Vor dem Abflug feststehende Verspätung
AG Hamburg: Vor dem Abflug feststehende Verspätung
Der Kläger buchte bei der Beklagten einen Flug von Amsterdam nach Hamburg. Am Flughafen erfuhr er, dass ein Flug nach Hamburg erst am nächsten Tag erfolgen könne. Da es dem Kläger durch die Verspätung nicht mehr möglich gewesen wäre seinen Termin in Hamburg wahrzunehmen, trat er den Flug nicht an und forderte eine Ausgleichzahlung in Höhe von 250 € zuzüglich Zinsen. Das Gericht gab dem Ausgleichsanspruch statt.
AG Hamburg | 12 C 238/15 (Aktenzeichen) |
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AG Hamburg: | AG Hamburg, Urt. vom 26.04.2016 |
Rechtsweg: | AG Hamburg, Urt. v. 26.04.2016, Az: 12 C 238/15 |
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Amtsgericht Hamburg
Aktenzeichen 12 C 238/15
Leitsätze:
2. Im Falle einer vorhersehbaren, erheblichen Verspätung besteht für den Fluggast ein Ausgleichsanspruch auch wenn er sich aufgrund einer solchen Verspätung gegen den Antritt des Fluges entscheidet.
Zusammenfassung:
3. Der Kläger im vorliegenden Fall buchte einen Flug von Amsterdam nach Hamburg. Der Flug sollte planmäßig um 15.25 Uhr starten und um 16:40 Uhr am gleichen Tag in Hamburg ankommen. Jedoch wurde dem Kläger nach zweistündiger Wartezeit am Flughafen mitgeteilt, dass der Abflug erst am nächsten Tag erfolgen könne wodurch der Kläger den Termin, für den er ursprünglich nach Hamburg hatte reisen wollen, nicht mehr würde wahrnehmen können. Der Kläger entschloss sich den verspäteten Flug nicht anzutreten und verlangte eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Verordnung (EG) 261/2004 von der Fluggesellschaft. Das Flugunternehmen verweigerte die Zahlung bis zum vom Kläger gesetzten Fristende, woraufhin der Kläger eine Ausgleichsklage in Höhe von 250 € plus Zinsen einreichte. Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen, da der Kläger den Flug letztenendes nicht angetreten habe.
Das Gericht befand, dass der Antritt des Fluges für das Urteil nicht relevant sei, da die für das Urteil relevante verspätungsbedingte Unannehmlichkeit sowohl durch eine verspätete Ankunft am Zielflughafen hervorgerufen werden können, als auch durch eine vorher bekannte Verspätung. Relevant sei lediglich der Zeitverlust von über drei Stunden. Somit wurde dem Kläger die Ausgleichszahlung in voller Höhe zugesprochen.
Tenor:
4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 250,-- € (in Worten: zweihundertfünfzig Euro) zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 6.10.2015 zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die klagende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
5. Die Klägerin macht aus abgetretenem Recht einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 geltend.
6. Der Zedent, Herr D. buchte bei der Beklagten einen Flug mit der Flugnummer U… von Amsterdam nach Hamburg. Gemäß Buchungsbestätigung sollte der Flug am 4.9.2015 um 15.25 Uhr in Amsterdam starten. Vorgesehene Ankunftszeit in Hamburg war 16.40 Uhr. Der Zedent begab sich rechtzeitig zum Flughafen. Nach etwa zweistündiger Wartezeit erfuhr er von der Beklagten, dass eine Beförderung von Amsterdam nach Hamburg erst am nächsten Tag erfolgen könne. Da er mit diesem Flug seinen Termin in Hamburg am nächsten Morgen nicht mehr erreichen konnte, trat der Zedent den Flug am nächsten Tag nicht an.
seinen Ausgleichsanspruch an die Klägerin abgetreten, die die Beklagte mit Schreiben vom 21.9.2015 erfolglos mit Frist bis zum 5.10.2015 zur Zahlung aufforderte.
8. Die Klägerin beantragt,
dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 250,-- € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5,00%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 06.10.2015 zu bezahlen.
9. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
10. Die Beklagte ist der Ansicht,
dass der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 voraussetzt, dass der Fluggast eines mehr als dreistündig verspäteten Fluges den Flug auch tatsächlich antritt.
Entscheidungsgründe:
11. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
12. Das Amtsgericht Hamburg ist sachlich und örtlich zuständig. Ein Flugreisender kann seinen Ausgleichsanspruch wahlweise am Gerichtsstand des Abflugortes oder des Ankunftsortes einklagen (EuGH vom 9.7.2009; Az. C-204/08). Ankunftsort war Hamburg.
13. Die Klage ist auch begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte aus abgetretenem Recht einen Anspruch auf Zahlung von 250,-- € gemäß Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Die Verordnung ist auf den streitgegenständlichen Flug vom 4.9.2015 von Amsterdam nach Hamburg anwendbar.
Der Zedent verfügte über eine bestätigte Buchung für diesen Flug und hatte sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden, Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Der Flug erreichte den Ankunftsort um mehr als drei Stunden verspätet. Der Flug wurde unstreitig erst am Folgetag durchgeführt, so dass sich ausgehend von der geplanten Ankunftszeit von 16.40 Uhr eine mindestens gut siebenstündige Verspätung ergibt. Nach dem Urteil des EuGH vom 19.11.2009 (Az: C-402/07 und C-432/07) sowie des BGH vom 18.02.2010 (Az: Xa ZR 164/07) ist ein um mindestens drei Stunden verspäteter Flug mit Blick auf Ausgleichsanspruch Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 einem annullierten Flug gleichgestellt.
14. Die Beklagte war auch das ausführende Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 2 Verordnung (EG) Nr. 261/2004.
15. Voraussetzung des Anspruchs gemäß Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 ist es nicht,
dass der Fluggast den (verspäteten) Flug antritt. Der Anspruch dient dem Ausgleich verspätungsbedingter Unannehmlichkeiten.
Die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 definiert nicht die Art der ausgleichspflichtigen Unannehmlichkeiten, insbesondere differenziert sie nicht danach, ob die Unannehmlichkeiten Folge eines angetretenen (verspäteten) Fluges sind oder sich aufgrund einer schon vor dem Abflug eingetretenen Verspätung ergeben, die eine mehr als dreistündige Verspätung am Zielort bedingt. Sinn und Zweck des Ausgleichsanspruchs spricht für die Einbeziehung auch des letzteren Falls in den Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Der irreversible Zeitverlust, der nach dem EuGH das Wesen der Unannehmlichkeiten ausmacht (EuGH v. 26.02.2013, Az: C-11/11, Rn. 32, 39; zitiert nach juris), ist bei einer sich schon vor Abflug ergebenden Verspätung (am Ankunftsort) von mehr als drei Stunden bei den am Flughafen wartenden Fluggästen bereits am Abflugort eingetreten. Angesichts des mit der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 bezweckten hohen Schutzniveaus (Erwägungsgrund Nr. 1) wäre eine Auslegung, die Fluggäste zwingt, einen derart verspäteten Flug anzutreten, um einen Ausgleich für die erlittenen Unannehmlichkeiten zu erhalten, mit dem Regelwerk der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 nicht vereinbar,
zumal eine erhebliche (mindestens dreistündige), schon vor dem Abflug feststehende Verspätung eine Reise widersinnig machen (Wochenendreise) oder den mit ihr verfolgten Zweck gänzlich vereiteln kann (Geschäftstermin).
16. Dem steht nicht die Entscheidung des Landgerichts Darmstadt entgegen (Az: 7 S 120/13; die dort beklagte Fluggesellschaft hat den Anspruch in der Revisionsinstanz anerkannt (BGH Az: X ZR 11/14)), das sich zur Begründung auf das Urteil des EuGH vom 19.11.2009 (Az: C-402/07 und C-432/07) stützt.
17. Die von der Beklagten zitierte Stelle (Rz. 61) aus dem Urteil des EuGH: „Daher ist festzustellen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge den in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Anspruch auf Ausgleich geltend machen können, wenn sie wegen solcher Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen“, besagt nicht, dass der Ausgleichsanspruch eines Fluggastes voraussetzt, dass er den Flug antritt.
18. Der EuGH hat in der zitierten Entscheidung vor allem zwei grundlegende Rechtsfragen entschieden, nämlich dass
„ein verspäteter Flug unabhängig von der – auch erheblichen – Dauer der Verspätung nicht als annulliert angesehen werden kann, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird“ (Leitsatz 1) und dass „die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden …“ (Leitsatz 2).
19. Aus dem Gesamtkontext der Entscheidung ergibt sich, dass der Ankunftsort lediglich als ein – nahe liegender – Bezugspunkt für die Berechnung der Verspätung diente. Die weitergehende Frage, ob der Fluggast seines Ausgleichsanspruchs verlustig wird, wenn er wegen einer schon vor dem Abflug feststehenden, mehr als dreistündigen Verspätung den Flughafen wieder verlässt und den Flug nicht mehr antritt, war nicht Gegenstand der Entscheidung des EuGH und wird in den Entscheidungsgründen auch nicht thematisiert. Aus diesen wird vielmehr ersichtlich, dass auf das Erreichen des Zielortes nur unter dem Blickwinkel der zur Beurteilung anstehenden Frage der Gleichstellung von Passagieren annullierter Flüge und stark verspäteter Flüge für Ansprüche nach Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 abgestellt wird. Der in der Entscheidung wiederholt hervorgehobene Umstand, dass die Ausgleichszahlung eine Kompensation für den verspätungsbedingten Zeitverlust darstellt, spricht gerade dafür, auch denjenigen Zeitverlust in den Anwendungsbereich des Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 einzubeziehen, den ein Fluggast durch Zuwarten am Flughafen des Abflugortes erleidet, unabhängig davon, ob er den Flug antritt.
20. Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn der Fluggast sich nicht auf den Weg zum Flughafen macht, etwa weil er rechtzeitig von der erheblichen Verspätung erfahren hat, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, da der Kläger unstreitig am Flughafen auf die Abfertigung seines Fluges gewartet hat.
21. Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 288, 286 BGB; die Beklagte hat auf die Mahnung der Klägerin nicht geleistet. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
22. Die Berufung war gemäß § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen. Die Sache ist von grundsätzlicher Bedeutung und dient der Fortbildung des Rechts. Die Frage, ob ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Verordnung (EG) 261/2004 voraussetzt, dass der Fluggast auch im Falle erheblicher, schon vor dem Abflug feststehender Verspätungen die Flugreise antritt, ist gerichtsbekannt Gegenstand mehrerer laufender Verfahren vor den Amtsgerichten. Eine klarstellende Entscheidung des Landgerichts Hamburg erscheint auch deshalb angezeigt, weil mit der vorliegenden Entscheidung von dem zitierten Urteil des Landgerichts Darmstadt abgewichen wird. Da die Beklagte durch das Urteil mit weniger als 600,-- € beschwert ist, bedurfte es der Zulassung der Berufung.
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