzogenes Kriterium dafür formuliert, wann eine Verspätung unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Verordnung wie oder als eine Annullierung angesehen werden muss.“

84. Damit wird deutlich, dass dem Verordnungsgeber keineswegs eine planwidrige Regelungslücke unterlaufen ist, sondern er bewusst die Nur-​Verspätungsfälle insgesamt eben nicht mit der Rechtsfolge der Ausgleichszahlung versehen hat. Man mag dies als gesetzgeberischen Missgriff bezeichnen, weil man die Sicht der Reisenden bevorzugt im Blick hat, der gesetzgeberische Wille bei der Rechtssetzung ist eindeutig: Keine Ausgleichszahlung im Nur-​Verspätungsfall. Dies zu korrigieren ist Sache des Rechtssetzers, nicht eines Gerichts.

85. Nach alledem war die Klage der drei Kläger, was die Ausgleichsansprüche angeht, als unbegründet abzuweisen.

86. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 Absatz 2 Nr. 1 (umgekehrt analog) 100 Absatz 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils stützt sich auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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