Abgebrochener Startversuch

LG Frankfurt:  Abgebrochener Startversuch

Im vorliegenden Fall buchte der Kläger bei der Beklagten einen Flug, welcher mehr als 21 Stunden Verspätung hatte. Die Beklagte, als ausführendes Luftfahrtunternehmen begründete diese Verspätung mit einem technischen Defekt. Außerdem lege nur ein abgebrochener Startversuch vor, welcher keinen Anspruch auf Ausgleichszahlung begründe.

Das Landgericht Frankfurt hat dem Kläger einen Anspruch auf Ausgleichszahlung zugesprochen, da es darauf ankommt, dass die Fluggäste nicht rechtzeitig an den gewünschten Zielort ankommen, sodass es unerheblich für die Flugverspätung ist, ob die Maschine bereits startete.

LG Frankfurt 2-24 S 130/11 (Aktenzeichen)
LG Frankfurt: LG Frankfurt, Urt. vom 29.11.2011
Rechtsweg: LG Frankfurt, Urt. v. 29.11.2011, Az: 2-24 S 130/11
AG Frankfurt, Urt. v. 20.05.2011, Az: 31 C 232/11 (16)
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Hessen-Gerichtsurteile

Landgericht Frankfurt

1. Urteil vom 29. November 2011

Aktenzeichen 2-24 S 130/11

Leitsätze:

2. Es ist unerheblichfür die Flugverspätung, ob ein Flug bereits gestartet ist und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, da die Fluggäste nicht rechtzeitig an den Zielort befördert werden.

Zusammenfassung:

3. Vorliegend buchte der Kläger bei der Beklagten einen Flug, wodurch die Parteien einen Luftbeförderungsvertrag schlossen. Dieser Flug hatte eine Verspätung von insgesamt 21 Stunden aufgrund eines technischen Defekts. Der Kläger verlangt nun von der Beklagten eine Ausgleichszahlung wegen Flugverspätung nach der Fluggastverordnung.

Das Landgericht Frankfurt sprach dem Kläger einen Anspruch auf Ausgleichzahlung nach der Fluggastverordnung zu. Es kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob eine Flugverspätung oder Flugannullierung vorlag. Wenn der Flug mehr als 3 Stunden Verspätung hatte, steht den Fluggästen ebenso ein Ausgleichsanspruch zu, wie bei einer Flugannullierung. Hier erlitten die Fluggäste einen Zeitverlust von 21 Stunden durch den verspäteten Flug.

Unerheblich für einen einen Ausgleichsanspruch ist es auch, ob der abgebrochene Flug wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Denn in gleicher Weise, wie die Gäste annullierter Flüge nicht an den Zielort befördert werden, werden auch die Gäste verspäteter Flüge im Falle eines erfolglosen Startversuchs nicht rechtzeitig an den Zielort befördert.

Tenor:

4. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 20.5.2011 verkündete Urteil des AGs Frankfurt am Main – Az. 31 C 232/11-16 – teilweise abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4.12.2010 zu tragen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Entscheidungsgründe:

5. Wegen der tatsächlichen Feststellungen des AGs wird auf den Tatbestand des Urteils vom 20.5.2011 Bezug genommen. (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

6. Neue Tatsachen werden in der Berufungsinstanz nicht vorgetragen.

7. Das AG hat die Beklagte zur Zahlung von 1.200,- € nebst Zinsen sowie zur Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verurteilt.

8. Gegen das ihr am 25.5.2011 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit bei Gericht am 22.6.2011 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist mit bei Gericht am 25.8.2011 eingegangenem Schriftsatz begründet.

9. Die Beklagte ist der Ansicht, maßgeblich sei, dass das Flugzeug pünktlich abgeflogen sei. Dass der Start abgebrochen worden sei, sei unerheblich. Zudem seien Art. 5 und 9 der EU-VO Nr. 261/2004 ungültig.

10. Ferner könne die Klägerin nicht Ansprüche ihres Ehemanns geltend machen. Schließlich seien vorgerichtliche Anwaltskosten nicht erstattungsfähig.

11. Die Beklagte beantragt,

12. unter Aufhebung des Urteils des AGs vom 20.5.2011 (Az. 31 C 232/11-16) die Klage abzuweisen.

13. Die Klägerin beantragt,

14. die Berufung zurückzuweisen.

15. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.

16. Sie ist der Ansicht, dass vorgerichtliche Anwaltskosten erstattungsfähig seien, weil sie berechtigt gewesen sei, Hilfe eines Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen.

17. Die zulässige, insbesondere fristgemäß eingelegte und fristgemäß begründete Berufung der Beklagten hat in der Sache nur geringen Erfolg.

18. Das AG hat die Beklagte zu Recht zur Zahlung von 1.200,- € nebst Zinsen an die Klägerin verurteilt.

19. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach der EU-VO 261/2004 zu.

20. Der EuGH hat im Urteil vom 19.11.2009 entschieden, dass die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Flugs einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d.h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (NJW 2010, 43, 46/47 Ziffer 69).

21. Dies folge daraus, dass die von den Fluggästen im Fall einer Annullierung und einer Verspätung erlittenen Schäden einander entsprächen und die Fluggäste verspäteter Flüge und annullierter Flüge deshalb nicht unterschiedlich behandelt werden könnten, ohne dass gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde. Damit hat er entschieden, dass der Ausgleichsanspruch auch Fluggästen verspäteter Flüge zustehen kann. Der EuGH hat weiter ausgeführt, unter diesen Umständen werde den entsprechend Art. 5 I lit. c Nr. iii der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 anderweitig beförderten Fluggästen der in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichsanspruch gewährt, wenn das Luftfahrtunternehmen sie nicht anderweitig mit einem Flug befördert, der nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit startet und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht. Diese Fluggäste erlangen somit einen Ausgleichsanspruch, wenn sie gegenüber der ursprünglich von dem Luftfahrtunternehmen angesetzten Dauer einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden (NJW 2010, 43, 46 Ziffer 69).

22. Nach dieser Rechtsprechung des EuGH, die zu hinterfragen das Gericht keinen Anlass sieht, nachdem auch der BGH dieser Entscheidung des EuGH gefolgt ist (vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2010, RRa 10, 93), steht der Klägerin ein Anspruch auf Ausgleichszahlung zu, weil der gebuchte Flug mit einer Verspätung von über 21 Stunden durchgeführt wurde.

23. Maßgeblich ist dabei auf den Flug abzustellen, der die Klägerin und ihren Ehemann tatsächlich zum Zielort befördert hat. Der Startversuch am 6.9.2010, der abgebrochen werden musste mit der Folge, dass das Flugzeug wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte, spielt für die Frage, ob eine Abflugverspätung vorliegt, keine Rolle.

24. Hierzu hat der EuGH in seinem Urteil vom 13.10.2011 (Az. C-83/10, R. 36, zit. nach juris) entschieden, dass der Begriff der Annullierung dahingehend auszulegen ist, dass er nicht nur den Fall betrifft, dass das betreffende Flugzeug überhaupt nicht startet, sondern auch den Fall umfasst, dass das Flugzeug gestartet ist, aber anschließend, aus welchen Gründen auch immer, zum Ausgangsflughafen zurückkehren musste, und die Fluggäste auf andere Flüge umgebucht wurden.

25. Denn entsprechend der Schlussanträgen der Generalanwältin … vom 28.6.2011 zu diesem Verfahren hat sich durch den Startversuch nichts, was das Wesen einer Flugbeförderung ausmacht, verwirklicht.

26. Die Auslegung des EuGH zum Begriff der Annullierung kann auf die Auslegung des Begriffs der Verspätung übertragen werden, da nach der Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden müssen. Denn in gleicher Weise, wie die Gäste annullierter Flüge nicht an den Zielort befördert werden, werden auch die Gäste verspäteter Flüge im Falle eines erfolglosen Startversuchs nicht rechtzeitig an den Zielort befördert.

27. Soweit die Kammer in ihrer Entscheidung vom 23,9.2010 (Az. 2-24 S 44/10, zit. nach juris) eine Ausgleichszahlung für den Fall abgelehnt hat, dass ein Flug, der pünktlich abgeflogen ist, sich durch eine Zwischenlandung verzögert, wirkt sich diese Entscheidung auf den hier zu entscheidenden Fall nicht aus. In ihrem Urteil vom 23.9.2010 ist die Kammer davon ausgegangen, dass notwendige Voraussetzung einer Ausgleichszahlung eine Abflugverspätung ist (vgl. Kammerurteil vom 23.9.2010, a.a.O., R 20, zit. nach juris). Diese liegt dann nicht vor, wenn ein pünktlicher Abflug vorliegt und der Grund für eine verzögerte Ankunft durch Ereignisse begründet wird, die während des Fluges entstanden sind. In einem solchen Fall werden jedenfalls Teile der geschuldeten Beförderung erbracht. Die Fluggäste befinden sich näher am Zielort als im Zeitpunkt des Starts. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu der Konstellation dieses Falles, in dem kein Teil der Beförderungsleistung erbracht ist, nachdem die Klägerin und ihr Ehemann nach dem Startversuch wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt sind.

28. Auf dieser Grundlage stehen sowohl der Klägerin als auch ihrem Ehemann eine Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils 600,- € zu. Gegen die vom AG zutreffend dargelegt Auffassung, dass der von der Beklagten in erster Instanz vorgetragene technische Defekt des Flugzeuges keinen außergewöhnlichen Umstand i.S.d. Art 5 Abs. 3 EU-VO 261/2004 darstellt, wendet die Beklagte in der Berufungsbegründung nichts ein.

29. Die Klägerin ist auch berechtigt, den Ausgleichsanspruch ihres Ehemanns geltend zu machen, nachdem der Ehemann ihr den Anspruch abgetreten hat. Die Klägerin hat bereits mit der Klageschrift als Anlage K 4 die Abtretungserklärung ihres Ehemanns vorgelegt. Gründe, die gegen eine Abtretung des Anspruches sprechen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hindert der Umstand, dass ein Ausgleichsanspruch nach der EU-VO 261/2004 jedem Fluggast zusteht, nicht, dass der Anspruch abgetreten werden könnte. Der Ausgleichsanspruch ist nicht in einer Weise „höchstpersönlich“, als dass eine Abtretung ausgeschlossen wäre.

30. Gegen den Zinsanspruch, den das AG zutreffend zuerkannt hat, wehrt sich die Beklagte nicht.

31. Die Berufung ist begründet, soweit das AG die Beklagte zur Freistellung von den vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt hat. Ein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten besteht nicht, weil aus dem vorgerichtlichen anwaltlichen Mahnschreiben folgt, dass die Klägerin ihrem Prozessbevollmächtigten bereits Klageauftrag erteilt hatte. In ihrem Mahnschreiben vom 9.12.2010 haben die Prozessbevollmächtigten angekündigt, dass „im Falle des Verstreichenlassens der Frist bzw. einer weiteren Ablehnung sämtlicher Ansprüche der Mandanten wir umgehend und ohne weitere Vorankündigung gerichtliche Schritte gegen Sie einleiten“. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Beklagte in ihrem Schreiben vom 4.12.2010 jegliche Ansprüche des Ehemanns der Klägerin auch im Hinblick auf die Klägerin selbst endgültig abgelehnt haben, deutet die Formulierung in dem nochmaligen anwaltlichem Mahnschreiben darauf hin, dass auch die Prozessbevollmächtigten die Ablehnung als endgültig angesehen und vielmehr die Notwendigkeit einer Klageerhebung gesehen haben. Das letzte vorgerichtliche Mahnschreiben dient jedoch bereits als Vorbereitung der Klage i.S.d. § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RVG und gehört damit zum Klageverfahren, zumal die Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch zeitnahe nach Ablauf der gesetzten Frist Klage erhoben haben.

32. Die gegenteiligen Ausführungen in der Berufungserwiderung überzeugen nicht. Zwar mag ein Gläubiger berechtigt sein, sich auch zur außergerichtlichen Durchsetzung seiner Ansprüche anwaltlicher Hilfe zu bedienen. Hier hatten die Parteien allerdings vorgerichtlich schon zweimal miteinander korrespondiert, denn die Beklagte nimmt in ihrem Ablehnungsschreiben vom 4.12.2010 auf zuvor übersandte Schreiben Bezug. Mit ihrem Schreiben signalisierte die Beklagte keine weitere Gesprächsbereitschaft, weshalb offensichtlich ist, dass eine Klageerhebung unausweichlich ist. Auch die relativ kurze Zahlungsfrist in dem Schreiben vom 9.12.2010 zeigt, dass die Prozessbevollmächtigten nicht ernsthaft mit einer Zahlung der Beklagten gerechnet haben.

33. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte insgesamt zu tragen, weil ihr Rechtsmittel im Wesentlichen erfolglos war und nur wegen der Nebenforderung, die sich wegen § 43 GKG nicht auf den Streitwert auswirkte Erfolg hatte (§§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

34. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

35. Die Revision ist im Hinblick auf die Hauptforderung zuzulassen, weil die Rechtssache, was die Ausgleichsansprüche betrifft, grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 ZPO).

36. Insbesondere ist die Frage, ob die zur Annullierung eines Fluges ergangene Entscheidung auch auf Verspätungsfälle anwendbar ist, noch nicht höchstrichterlich entschieden.

37. Da das Gericht damit nicht letztinstanzlich entscheidet, bedarf es auch keiner Vorlage an den EuGH gemäß Art 267 AEUV.

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