Ein Flug und mehrere außergewöhnliche Umstände

AG Rüsselsheim: Ein Flug und mehrere außergewöhnliche Umstände

Ein Fluggast verlangt von seiner Airline wegen einer mehr als 30-stündigen Flugverspätung eine entsprechende Ausgleichszahlung. Diese verweigert die Zahlung und begründet die Verspätung mit zwei außergewöhnlichen Umständen sowie einem technischen Defekt.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat dem Kläger Recht zugesprochen. Ausschlaggebend sei immer der letzte Verzögerungsgrund. Da der vorliegende technische Defekt keinen außergewöhnlichen Umstand darstelle, sei der Kläger zu entschädigen.

AG Rüsselsheim 3 C 1132/12 (36) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 25.07.2012
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 25.07.2012, Az: 3 C 1132/12 (36)
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Hessen-Gerichtsurteile

Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 25. Juli 2012

Aktenzeichen: 3 C 1132/12 (36)

Leitsätze:

2. Wird die Flugroute vor dem Flug geändert, so liegt eine Annullierung vor und Fluggäste haben einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004.

Treten während eines Fluges mehrere außergewöhnliche Umstände im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 auf, so ist stets der Letzte außergewöhnliche Umstand der haftungsbefreiende für das Luftfahrtunternehmen.

Zusammenfassung:

3. Die Beklagte, ein Luftfahrtunternehmen, hatte mit mehreren aufeinanderfolgenden außergewöhnlichen Umstanden und Problemen zu kämpfen. Zuerst wurde die Flugroute aufgrund einer Luftraumsperrung geändert, sodass die Maschine statt nach Hamburg, nach Hannover fliegen sollte.
Anschließend wurde bei dem oben genannten Flug der Startpunkt geändert. Grund hierfür war eine Aschewolke im Luftraum.
Am neu angesetzten Startpunkt verzögerte sich der Abflug wegen eines technischen Defekts erneut.
Der Kläger fordert eine Ausgleichszahlung wegen der hierdurch entstandenen Flugverspätung und der Änderung des Zielflughafens.

Das Amtsgericht Rüsselsheim hat dem Kläger Recht zugesprochen. Obwohl in der Luftraumsperrung und der Aschewolke außergewöhnliche Umstände zu sehen seien, die die Airline von einer Haftung ausschließen würden, war es der technische Defekt, der letztendlich zur faktischen Annullierung des Fluges führte.
Technische Defekte sind indes nicht als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren, die das Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung wegen Verspätung oder Annullierung eines Fluges befreien können.
Ihnen kann unter allen Umständen vorgebeugt und entgegengewirkt werden. Weil der Defekt über die Zeit der Luftraumsperrung hinaus den Abflug verzögerte, sei diese nicht als haftungsbefreiend anzusehen.
Dem Kläger stehe aus diesem Grund eine entsprechende Ausgleichszahlung nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 400,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.06.2011 zu zahlen. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

5. Von der Ausführung des Tatbestandes wird gemäß § 313 a Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

6. Die Klage ist zulässig und begründet.

7. Die Klägerseite hat einen Anspruch auf Leistung von Ausgleichszahlungen in der geltend gemachten Höhe gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b), Art. 5 Abs. 1 lit. c) VO. Der von dem Kläger bei der Beklagten gebuchte Flug DE 3795 von Santorini nach Hamburg wurde – faktisch – annulliert im Sinne des Art. 5, Art. 2 lit. l) VO. Die für den Flug eingesetzte Maschine ist von der vorgesehenen Flugroute – der Strecke, die das Flugzeug vom Ausgangflughafen zum Bestimmungsflughafen in einer festgelegten Abfolge zurückzulegen hat – abgewichen, indem sie nicht nach Hamburg geflogen, sondern außerplanmäßig in Hannover gelandet ist und den Flug zum Bestimmungsflughafen nicht fortgesetzt hat. Der Umstand, dass das Flugzeug infolge der Abweichung von der geplanten Flugroute seinen Bestimmungsflughafen nicht erreicht, reicht aus, um den Flug als nicht durchgeführt zu betrachten (so ausdrücklich auch EuGH, Urteil vom 13.10.2011, Az. C-83/10, Rz. 28).

8. Unbeachtlich ist dabei, ob eine ausdrückliche Entscheidung der Beklagten oder ihrer Mitarbeiter zur Annullierung des Fluges erfolgt ist (EuGH, a.a.O., Rz. 29). Der Qualifikation des Flugabbruchs als faktische Annullierung im Sinne des Art. 5 VO steht auch nicht entgegen, dass der Kläger sodann mit einem Bus weiterbefördert wurde, da es sich hierbei um eine anderweitige Beförderung nach Art. 8 Abs. 1 lit. b), lit. c) VO handelt, die eine Annullierung gerade voraussetzt.

9. Es bleibt unerheblich, dass die Beklagte mit Nichtwissen bestritten hat, dass der Kläger über eine bestätigte Buchung verfügt hat. Ein Bestreiten mit Nichtwissen ist unzulässig, da eine bestätigte Buchung durch die Beklagte Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung (bzw. ihrer Mitarbeiter) gewesen ist und die Beklagte hiervon Kenntnis haben muss (hierzu Zöller, ZPO, 28 Aufl., § 138, Rn. 14). Es hätte der Beklagten – insbesondere in Ansehung der im Verfahren vorgelegten Unterlagen – oblegen, qualifiziert zu bestreiten, dass die Klägerseite einen Flug bei der Beklagten gebucht hatte und sie deshalb nicht im Besitz einer bestätigten Buchung ist; dies ist jedoch nicht geschehen.

10. Sollte die Beklagte keine aktuelle Kenntnis darüber gehabt haben, ob ihr Prozessgegner Fluggast gewesen ist, hätte sie den Grund ihrer Unkenntnis darlegen müssen. Die Beklagte kann sich diesbezüglich auch nicht darauf zurückziehen, dass ihr keine Fluggastlisten mehr vorliegen. Der Beklagten muss als Luftfahrtunternehmen aus eigener Wahrnehmung bekannt sein, welche Fluggäste sie tatsächlich transportiert hat. Die Beklagte kann sich auch nicht darauf zurückziehen, dass die Passagierlisten des Fluges nicht mehr vorhanden sind. Die Beklagte hat die prozessualen Nachteile zu tragen, wenn sie Passagierlisten ohne Not bereits ein Jahr nach dem betroffenen Flug eigenverantwortlich vernichtet. Es war der Beklagten, der mit der eingetretenen Verspätung des Fluges bekannt war, dass es diesbezüglich zu Rechtsstreitigkeiten kommen kann, ohne Weiteres zuzumuten, die – jedenfalls elektronisch mit nur geringem Aufwand archivierbaren – Fluglisten zu speichern.

11.

Der Ausgleichsanspruch ist nicht nach Art. 5 Abs. 3 VO ausgeschlossen; die faktische Annullierung, die erst mit der Entscheidung, nunmehr Hannover anzufliegen, erfolgt ist, geht nicht auf außergewöhnliche Umstände im Sinne dieser Vorschrift zurück. Zwar entfällt ein Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 3 VO, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die faktische Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären; solche außergewöhnlichen Umstände sind vorliegend allerdings nicht gegeben.

12. Die unstreitige Luftraumsperrung von jedenfalls 6 h infolge des Ausbruchs des isländischen Vulkanes, der nach der Behauptung der Beklagten zu einer Verspätung des Hinfluges um 8,5 h geführt habe, entlastet die Beklagte vorliegend nicht. Zwar ist eine solche Luftraumsperrung als außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO zu qualifizieren, jedoch geht die vorliegende faktische Annullierung nicht auf diesen außergewöhnlichen Umstand zurück.

1) Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 VO („dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht“) setzt ausdrücklich eine Kausalität des außergewöhnlichen Umstands im Hinblick auf die Annullierung voraus. Die unstreitige Luftraumsperrung ist indessen nur für einen Teil der eingetretenen zeitlichen Verzögerung – nicht aber für die faktische Annullierung – kausal, da sie unstreitig im Laufe des 25.05.2011 aufgehoben wurde und die Beklagte nach dem unstreitig gebliebenen Klägervortrag – nachdem die Maschine den Hinflug dieses Umlaufs bereits begonnen hatte – für 18:00 Uhr (am 25.05.2011) einen neuen Abflugszeitpunkt festgelegt hat.

2) Die faktische Annullierung erfolgte erst mit der Entscheidung, nunmehr Hannover und nicht Hamburg anzufliegen; diese konnte indes jedenfalls erst getroffen werden, nachdem die Luftraumsperrung schon vorüber war. Die eingetretene weitere zeitliche Verzögerung von über 30 h und die (aufgrund des in Hamburg geltenden Nachtflugverbots ausgelöste) faktische Annullierung durch Anflug eines anderen Flughafens gehen nicht mehr auf die Luftraumsperrung, sondern auf einen unstreitig gebliebenen technischen Defekt am Fluggerät zurück.

13. Zu der klägerseits vorgetragenen Ursache des technischen Defekts an der Turbine hat sich die Beklagte nicht eingelassen. Der vorgetragene technische Defekt muss jedenfalls als außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 VO ausscheiden. Technische Defekte sind indes nicht schlechterdings als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren, die das Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung wegen Verspätung oder Annullierung eines Fluges befreien können (a. A. insb. OLG Köln, Urteil vom 27.5.2010, Az. 7 U 199/09).

14. In Erwägungsgrund 14 der VO wird erkennbar, dass der Verordnungsgeber bei den haftungsausschließenden außergewöhnlichen Umständen ersichtlich solche im Blick hatte, die außerhalb der Sphäre des Luftfahrtunternehmens liegen und sich deren Beherrschung entziehen. Technische Probleme des Fluggeräts liegen indes – von Außeneinwirkungen abgesehen – stets in der besonderen Risikosphäre eines Luftfahrtunternehmens. In Anlehnung an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22.12.2008 (Az. C-549/07) kommt ein Ausschluss des Ausgleichsanspruchs wegen technischer Mängel – nicht zuletzt wegen des sicherzustellenden hohen Schutzniveaus für Fluggäste – nur dann in Betracht, wenn die technischen Probleme auf tatsächlich unbeherrschbare Vorkommnisse zurückzuführen sind, die nicht Teil der normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sind – wie beispielsweise versteckte Fabrikationsfehler, Sabotageakte oder terroristische Handlungen. Maßgeblich ist, ob das zu Grunde liegende Geschehen ein typisches und in Ausübung der betrieblichen Tätigkeit vorkommendes Ereignis darstellt oder ob es der Beherrschbarkeit der Fluggesellschaft völlig entzogen ist (so im Ergebnis auch die st. Rspr. des Landgerichts Darmstadt).

15. Der hier einzig denkbare technische Defekt – nämlich der Fehler der Flugzeugturbinen, zu dem sich die Beklagte selbst nicht eingelassen hat – fällt in die betriebliche Sphäre der Beklagten und liegt in deren Verantwortungsbereich. Es ist nicht zu erkennen, inwiefern dieses technische Problem nicht im Rahmen der normalen Tätigkeiten des Luftfahrtunternehmens aufgetreten sein und seine Ursache auch jenseits der von der Beklagten beherrschbaren Umständen gehabt haben soll.

16. Eine Anrechnung etwaiger Zahlungen eines Reiseveranstalters nach Art. 12 VO ist nicht durchzuführen. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten ist unsubstantiiert. Der Vortrag der Beklagten erfolgt ersichtlich ins Blaue hinein und ist nicht zu berücksichtigen, da überhaupt keine konkreten Anhaltspunkte für solche Zahlungen mitgeteilt werden.

17. Der Zinsanspruch ist begründet gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 Abs. 1 BGB.

18. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.

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