Flugannullierung wegen eines „wilden Streiks“ in Form von massenhaften Krankmeldungen

Flugannullierung wegen eines „wilden Streiks“ in Form von massenhaften Krankmeldungen

Die Kläger wollten mit dem Flugzeug der Beklagten nach Kreta fliegen. Aufgrund von ungewöhnlich vielen Krankheitsfällen hat die Beklagte den Flug der Kläger ersatzlos gestrichen. Das Gericht befand, dass ungewöhnliche Umstände vorlagen und wies die Klage ab.

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LG Stuttgart 5 S 66/17 (Aktenzeichen)
LG Stuttgart: LG Stuttgart, Urt. vom 13.07.2017
Rechtsweg: LG Stuttgart, Urt. v. 13.07.2017, Az: 5 S 66/17
AG Nürtingen, Urt. v. 02.03.2017, Az: 12 C 2547/16
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Landgericht Stuttgart

1. Urteil vom 13. Juli 2017

Aktenzeichen 5 S 66/17

Leitsätze:

2. Unvorhersehbare massenhafte Krankmeldungen, stellen außergewöhnliche Umstände nach der EG-Verordnung Nr. 261/2004 dar.

Wenn die unvorhersehbaren massenhaften Krankmeldungen bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen nicht vermeidbar waren, besteht nach der EG-Verordnung Nr. 261/2004 kein Anspruch auf Ausgleichszahlung.

Zusammenfassung:

3. Die Kläger wollten mit einem Flugzeug der Beklagten nach Kreta in den Urlaub fliegen. Am Abflugtag waren ungewöhnlich viele Mitglieder der Flugcrew krankgemeldet. Die Beklagte musste daraufhin den Flug nach Kreta ersatzlos streichen.

Das Gericht stellte klar, dass die ungewöhnlich hohe Zahl an Krankmeldungen einen ungewöhnlichen Umstand darstellt. Es sei zwar davon auszugehen, dass es sich dabei um einen „Wilden Streik“ gehandelt hat, jedoch waren die Mitglieder der Flugcrew ordnungsgemäß krankgeschrieben. Die Beklagte hat zwar Flugzeuge gechartert, um den Flugverkehr möglichst aufrecht zu erhalten, jedoch war dies bei der hohen Zahl an Krankmeldungen unmöglich.

Das Gericht entschied daraufhin, dass ungewöhnliche Umstände vorlagen und die Kläger keinen Anspruch auf Ausgleichszahlung aus der EG-Verordnung Nr. 261/2004  gegen die Beklagte haben.

Tenor:

4. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürtingen vom 02.03.2017 (12 C 2547/16) wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Kläger können die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts Nürtingen ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

5. Die Kläger machen gegen die Beklagte Ansprüche auf Zahlung einer Ausgleichsleistung nach der europäischen Fluggastrechteverordnung EG Nr. 261/2004 geltend.

6. Der Kläger sowie seine Ehefrau und seine beiden Söhne hatten einen Flug von Stuttgart nach Heraklion/Kreta mit der Flugnummer X34714 am 06.10.2016, Abflug 6.00 Uhr, gebucht. Dieser Flug wurde von der Beklagten ersatzlos gestrichen.

7. Die Kläger machen gemäß Artikel 7 Absatz 1 b) Fluggastrechteverordnung pro Person 400,00 Euro auf Grund der Annullierung des Fluges geltend, wobei die Ehefrau des Klägers ihren Anspruch an den Kläger Ziffer 1 abgetreten hat.

8. Zudem werden vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,3-Geschäftsgebühr nebst 0,9 Erhöhungsgebühr samt Auslagenpauschale sowie Umsatzsteuer geltend gemacht.

9. Die Kläger sind der Meinung, dass kein wilder Streik seitens der Belegschaft der Beklagten und damit keine außergewöhnlichen Umstände vorlagen, auf Grund derer die Beklagte nicht in der Lage gewesen wäre, den Flug durchzuführen.

10. Die Kläger beantragen daher,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Ziffer 1 800,00 Euro und an die Kläger Ziffer 2 und 3 jeweils 400,00 Euro, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.11.2016 zu zahlen sowie an den Kläger zu Händen der … Rechtsschutzversicherungs-AG außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 416,50 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

11. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, da die massenhaften Krankmeldungen, die als wilder Streik anzusehen seien, außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechteverordnung darstellten, die von der Beklagten auch nicht mit Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen aufgefangen werden konnten.

12. Mit der Berufung erstreben die Kläger die Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und verfolgen ihre Ansprüche weiter.

13. Es gäbe keinen Nachweis für einen wilden Streik bzw. massenhaft fehlerhafte Arztbescheinigungen. Selbst bei Vorliegen eines wilden Streikes sei dieser von der Beklagten provoziert worden.

14. Die Kläger beantragen:

15. Unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Ziffer 1 800,00 Euro und an die Kläger Ziffer 2 und 3 jeweils 400,00 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.11.2016 zu zahlen.

16. Unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils, an den Kläger Ziffer 1 zu Händen der … Rechtsschutzversicherungs-AG außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 416,50 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

17. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

18. Es handele sich bei dem wilden Streik um außergewöhnliche Umstände, die durch keine präventiven Maßnahmen hätten aufgefangen werden können.

19. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss der ersten Instanz und der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Im Übrigen wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

20. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und mit einer Begründung versehene Berufung der Kläger hat in der Sache keinen Erfolg.

21. Den Klägern steht gegen die Beklagte kein Ausgleichsanspruch gemäß Artikel 5 Absatz 1 c), Artikel 7 aus der EG-Verordnung Nr. 261/2004 zu.

22. Die Beklagte ist von ihrer Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlung gemäß Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechteverordnung befreit, da die Annullierung des Fluges auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist, die auch nicht bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen vermeidbar waren.

23. Wie der BGH in seiner Entscheidung vom 21.08.2012 (X ZR 138/11) ausgeführt hat, kennzeichnet den Begriff des außergewöhnlichen Umstands, dass es sich um einen Umstand handeln muss, der nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entspricht, sondern außerhalb dessen liegt, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es geht um die Erfassung von Ereignissen, die nicht mit dem Luftverkehr verbunden sind, sondern als – in der Regel von außen kommende – besondere Umstände seine ordnungsgemäße und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können, wobei es darum geht, ob das Hindernis aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Flugverkehrs herausragt. Dabei spielt es keine Rolle, in wessen Verantwortungsbereich die Ursache zuzuordnen ist, vielmehr ist relevant, dass die Umstände sich von denjenigen Ereignissen unterscheiden, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Fluges gerechnet werden muss.

24. Legt man diese Maßstäbe zugrunde, liegen bei den der Annullierung des streitgegenständlichen Fluges zugrunde liegenden Krankmeldungen außergewöhnliche Umstände vor. Es war für die Beklagte keineswegs erwartbar, dass sich das fliegende Personal in einem Ausmaß krank meldet, das den üblichen Krankenstand um ein Vielfaches übersteigt.

25. Nachdem am Freitag, dem 30.09.2016, sämtliche Mitarbeiter der … GmbH vom Aufsichtsratsvorsitzenden in einem Management-Letter darüber informiert wurden, dass mit … Gespräche über einen Unternehmensverbund geführt werden, wurde seitens der Arbeitnehmervertreter sofort ein Krisenstab gegründet, der am gleichen Tag ein Informationsschreiben an alle Mitarbeiter sandte.

26. In der darauffolgenden Zeit stieg der Krankenstand im Cockpit und beim Kabinenpersonal stetig an. Während die Beklagte auf einen Krankenstand von bis zu 10 % der Crew eingerichtet ist, stiegen die Krankmeldungen beim Cockpitpersonal am 3.10.2016 um rund 300%, am 6.10.2016 um rund 750 %. Der Beklagten standen mit schlagartiger Steigerung somit im Zeitraum vom 3.10.2016 bis zum 10.10.2016 – mit Höchststand am 6.10.2016 – bis zu 89 % des diensthabenden Cockpitpersonals und bis zu 62 % des diensthabenden Kabinenpersonals nicht mehr zur Verfügung.

27. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es sich um einen „wilden Streik“ handelt oder um den Ausbruch einer Epidemie.

28. Die Kammer geht zwar von einer abgesprochenen Aktion und damit von einem wilden Streik aus (ansonsten wäre nicht zu erklären, wieso die Epidemie nur das Flugpersonal ereilte und wieso nach Mitteilung am 7./8.10.2016 an die Mitarbeiter, eine Einigung mit der Arbeitnehmervertretung sei erfolgt, der Krankenstand schlagartig zurückging). Aber auch unterstellt, die Mitarbeiter wären tatsächlich alle erkrankt, wäre auch in diesem Umfang von außergewöhnlichen Umstände auszugehen.

29. Der Berufungseinwand, die Beklagte sei verantwortlich für die massenhaften Krankmeldungen und habe sie provoziert, geht fehl. Abgesehen davon, dass der Beklagten unternehmerische Entscheidungen nicht abzusprechen sind, hat der BGH in der oben zitierten Entscheidung bereits klargestellt, dass es gerade nicht darum geht, wessen Verantwortungsbereich die Ursache zuzuordnen ist.

30. Die Beklagte hat auch alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die Annullierung zu vermeiden, indem sie versuchte, alle auf dem Markt zur Verfügung stehenden Maschinen samt Personal zu chartern. Dies ergibt sich aus den vorgelegten Anfragen vom 2. und 3. Oktober 2016 sowie aus den Angaben der Zeugin Christiane Weber im Protokoll vom 10.02.2017. Am 06.10.2016 charterte die Beklagte 21 fremde Flugzeuge, der neuralgischste Tag laut der Angaben der Zeugin im Protokoll, deren Verwertung die Parteien zugestimmt haben.

31. Der Berufungseinwand der Kläger, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sei verletzt worden, greift auf Grund der eigenen Einwilligung zur Verwertung des Protokolls nicht. Die Kläger hatten in erster Instanz von ihrem Recht, die erneute Vernehmung der Zeugin zu beantragen, nicht Gebrauch gemacht.

32. Es ist nicht ersichtlich, dass die Situation Anfang Oktober 2016 für die Beklagten in irgendeiner Form beherrschbar gewesen wäre. Der Bundesgerichtshof hat in der oben zitierten Entscheidung ausdrücklich angeführt, dass dem Luftfahrtunternehmen bei der Frage der Reorganisation des Betriebsablaufes ein Spielraum zuzubilligen ist, welche Maßnahmen als zweckmäßig erachtet werden. Diesen Spielraum hat die Beklagte mit nachvollziehbaren Prioritäten genutzt.

33. Die klageweise geltend gemachten außergerichtlichen Kosten sind entsprechend der Hauptforderung zurückweisen.

III.

34. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Absatz 1 ZPO.

35. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

36. Die Revision war gemäß § 543 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitliche Rechtsprechung zuzulassen.

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