Gleichsetzung von Flugannullierung und großer Verspätung
LG Köln: Gleichsetzung von Flugannullierung und großer Verspätung
Eine Fluggesellschaft wurde wegen einer großen Verspätung zur Ausgleichszahlung verurteilt. Ihre Berufung dagegen wurde abgewiesen, weil entgegen ihrer Auffassung die Gleichstellung eines solchen Falles durch den Europäischen Gerichtshof keinen Verstoß gegen die Gewaltenteilung darstellte.
LG Köln | 11 S 374/13 (Aktenzeichen) |
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LG Köln: | LG Köln, Urt. vom 23.05.2014 |
Rechtsweg: | LG Köln, Urt. v. 23.05.2014, Az: 11 S 374/13 |
AG Köln, Az: 131 C 261/12 | |
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Leitsätze:
2. Zur Eröffnung des Anwendungsbereiches der europäischen Fluggastrechteverordnung ist bei Fällen der Verspätung oder Annullierung kein Nachweis pünktlichen Erscheinens der geschädigten Fluggäste zur Abfertigung notwendig.
Die Gleichstellung von Fluggästen, die eine Verspätung von drei Stunden oder mehr und solchen, die Annullierung hinnehmen mussten, stellt keinen Verstoß gegen die Gewaltenteilung, sondern eine zulässige Rechtsfortbildung dar.
Zusammenfassung:
3. Flugreisende verklagten eine Fluggesellschaft wegen der erheblichen Verspätung ihres Fluges. In erster Instanz stellte das Amtsgericht Köln sie dafür entsprechend der gängigen und höchstrichterlichen Rechtsprechung Fluggästen gleich, deren Flug annulliert wurde und gestand ihnen eine Ausgleichszahlung zu.
Hiergegen wandte sich die beklagte Fluggesellschaft mit ihrer Berufung vor dem Landgericht Köln. Sie führte an, dass es an einem Nachweis fehle, dass sich die Kläger pünktlich 45 Minuten vor Abflug zur Abfertigung eingefunden hatten. Ferner argumentierte sie, dass der Europäische Gerichtshof gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen habe, als er durch die Gleichsetzung von Annullierung und großer Verspätung das Recht fortgebildet hatte.
Die Berufung wurde abgewiesen. Der von der Beklagten geforderte Pünktlichkeitsnachweis war nur in Fällen der Nichtbeförderung notwendig, um die Fluggastrechteverordnung anzuwenden. Außerdem war die Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof zulässig, denn Richter dürfen das Gesetz im Rahmen des Gesetzeszwecks und der Wertentscheidung des Grundgesetzes auch ohne konkreten Nachweis einer Lücke ausdifferenzieren und ergänzen, wenn die Rechtsordnung Wertentscheidungen, für eine Rechtsfortbildung in einem bestimmten Sinne enthält – wie im Falle der Fluggastrechteverordnung die Erwägungsgründe und Präambeln.
Tenor:
4. Die Kammer weist darauf hin, dass sie beabsichtigt, die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.
Der Berufungsklägerin wird Gelegenheit gegeben, innerhalb von drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses zu dem Hinweis Stellung zu nehmen bzw. die Berufung zurückzunehmen, was zu einer Halbierung der Gerichtskosten führt.
Gründe:
5. Die Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Die Entscheidung des Amtsgerichts beruht nicht auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) und die gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen keine andere Entscheidung (§ 513 ZPO).
6. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf die Gründe der amtsgerichtlichen Entscheidung Bezug genommen. Im Hinblick auf die Berufungsbegründung ist Folgendes auszuführen:
7. Soweit die Beklagte die Anwendbarkeit der FluggastrechteVO mit der Begründung infrage gestellt hat, die Kläger hätten die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 lit. a) der FluggastrechteVO nicht dargetan, wonach die VO nur gilt unter der Bedingung, dass – falls keine andere Zeit angegeben wurde – die Fluggäste sich spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden, und tatsächlich sei es vorliegend so gewesen, dass der Kläger verspätet, nämlich erst um 21.11 Uhr zur Abfertigung erschienen sei, bedurfte und bedarf dies keiner weiteren Darlegungen des Klägers bzw. der Durchführung einer Beweisaufnahme.
8. Denn nach Sinn und Zweck der Regelung des Art. 3 Abs. 2 lit. a) der FluggastrechteVO gilt diese nur für den Fall der Geltendmachung von Ansprüchen wegen Nichtbeförderung. Nach dem Wortlaut der Norm ist ausgenommen die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Flugannullierung, naheliegend, weil es im Regelfall eines – insbesondere rechtzeitigen – Erscheinens zur Abfertigung dann vernünftigerweise ohnehin nicht bedarf bzw. einem verspäteten Erscheinen keine Relevanz zukommt, weil der Flug nicht stattgefunden hat. Ohne Auswirkung bleibt ein verspätetes Erscheinen zum Check-in aber auch, bei der Beförderung des Fluggastes auf dem gebuchten und mit einer „großen Verspätung“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH am Reiseziel angelangten Fluges. Wird ein Fluggast ungeachtet eines verspäteten Erscheinens am Check-in nämlich noch abgefertigt, ist seine Verspätung ersichtlich – wie im Fall einer Flugannullierung – ohne Bedeutung geblieben, sodass ihm nach dem ihm gewährten Einchecken für den am Endziel um drei Stunden oder mehr verspäteten Flug gemäß der Rechtsprechung des EuGH, wonach die „große Verspätung“ der Annullierung gleichzusetzen ist, auch eine Ausgleichszahlung nach der FluggastrechteVO zusteht.
9. Durch Urteil vom 23.10.2012 – C-581/10 und C-629/10 – hat der EuGH – große Kammer – seine dahingehende bisherige Rechtsprechung (Urteil vom 19.11.2009 – C-402/07 – kleine Kammer -) vollumfänglich nochmals bestätigt und erschöpfend ausgeführt, dass Art. 5 bis 7 der FluggastrechteVO dahin auszulegen seien, dass den Fluggästen verspäteter Flüge ein Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung zusteht, wenn sie aufgrund dieser Flüge einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d.h. wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der vom Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Die Kammer folgt dieser Rechtsprechung und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen in vollem Umfang auf die überzeugenden Gründe der Entscheidung.
10. Mit dieser erneuten Entscheidung des EuGH über die Gleichsetzung von Annullierung und großer Verspätung ist nach Auffassung der Kammer davon auszugehen, dass sich die Instanzgerichte dieser Rechtsprechung anschließen werden, eine Rechtsunsicherheit ist mithin nicht zu befürchten. Insoweit erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auch nicht eine Entscheidung des Berufungsgerichts aufgrund mündlicher Verhandlung. Denn die erneute Entscheidung des EuGH vom 23.10.2012 – C 581/ 10 und C 629/10 – zur Gleichstellung der großen Verspätung mit der Annullierung ist erschöpfend und eindeutig. Insoweit besteht auch kein Anlass, dem EuGH die von der Beklagten vorgeschlagenen Fragen zur Vorentscheidung vorzulegen.
11. Die Voraussetzungen für eine konkrete Normenkontrolle i. S. v. Art. 100 GG liegen ebenfalls nicht vor. Denn die Kammer zweifelt weder an der Verfassungsmäßigkeit noch an der Anwendbarkeit der FluggastrechteVO.
12. Mit seiner Rechtsprechung verstößt der EuGH nach Auffassung der Kammer auch nicht gegen das Prinzip der Gewaltenteilung (so auch LG Köln, Urteil vom 29.1.2011 – 11 S 17/11). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Kompetenz der Gerichte zur allgemeinen Rechtsfortbildung nicht nur auf den Fall der Lückenausfüllung wegen planwidriger Unvollständigkeit beschränkt. Vielmehr darf der Richter das Gesetz im Rahmen des Gesetzeszwecks und der Wertentscheidung des Grundgesetzes auch ohne konkreten Nachweis einer Lücke ausdifferenzieren und ergänzen, wenn die Rechtsordnung Wertentscheidungen, sei es auch nur in unvollkommener Form, für eine Rechtsfortbildung in einem bestimmten Sinne enthält (BGHZ 108, 305, 309). Dies ist hier der Fall. Die Verfassungsregelung des Art. 3 GG weist hier den Weg zu der Lösung, die von einer großen Verspätung betroffenen Flugreisenden den von einer Annullierung oder Nichtbeförderung betroffenen gleichzusetzen. Im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz ist es geboten, vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich zu behandeln, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist. Tatsächlich ist die Situation von Fluggästen stark verspäteter Flüge mit der von annullierten Flügen absolut vergleichbar. Ob bei einer verspäteten Beförderung der gebuchte Flug annulliert worden ist oder nicht, macht für den Fluggast keinen Unterschied. Die sich für ihn aus der konkreten verspäteten Beförderung ergebende Situation ist dieselbe, unabhängig davon ob diese Beförderung nun die verspätete Durchführung des gebuchten Fluges darstellt oder eine verspätete Ersatzbeförderung nach Annullierung des gebuchten Fluges. Es gibt insoweit keine objektive Erwägung, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigt.
13. Hinzu kommt, dass die Rechtsfortbildung im Sinne des EuGH und des BGH gerade auch zur Rechtssicherheit beiträgt, da die Abwicklung von Ausgleichsansprüchen bei einer Verspätung von mehr als 3 Stunden unabhängig davon stattfinden kann, ob eine Verspätung vorlag oder eine Annullierung im Sinne der FluggastrechteVO. Von einem Verstoß gegen das Übermaßverbot kann keine Rede sein, vielmehr führt die Rechtsprechung zur Beseitigung einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung.
14. Insofern wird auch der in Art. 13 Abs. 2 AEUV verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung in der Union durch die Auslegung, nach der Fluggäste verspäteter Flüge, die ihr Endziel drei Stunden oder mehr nach der ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen, nicht berührt (EuGH 9. Kammer, Beschluss vom 18.4.2013 – C-413/11 – zit. n. Juris). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Begründung der Vorabentscheidung verwiesen. Auch insoweit erübrigt sich eine erneute Vorlage an den EuGH.
15. In der Gleichsetzung von Verspätung und Annullierung kann auch insoweit keine Ungleichbehandlung der Luftfahrtunternehmen gesehen werden, als die Luftfahrtunternehmen bei einer zu Ausgleichszahlung verpflichtenden Annullierung Kosten einsparen, während die wegen Verspätung zu Ausgleichzahlungen verpflichteten Fluggesellschaften keine Kosten einsparen. Denn es werden alle Luftfahrtunternehmen bei gleichem Sachverhalt gleich behandelt. Eine darüber hinausgehende Differenzierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht geboten.
16. Die Auffassung des EuGH zur Gleichsetzung der großen Verspätung mit der Annullierung kann entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht mit dem Argument infrage gestellt werden, es liege eine Ungleichbehandlung der Fluggäste durch die – flugdistanzabhängig – unterschiedlich hohen Ausgleichsansprüche trotz identischen Zeitverlustes vor. Die FluggastrechteVO differenziert auch für die Höhe des Ausgleichsanspruchs wegen Annullierung nur nach der Flugentfernung, wenngleich sich auch bei einer Annullierung die Belastungen für den Fluggast höchst unterschiedlich gestalten können je nach Erreichbarkeit einer Ersatzbeförderung, die alsbald nach einer Annullierung oder erst nach geraumer Zeit erfolgen kann. Auch in diesem Fall können die betroffenen Fluggäste unterschiedlich hohe Unannehmlichkeiten erleiden wie bei einer durch erhebliche Verspätung bewirkten Beeinträchtigung. Im Übrigen bleibt festzuhalten, dass die Differenzierung nach Flugdistanzen sachgerecht erscheint, da sich die Unannehmlichkeiten einer Verspätung typischerweise verstärken, je länger der Flug dauert. Die Kammer geht im Übrigen davon aus, dass auch der EuGH die von der Beklagten aufgeworfene Fragestellung gesehen hat. Dennoch hat er an seiner Rechtsprechung zur Gleichsetzung von Annullierung und Verspätung festgehalten.
17. Entgegen der Auffassung der Beklagten erweisen sich die Verpflichtungen aus der FluggastrechteVO auch als vereinbar mit Art. 29 des Montrealer Übereinkommens (im Folgenden; MÜ) (EuGH Urteil vom 23.10.2012 – C-581/10 und C-629/10 – zit. n. Juris). Denn bei dem durch Verspätung erlittenen Zeitverlust handelt es sich nicht um einen Schaden im Sinne des MÜ, sondern um eine Unannehmlichkeit (EuGH a.a.O.), die vom Geltungsbereich des Art. 29 MÜ nicht erfasst wird. Art. 29 Satz 1 MÜ betrifft aber nur Ansprüche für solche Schäden, deren Ersatz in den Art. 17 ff. MÜ geregelt ist. Der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung ist aber generell – und damit auch in dem Anwendungsfall einer Verspätung nach Art. 6 der FluggastrechteVO – nicht als Schadensersatzanspruch im Sinne der Art. 19, 29 MÜ anzusehen. Ungeachtet der umstrittenen Rechtsnatur des verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 FluggastrechteVO ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung hinreichend deutlich, dass die FluggastrechteVO die Schutzvorschriften des MÜ zwar ergänzt, jedoch beide Regelungswerke kein einheitliches Luftverkehrsrecht bilden, sondern mit unterschiedlich geregelten Ansprüchen nebeneinander stehen (BGH, Urteil vom 10.12.2009 – Xa ZR 61/09 – zit. n. Juris).
18. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss liegen vor. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2, 3 ZPO). Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist nicht geboten (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO).
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