Vorabentscheidungsersuchen zur Anrechenbarkeit eines Schadensersatzanspruchs auf die vom Luftfahrtunternehmen erbrachte Ausgleichsleistung

AG Hamburg: Vorabentscheidungsersuchen zur Anrechenbarkeit eines Schadensersatzanspruchs auf die vom Luftfahrtunternehmen erbrachte Ausgleichsleistung

Das Amtsgericht Hamburg legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Beantwortung vor, ob eine Fluggesellschaft weitergehende Schadensersatzansprüche auf Ausgleichsansprüche für große Verspätung anrechnen kann oder ob ein Gericht nach nationalem Recht eine Ermessensentscheidung zu treffen hat.

AG Hamburg 31b C 187/16 (Aktenzeichen)
AG Hamburg: AG Hamburg, Urt. vom 02.03.2017
Rechtsweg: AG Hamburg, Urt. v. 02.03.2017, Az: 31b C 187/16
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Amtsgericht Hamburg

1. Urteil vom 2. März2017

Aktenzeichen 31b C 187/16

Leitsatz:

2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird die für den Ausgang eines ausgesetzten Verfahrens maßgebliche Frage zur Beantwortung vorgelegt, ob und inwieweit eine Fluggesellschaft Schadensersatzansprüche für Folgeschäden einer großen Verspätung auf die Ausgleichszahlung für ebendiese anrechnen kann oder ob nationales Recht Anwendung finden muss.

Zusammenfassung:

3. Flugreisende verpassten aufgrund der Verspätung ihres Zubringers nach Zürich den Anschlussflug nach Havanna und nahmen das Angebot der Fluggesellschaft an, mit dem Flug einer anderen Airline ersatzbefördert zu werden. Für die 24-stündige Verspätung am Reiseziel forderten sie eine Ausgleichszahlung gemäß der europäischen Fluggastrechteverordnung, sowie Schadensersatz für in der Folge entstandene Mietwagenkosten und die nutzlos gewordene erste Hotelübernachtung in Kuba.

Die Fluggesellschaft leistete die Ausgleichszahlung und wollte den übrigen Schadensersatz darauf anrechnen. Hiergegen richtete sich die Klage der Reisenden. Das Amtsgericht Hamburg setzte die Klage aus, da die Entscheidung davon abhing, ob und inwieweit die Beklagte Schadensersatz- und Ausgleichsanspruch verrechnen durfte oder ob das Gericht nach nationalem Recht eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte.

Maßgeblich war vorliegend, dass die Beklagte durch das Angebot einer anderweitigen Beförderung ihre Pflichten gegenüber den Reisenden nicht verletzt hatte. Überdies war entscheidend, welcher Schaden durch die Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung entschädigt werden sollte; der immaterielle durch Unannehmlichkeiten und Zeitverlust oder auch materieller?

Tenor:

4. Das Verfahren wird ausgesetzt.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 7 und Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11. Februar 2004 (ABl. EG L 46 vom 17. Februar 2004 S. 1 ff.) die folgenden Fragen vorgelegt:

Kann ein Luftfahrtunternehmen die Anrechnung stets vornehmen oder ist sie davon abhängig, inwiefern das nationale Recht sie zulässt oder das Gericht sie für angemessen erachtet?

Soweit nationales Recht maßgeblich ist oder das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen hat: Sollen durch die Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung nur die Unannehmlichkeiten und der von den Fluggästen infolge der Annullierung erlittene Zeitverlust oder auch materielle Schäden ausgeglichen werden?

Gründe:

5. Der Kläger und seine Ehefrau buchten bei der Beklagten für den 18.10.2015 den Flug LX1057 von Hamburg nach Zürich und den Anschlussflug LX8032 von Zürich nach Havanna. Beim Abflug in Hamburg kam es zu einer Verzögerung, so dass der Kläger und seine Ehefrau Zürich mit einer Verspätung erreichten, wo ihnen die Weiterbeförderung nach Havanna von der Beklagten verweigert wurde. Stattdessen erhielten der Kläger und seine Ehefrau von der Beklagten Tickets für einen Weiterflug mit einer anderen Fluggesellschaft für den Folgetag, was der Kläger und seine Ehefrau auch wahrnahmen, und sie erreichten Havanna mit einer Verspätung von 24 Stunden.

6. Der Kläger hat aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Ehefrau die Mehrkosten für einen Mietwagen von 768,82 € und die Kosten für das nicht genutzte Hotelzimmer in Havanna von 101,70 € sowie eine Ausgleichszahlung von insgesamt 1.200,00 € nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (nachfolgend: „Verordnung„) geltend gemacht. Die Beklagte zahlte an den Kläger die Ausgleichsleistung, so dass die Parteien insoweit den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Wegen der verbleibenden Klagesumme, die niedriger als die erbrachte Ausgleichszahlung ist, hat sich die Beklagte auf Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung berufen.

7. Die Entscheidung hängt davon ab, ob und gegebenenfalls inwieweit oder unter welchen Voraussetzungen ein nach nationalem Recht vorgesehener Anspruch, der auf die Erstattung von Mehrkosten für einen Mietwagen und von Kosten für ein ungenutztes Hotelzimmer gerichtet ist, die wegen mehr als dreistündiger Verspätung eines gebuchten Auges angefallen sind, nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung auf einen Ausgleichsanspruch aus Art. 7 der Verordnung anzurechnen ist.

8. Der Kläger kann von der Beklagten analog Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung eine Ausgleichszahlung verlangen, da der gebuchte Flug über drei Stunden verspätete sein Endziel erreichte. Außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung sind nicht geltend gemacht.

9. Ebenso kann der Kläger von der Beklagten Ersatz der Kosten verlangen, die wegen der Verspätung des gebuchten Fluges und der deshalb angefallenen Mehrkosten für einen Mietwagen und von Kosten für ein ungenutztes Hotelzimmer entstanden sind: Der Anspruch auf Kostenerstattung ergibt sich als Anspruch auf Ersatz des weitergehenden Schadens im Sinne des Art 12 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung auf der Grundlage des nationalen Rechts. Im Streitfall unterliegt der Luftbeförderungsvertrag zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau einerseits und der Beklagten andererseits gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom-​I-Verordnung“) deutschem Sachrecht. Nach diesem steht dem Kläger aus eigenem und abgetretenem Recht gemäß § 280 Abs. 1, § 249 Abs. 1, § 398 BGB ein Anspruch auf Ersatz von Mehrkosten zu, wenn diese auf einer schuldhaften Verletzung der Pflichten der Beklagten beruhen. Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger und seiner Ehefrau ihre vertragliche Pflicht zur Beförderung dadurch verletzt, dass der Flug mehr als drei Stunden zu spät das Endziel erreichte, sie macht selbst nicht geltend, dass sie dies nicht zu vertreten gehabt hätte (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB). Hierdurch sind die Mehrkosten für einen Mietwagen von 768,82 € und die Kosten für das nicht genutzte Hotelzimmer in Havanna von 101,70 € verursacht worden.

10. Eine Anrechnung des Schadensersatzanspruchs auf den Ausgleichsanspruch ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte ihre Pflichten nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 der Verordnung zum Angebot von Unterstützungsleistungen verletzt hätte: Denn die Beklagte hat diese Pflichten nicht verletzt, sondern dem Kläger und seiner Ehefrau eine Ersatzbeförderung beschafft.

11. Die Beklagte ist damit nur dann nicht verpflichtet, weiteren Schadensersatz in Höhe der noch offenen Klagesumme an die Klägerin zu zahlen, wenn die erbrachte Ausgleichsleistung auf den Schadensersatzanspruch angerechnet werden kann. Dies kann das erkennende Gericht nicht entscheiden, ohne zuvor dem Gerichtshof der Europäischen Union die in der Beschlussformel genannte Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

12. Damit kommt es für die Entscheidung darauf an, ob und gegebenenfalls inwieweit und unter welchen Voraussetzungen eine Anrechnung der Kosten einer geänderten Reiseplanung auch dann ausscheidet, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Pflichten nach Art. 8 und 9 der Verordnung nicht verletzt hat. Diese Fragen stellten sich im Fall des BGH (Urteil vom 30. September 2014 – X ZR 126/13 -‚ Rn. 18, juris) nicht, weil die von der dortigen Klägerin geltend gemachte Minderung allein auf eine starke Verspätung des Rückfluges gestützt wurde und damit keine zusätzlichen Reisekosten betraf.

13. Es kommt darauf an, ob das Luftfahrtunternehmen die Anrechnung ohne weiteres vornehmen kann oder ob sie von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, insbesondere davon, ob und gegebenenfalls inwiefern das nationale Recht sie zulässt. Denn Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung könnte dahin zu verstehen sein, dass das Luftfahrtunternehmen das Recht hat, die Anrechnung vorzunehmen, und das Gericht hieran gebunden ist oder so zu verstehen sein, dass das nationale Recht bestimmen kann, ob und gegebenenfalls inwieweit diese auf den Ausgleichsanspruch anzurechnen sind oder so zu verstehen sein, dass die Gerichte über die gegenseitige Anrechenbarkeit im Einzelfall unter Berücksichtigung sich aus der Verordnung selbst ergebender Wertungen zu entscheiden haben. (siehe die Argumente des BGH, EuGH-​Vorlage vom 30. Juli 2013 – X ZR 113/12 -, Rn. 24 ff., juris bei einer annullierungsbedingt geänderten Reiseplanung zu dieser Frage).

14. Außerdem kommt es hier darauf an, welche Beeinträchtigungen durch die Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung kompensiert werden sollen. Wenn der Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 der Verordnung nur dem Ausgleich immaterieller Schäden der Fluggäste diente, wäre eine Anrechnung des dem Kläger zustehenden Schadensersatzes auf Mehrkosten für einen Mietwagen und Kosten für ein ungenutztes Hotelzimmer ausgeschlossen, weil dieser Schadensersatz dem Ersatz der durch die Verspätung verursachten Vermögensschäden dient und gemäß deutschem Recht eine Anrechnung mangels Zuordenbarkeit der Schadensposten ausscheidet, wenn dies dem Zweck des jeweiligen Schadensausgleichs nicht entspricht. Welche Schäden die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung kompensieren soll, ist nicht hinreichend geklärt. (siehe die Argumente des BGH, EuGH-​Vorlage vom 30. Juli 2013 – X ZR 113/12 -‚ Rn. 31 ff., juris bei einer annullierungsbedingt geänderten Reiseplanung auch zu dieser Frage).

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