Anrechnung von Ausgleichs- und Schadensersatzansprüchen

BGH: Anrechnung von Ausgleichs- und Schadensersatzansprüchen

Vorliegend bekam der Kläger wegen einer Flugverspätung eine europäische Ausgleichszahlung im Sinne des Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zugesprochen. Nach Prüfung der Sachlage ergab sich, dass dem Kläger auch ein Schadensersatz zusteht.
Nun bat der Bundesgerichtshof den Europäischen Gerichtshof um Hilfe, die Frage zu klären, ob nationale Schadensersatzansprüche auf europäische Ausgleichsansprüche anzurechnen sind.

BGH X ZR 113/12 (Aktenzeichen)
BGH: BGH, Urt. vom 30.03.2013
Rechtsweg: BGH, Urt. v. 30.03.2013, Az: X ZR 113/12
LG Potsdam, Urt. v. 29.08.2012, Az: 13 S 25/11
AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 03.01.2011, Az: 20 C 267/10
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Bundesgerichtshof

1. Urteil vom 30.07.2013

Aktenzeichen: X ZR 113/12

Zusammenfassung:

2. Ein Ehepaar bucht einen Flug bei einem Luftfahrtunternehmen. Am Flughafen angekommen, sehen sie, dass der Flug annulliert wurde. Sie beschließen am nächsten Tag mit einer anderen Airline zu fliegen. Die Kläger verlangen eine Ausgleichszahlung gemäß  Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004  über die Kosten für die Hin- und Rückfahrt zum Flughafen sowie für das einen Tag lang ungenutzte Hotelzimmer und den gebuchten Flug. Zusätzlich dazu, befand das erstinstanzliche Gericht, dass den Klägern auch ein nationaler Schadensersatzanspruch zustehe.
Der Bundesgerichtshof ist unsicher, inwieweit die beiden geltend gemachten Ansprüche nebeneinander wirksam sind und ruft daher den Europäischen Gerichtshof an, zu erläutern, ob auf einen europarechtlichen Ausgleichsanspruch ein nationalrechtlicher Schadensersatzanspruch anrechenbar ist. Im Detail stellt sich die Frage, ob ein vom nationalen Recht gewährter Schadensersatzanspruch, der auf die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten gerichtet ist, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind, auf den Ausgleichsanspruch aus Art. 7 der Verordnung angerechnet werden kann.

Tenor:

3. Das Verfahren wird ausgesetzt.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 7 und Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11. Februar 2004 (ABl. EG L 46 vom 17. Februar 2004 S. 1 ff.) folgende Fragen vorgelegt:

Kann ein vom nationalen Recht gewährter Schadensersatzanspruch, der auf die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten gerichtet ist, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind, auf den Ausgleichsanspruch aus Art. 7 der Verordnung angerechnet werden, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung erfüllt hat?

Wenn eine Anrechnung möglich ist: Gilt dies auch für die Kosten der Ersatzbeförderung zum Endziel der Flugreise?

Soweit eine Anrechnung möglich ist: Kann das Luftfahrtunternehmen sie stets vornehmen oder ist sie davon abhängig, inwiefern das nationale Recht sie zulässt oder das Gericht sie für angemessen erachtet?

Soweit nationales Recht maßgeblich ist oder das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen hat: Sollen durch die Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung nur die Unannehmlichkeiten und der von den Fluggästen infolge der Annullierung erlittene Zeitverlust oder auch materielle Schäden ausgeglichen werden?

Gründe:

4. Die Klägerin buchte für sich und ihren Ehemann bei dem beklagten Luftfahrtunternehmen für den 30. März 2010 einen Flug von B. nach N. Bei der Ankunft am Flughafen erfuhren die beiden Reisenden, dass die Beklagte den gebuchten Flug annulliert hatte. Sie bot an diesem Tag keinen anderen Flug nach N.  und keinen Ersatzflug an.

5. Die Klägerin und ihr Mann buchten daraufhin bei einem anderen Luftfahrtunternehmen einen Flug nach N.  , der am nächsten Tag starten sollte, fuhren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause und nahmen am nächsten Tag den Ersatzflug. Das im Voraus gebuchte Hotelzimmer in N.  für die auf den geplanten Ankunftstag folgende Nacht konnten sie nicht nutzen, es wurde ihnen aber in Rechnung gestellt.

6. Die Klägerin hat aus eigenem und abgetretenem Recht ihres Ehemannes die Kosten für den Ersatzflug, die Fahrtkosten vom Flughafen nach Hause, die Kosten für das nicht genutzte Hotelzimmer in N.   und Portokosten sowie eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (nachfolgend: Verordnung) geltend gemacht. Die Beklagte erbrachte an die Klägerin die verlangte Ausgleichsleistung und erstattete den Preis des annullierten Fluges; insoweit haben die Parteien den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Außerdem hat die Beklagte ihre Pflicht anerkannt, an die Klägerin die Summe der von ihr geltend gemachten Kosten abzüglich des erstatteten Flugpreises und der geleisteten Ausgleichszahlung zu zahlen. Wegen der verbleibenden Klagesumme, deren Höhe der erbrachten Ausgleichszahlung entspricht, hat sie sich auf Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung berufen. Das Amtsgericht hat die Beklagte daraufhin gemäß deren Anerkenntnis verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. In Höhe der Ausgleichszahlung verfolgt sie den Klageanspruch mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision weiter.

7. Die Entscheidung über die Revision hängt davon ab, ob und gegebenenfalls inwieweit oder unter welchen Voraussetzungen ein nach nationalem Recht vorgesehener Anspruch, der auf die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten gerichtet ist, die wegen Annullierung eines gebuchten Fluges angefallen sind, nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung auf einen Ausgleichsanspruch aus Art. 7 der Verordnung anzurechnen ist.

8. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Klägerin stehe ein weiterer Anspruch nicht zu. Soweit die geltend gemachten Kosten nicht bereits von der Beklagten gezahlt oder der Klägerin durch Anerkenntnisurteil zugesprochen worden seien, könne sie diese nicht mehr geltend machen, da sie in dieser Höhe eine Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung erhalten habe. Der Fluggast solle nicht mehr als dasjenige erhalten, was er infolge der Verletzung der Pflichten gemäß  Art. 8 und 9 der Verordnung eingebüßt habe.

9. Dies hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nur dann stand, wenn das Luftfahrtunternehmen, obwohl die Voraussetzungen des Art. 7 der Verordnung für eine Ausgleichszahlung erfüllt sind, gleichwohl zu keiner Zahlung verpflichtet ist, wenn ein nach nationalem Recht gewährter Anspruch auf Ersatz des Schadens, der durch die Annullierung und eine deshalb erforderlich gewordene Änderung der Reiseplanung entstanden ist, den Betrag der Ausgleichszahlung übersteigt.

10. Die Klägerin kann von der Beklagten gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung eine Ausgleichszahlung verlangen, da die Beklagte den Flug annulliert und hierüber nicht rechtzeitig informiert hatte. Außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung sind nicht geltend gemacht.

11. Ebenso kann die Klägerin auf der Grundlage der für das Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Feststellungen von der Beklagten Ersatz der Kosten verlangen, die wegen der Annullierung des gebuchten Fluges und der deshalb erfolgten Änderung der Reiseplanung entstanden sind.

12. Der Anspruch auf Kostenerstattung ergibt sich als Anspruch auf Ersatz des weitergehenden Schadens im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung auf der Grundlage des nationalen Rechts. Im Streitfall unterliegt der Luftbeförderungsvertrag zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann einerseits und der Beklagten andererseits gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom-​I-Verordnung“) deutschem Sachrecht. Nach diesem steht der Klägerin aus eigenem und abgetretenem Recht gemäß § 280 Abs. 1, § 249 Abs. 1, § 398 BGB ein Anspruch auf Ersatz von Mehrkosten zu, wenn diese auf einer schuldhaften Verletzung der Pflichten der Beklagten beruhen. Die Beklagte hat gegenüber der Klägerin und deren Ehemann ihre vertragliche Pflicht zur Beförderung dadurch verletzt, dass sie den Flug annullierte, sie macht selbst nicht geltend, dass sie dies nicht zu vertreten gehabt hätte (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB). Hierdurch sind nicht nur die Kosten für die Heimfahrt vom Flughafen am vorgesehenen Reisetag und für die anderweitige Beförderung zum Endziel der Flugreise am Folgetag verursacht worden. Die Klägerin kann vielmehr auch Ersatz der weiteren Kosten verlangen, die ihr für das im Voraus gebuchte Hotelzimmer in N.  , das sie nicht nutzen konnte, und in Gestalt von Porti entstanden sind.

13. Die Beklagte ist damit nur dann nicht verpflichtet, weiteren Schadensersatz in Höhe der noch offenen Schadensbeträge an die Klägerin zu zahlen, wenn die erbrachte Ausgleichsleistung auf den Schadensersatzanspruch angerechnet werden kann. Dies kann der Senat nicht entscheiden, ohne zuvor dem Gerichtshof der Europäischen Union die in der Beschlussformel genannten Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

14. Eine Anrechnung des Schadensersatzanspruchs auf den Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung ist nämlich nicht deshalb ausgeschlossen, weil das beklagte Luftfahrtunternehmen seine Pflichten nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 der Verordnung zum Angebot von Unterstützungsleistungen verletzt hätte. Denn eine Verletzung der Pflichten der Beklagten nach Art. 8 der Verordnung hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Vielmehr hat sich die Klägerin nach seinen Feststellungen aus eigenem Antrieb um eine anderweitige Beförderung bemüht.

15. Damit kommt es für die Entscheidung im Revisionsverfahren darauf an, ob und gegebenenfalls inwieweit und unter welchen Voraussetzungen eine Anrechnung der Kosten einer geänderten Reiseplanung auch dann ausscheidet, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Pflichten nach Art. 8 und 9 der Verordnung nicht verletzt hat, beispielsweise weil der Fluggast eine Erstattung des Flugpreises verlangt hat.

16. Zunächst stellt sich die Frage, ob ein Schadensersatzanspruch, der auf die Erstattung der Kosten einer annullierungsbedingt geänderten Reiseplanung gerichtet ist, grundsätzlich von einer Anrechnung ausgeschlossen ist.

17.  Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung werden den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 sowie gegebenenfalls Art. 9 der Verordnung angeboten sowie zusätzlich ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Art. 7 der Verordnung eingeräumt. Die Verpflichtung, dem Fluggast nach seiner Wahl die Erstattung des Flugpreises mit gegebenenfalls einem Rückflug zum ersten Abflugort oder eine anderweitige Beförderung zum Endziel anzubieten, und die Verpflichtung zu einer Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung stehen mithin nebeneinander. Lediglich wenn die Differenz zwischen der vorgesehenen und der tatsächlichen Ankunftszeit am Endziel die in Art. 7 Abs. 2 genannten Stundenzahlen unterschreitet, kann die Ausgleichszahlung um die Hälfte gekürzt werden. Damit hätte die Beklagte, wenn sie den Reisenden den von ihnen in Anspruch genommenen Flug nach N.  am Folgetag als anderweitige Beförderung zum Endziel zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung) angeboten hätte, neben dieser Leistung auch die volle Ausgleichszahlung erbringen müssen, da die Reisenden in N.  deutlich später als zwei Stunden nach der vorgesehenen Ankunftszeit (Art. 7 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung) eintrafen.

18. Das Ergebnis wäre kein anderes, wenn die Beklagte ihre Verpflichtung zum Angebot einer anderweitigen Beförderung zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung verletzt hätte und deshalb den Reisenden zum Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens in Gestalt der für eine selbst organisierte anderweitige Beförderung entstandenen Aufwendungen verpflichtet wäre.

19. Auch in diesem Fall ständen die Pflicht zum Ersatz des entstandenen Schadens und der Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 nebeneinander (Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28. Juni 2011 in der Rs. C-​83/10 Rn. 64). Es handelt sich bei dem Anspruch auf Ersatz des durch die Verletzung der Pflicht aus Art. 8 der Verordnung (und gegebenenfalls Art. 9 der Verordnung) entstandenen Schadens nicht um einen weitergehenden Schadensersatzanspruch, der nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung auf einen Ausgleichsanspruch anrechenbar wäre (EuGH, Urteile vom 13. Oktober 2011 – C-​83/10, NJW 2011, 3776 Rn. 44 – Sousa Rodríguez u.a./Air France und vom 31. Januar 2013, Rs. C-​12/11, NJW 2013, 921 Rn. 20-​24 – McDonagh/Ryanair Ltd). Nur dann, wenn der Anspruch auf Ersatz der Kosten wegen Verletzung der Pflichten aus Art. 8 und 9 der Verordnung nicht der Anrechnung gemäß deren Art. 12 Abs. 1 Satz 2 unterliegt, wird sichergestellt, dass das Luftfahrtunternehmen nicht sanktionslos seine Pflicht zur Bereitstellung der Betreuungs- und Unterstützungsleistungen verletzt (Generalanwältin Sharpston, aaO Rn. 63 und 64).

20. Nicht geklärt ist hingegen, ob eine Anrechnung der Kosten der Ersatzbeförderung auch dann ausscheidet, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtungen nach den Art. 8 und 9 der Verordnung nicht verletzt hat.

21. Dafür, dass die Anrechenbarkeit nur ausgeschlossen ist, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Pflichten nach Art. 8 oder Art. 9 der Verordnung nicht erfüllt hat, spricht, dass nur in diesem Fall die Verpflichtung, deren Verletzung den Erstattungsanspruch begründet, dem Luftfahrtunternehmen neben der Ausgleichspflicht nach Art. 7 der Verordnung oblag. Ein Fehlanreiz, der das Luftfahrtunternehmen veranlassen könnte, seine Pflicht zu Betreuungs- und Unterstützungspflichten zu vernachlässigen, würde folglich durch die Anrechnung nicht gesetzt. Zudem spricht gegen einen Ausschluss der Anrechnung, dass die Kosten einer vom Fluggast selbst organisierten Ersatzbeförderung die Kosten einer anderweitigen Beförderung durch das Luftfahrtunternehmen selbst – unter Umständen beträchtlich – übersteigen können. Das Luftfahrtunternehmen, das neben den vollen Kosten einer anderweitigen Beförderung durch ein anderes Luftfahrtunternehmen auch die Ausgleichszahlung zu erbringen hätte, könnte mithin auch ohne eine Verletzung seiner Pflichten nach den Art. 8 und 9 der Verordnung erheblich belastet werden.

22. Demgegenüber spricht gegen eine Anrechnung, dass der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung im Fall der Annullierung des Fluges gemäß Art. 5 Abs. 1 der Verordnung dem Ausgleich der Unannehmlichkeiten dient, die die Fluggäste durch den eintretenden Zeitverlust erleiden (EuGH, Sturgeon, aaO Rn. 51 bis 54; Nelson, aaO Rn. 34; EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 – C-​11/11, NJW 2013, 1291 Rn. 32, 39 – Air France SA/Folkerts). Für die Ausgleichswürdigkeit des Zeitverlustes und der Unannehmlichkeiten, die nach der Verordnung die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung im Fall der Annullierung des Fluges rechtfertigt, ist es ohne Bedeutung, ob der Fluggast daneben Kosten für die Ersatzbeförderung zum Endziel deshalb aufwendet, weil das Luftfahrtunternehmen seine Pflichten aus Art. 8 der Verordnung verletzt hat, oder deshalb, weil der Fluggast beispielsweise von dem Angebot des Luftfahrtunternehmens auf Ersatzbeförderung keinen Gebrauch macht, sondern die Ersatzbeförderung zum Endziel der Flugreise selbst organisiert, solange dies nichts daran ändert, dass er sein Endziel mit erheblicher Verspätung erreicht.

23. Sollte deshalb eine Anrechnung der Kosten einer geänderten Reiseplanung grundsätzlich in Betracht kommen, könnte jedoch zu differenzieren sein zwischen den Kosten der Ersatzbeförderung zum Endziel der Flugreise und weiteren Kosten. Die Klägerin macht nicht nur die Kosten geltend, die ihr für die Beförderung am geplanten Abflugtag vom Flughafen nach Hause und am Folgetag für den Ersatzflug nach N.  entstanden sind, sondern auch weitere Kosten, nämlich solche für das im Voraus gebuchte Hotelzimmer in N.  , das sie nicht nutzen konnte, und Portokosten; in dieser Höhe steht ihr, wie ausgeführt, nach deutschem Recht ein Anspruch auf Schadensersatz zu.

24.  Es könnten lediglich solche Kostenpositionen von einer Anrechnung auf die Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung ausgeschlossen sein, die auch als Kosten einer anderweitigen Beförderung im Sinne von Art. 8 der Verordnung nicht angerechnet werden dürften.

25. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung könnte die Wertung zu entnehmen sein, dass das Luftfahrtunternehmen im Falle der Annullierung des Fluges neben der Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung, die dem Ausgleich der Unannehmlichkeiten und des Zeitverlustes dient, lediglich zur vollständigen Erstattung der Art. 8 (und gegebenenfalls Art. 9 ) der Verordnung unterfallenden Kostenpositionen verpflichtet sein soll. Für eine Anrechnung der Kostenpositionen, die auch im Rahmen der Art. 8 und Art. 9 der Verordnung nicht vom Luftfahrtunternehmen zu tragen sind, spricht, dass andernfalls im Fall der Annullierung die in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ausdrücklich vorgesehene gegenseitige Anrechnung von weitergehendem Schadensersatz und Ausgleichszahlung weitgehend leerlaufen und eine Abgrenzung zu anderen, anrechenbaren Schadensposition schwierig sein könnte.

26. Demgegenüber könnten jedoch auch sämtliche Kosten, die dem Fluggast durch eine infolge der Annullierung erforderliche Änderung seiner Reiseplanung entstanden sind, von dem Luftfahrtunternehmen neben der Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung zu erstatten sein, ohne dass eine gegenseitige Anrechnung gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung erfolgen dürfte.

27. Der Gerichtshof hat ausgeführt (EuGH, Sturgeon, aaO Rn. 51 bis 54; Nelson, aaO Rn. 34; Folkerts, aaO Rn. 32, 39), dass Zweck des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 der Verordnung sei, die Unannehmlichkeiten auszugleichen, die die Fluggäste durch den eintretenden Zeitverlust erleiden. Für die Ausgleichswürdigkeit des Zeitverlustes und der annullierungsbedingten Unannehmlichkeiten ist die Differenzierung der Schadenspositionen nicht von Bedeutung. Die weiteren Kosten, die die Klägerin in Gestalt der nutzlos gewordenen Zahlung für das Hotelzimmer und der Porti aufwenden musste, sind unter diesem Blickwinkel lediglich Ausdruck weiterer Unannehmlichkeiten und Komplikationen, die durch die Annullierung ausgelöst worden sind.

28. Sollten gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung entweder sämtliche durch die Annullierung des Fluges verursachten Kosten oder jedenfalls diejenigen Kosten, die nicht der Rückfahrt am ursprünglich vorgesehenen Abreisetag und der Ersatzbeförderung zum Endziel der Flugreise dienten, auf den Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung anrechenbar sein, kommt es für die Entscheidung des Revisionsverfahrens schließlich darauf an, ob das Luftfahrtunternehmen die Anrechnung ohne weiteres vornehmen kann oder ob sie von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, insbesondere davon, ob und gegebenenfalls inwiefern das nationale Recht sie zulässt.

29. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung könnte dahin zu verstehen sein, dass das Luftfahrtunternehmen das Recht hat, die Anrechnung vorzunehmen, und das Gericht hieran gebunden ist.

30. Die Vorschrift könnte aber auch dahin zu verstehen sein, dass das nationale Recht nicht nur weitergehende Schadensersatzansprüche zulassen (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung), sondern auch – soweit sich aus der Verordnung nichts anderes ergibt (Fragen 1 und 2) – bestimmen kann, ob und gegebenenfalls inwieweit diese auf den Ausgleichsanspruch anzurechnen sind.

31. Dafür spricht die Befugnis des nationalen Gesetzgebers, weitergehende Schadensersatzansprüche vorzusehen. Wenn der nationale Gesetzgeber darin frei ist, solche weitergehende Ansprüche zu schaffen oder hiervor abzusehen, liegt es nahe, ihm auch die Befugnis zuzubilligen, eine Anrechnung auf den Ausgleichsanspruch vorzusehen. Dies entspräche der Sache nach einem Anspruch auf weitergehenden Schadensersatz, den das nationale Recht nur in Höhe eines den Ausgleichsanspruch übersteigenden Betrags vorsähe.

32. Schließlich könnte Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung dahin zu verstehen sein, dass die Gerichte über die gegenseitige Anrechenbarkeit im Einzelfall unter Berücksichtigung sich aus der Verordnung selbst ergebender Wertungen zu entscheiden haben.

33. Die Kommission ging in ihrer Stellungnahme zu Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (aaO, unter 4.2 zu Abänderung 15) davon aus, die Anrechnung ermögliche es den Gerichten, zu verhindern, dass Luftfahrtunternehmen ein doppelter Schadensersatz auferlegt werde, was für eine – vom nationalen Recht unabhängige – Entscheidungsbefugnis der Gerichte spricht. Entsprechend wird angenommen, dass es stets Sache des zuständigen Gerichts sei, zu entscheiden, ob eine Anrechnung unter den Umständen des Einzelfalls angemessen sei (Generalanwältin Sharpston, aaO Rn. 64). Zur Frage der Anrechenbarkeit hat die Generalanwältin im dort vorliegenden Fall weiter ausgeführt (aaO Rn. 64), eine gegenseitige Anrechnung des Ausgleichsanspruchs gemäß Art. 7 der Verordnung und des Schadensersatzanspruchs wegen Verletzung von Art. 8 und Art. 9 der Verordnung sei unangemessen, da es sich nach der Verordnung um kumulative Verpflichtungen handele.

34. Gegen eine vom nationalen Recht unabhängige Entscheidung der Gerichte über die Anrechnung spricht jedoch, dass die Verordnung, soweit nicht eine Verletzung der Pflichten des Luftfahrtunternehmens nach Art. 8 und 9 in Rede steht, hierfür in Art. 12 Abs. 1 keine Kriterien vorgibt und es im Übrigen dem nationalen Recht überlässt, ob es überhaupt weitergehende Schadensersatzansprüche vorsieht. Hierzu könnte eine vom nationalen Recht unabhängige Ermessensentscheidung der Gerichte in Widerspruch treten.

35. Sollte über die Anrechnung von den Gerichten nach nationalem Recht zu entscheiden sein oder das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen haben, kommt es schließlich darauf an, welche Beeinträchtigungen durch die Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung kompensiert werden sollen.

36. Das deutsche Recht enthält zur Frage der Anrechnung einer Ausgleichszahlung auf einen weitergehenden Schadensersatzanspruch (oder umgekehrt) keine ausdrücklichen Vorschriften. Auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze des Schadensersatzrechts sind unter bestimmten Voraussetzungen Vorteile, die bei dem Geschädigten durch den Schadensfall eingetreten sind, auf seinen Schadensersatzanspruch anzurechnen. Voraussetzung einer solchen Anrechnung ist, dass sie dem Sinn und Zweck der Schadensersatzpflicht entspricht. Die Anrechnung darf den Geschädigten nicht unzumutbar belasten und den Schädiger nicht unbillig begünstigen. Die Anrechnung erfolgt dabei hinsichtlich einzelner Schadenspositionen, wenn der Vorteil mit einem bestimmten Nachteil korrespondiert, der Schadensposten bei wertender Betrachtung dem Vorteil zuordenbar ist (BGH, Urteil vom 6. Juni 1997 – V ZR 115/96, NJW 1997, 2378 mwN). Eine Anrechnung scheidet mangels Zuordenbarkeit der Schadensposten aus, wenn dies dem Zweck des jeweiligen Schadensausgleichs nicht entspricht. So verbietet es der Zweck eines Schmerzensgeldes als einer Entschädigung für die immateriellen Nachteile des Verletzten, eine Entschädigung für Vermögensverluste als das Schmerzensgeld mindernd zu berücksichtigen und hierdurch Ersatzleistungen für den materiellen Schaden auf immaterielle Nachteile anzurechnen. Ebenso wenig kann umgekehrt ein eingetretener Vermögensschaden mit immateriellen Vorteilen ausgeglichen werden (BGH, Urteil vom 9. März 1982 – VI ZR 1317/80, NJW 1982, 1589, 1590).

37. Da der der Klägerin zugesprochene Ersatz weitergehenden Schadens gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung dem Ersatz der durch die Annullierung verursachten Vermögensschäden dient, wäre seine Anrechnung auf den Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 der Verordnung ausgeschlossen, wenn dieser nur dem Ausgleich immaterieller Schäden der Fluggäste diente. Demgegenüber käme eine – gegebenenfalls teilweise – Anrechnung in Betracht, wenn durch den Ausgleichsanspruch – beispielsweise in Gestalt eines pauschalierten Schadensersatzanspruchs – nicht nur die durch die Annullierung verursachten Unannehmlichkeiten und der Zeitverlust der Fluggäste, sondern in pauschalierter Form auch von diesen erlittene materielle Schäden ausgeglichen werden sollen.

38. Auf die Frage, welche Schäden der Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 der Verordnung kompensieren soll, könnte es auch ankommen, falls die nationalen Gerichte über die Anrechnung im Einzelfall unter Berücksichtigung sich aus der Verordnung selbst ergebender Wertungen zu entscheiden hätten. Diente der Ausgleichsanspruch gemäß Art. 7 der Verordnung ausschließlich der Kompensation der durch die Annullierung verursachten Unannehmlichkeiten insbesondere infolge des Zeitverlustes (EuGH, Sturgeon, aaO Rn. 54, 72), könnte es angemessen sein, im zu entscheidenden Fall beide Leistungen ohne gegenseitige Anrechnung zu gewähren. Sollen sowohl materielle als auch immaterielle Schäden ausgeglichen werden, käme gegebenenfalls auch eine teilweise Anrechnung in Betracht.

39. Welche Schäden die Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung kompensieren soll, ist nicht hinreichend geklärt.

40. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat ausgeführt, dass die Fluggäste erheblich verspäteter Flüge bezüglich der Anwendung des Ausgleichsanspruchs gemäß Art. 7 der Verordnung den Fluggästen annullierter Flüge gleichzustellen seien, da sie ähnliche Unannehmlichkeiten in Form eines Zeitverlusts erlitten und sich somit im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs in einer vergleichbaren Lage befänden (EuGH, Sturgeon, aaO Rn. 54, 60; Nelson, aaO Rn. 34, 48; Folkerts, aaO Rn. 32 ). Die pauschale Ausgleichszahlung ermögliche den Ausgleich eines von den Fluggästen erlittenen Zeitverlusts (EuGH, Nelson, aaO Rn. 74). Daraus könnte der Schluss zu ziehen sein, dass durch die Ausgleichszahlung nur immaterielle Schäden in Form von Unannehmlichkeiten infolge des Zeitverlusts kompensiert werden sollen.

41. Demgegenüber könnte die Ausgleichsleistung auch als pauschalierter Ersatz entstandener materieller und immaterieller Schäden verstanden werden. Es handelt sich bei den in der Verordnung vorgesehenen Maßnahmen, und damit auch bei der Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung, um standardisierte Maßnahmen, durch die sofort – ohne die Mühen gerichtlicher Geltendmachung – der Schaden wieder gutgemacht werden soll, den die Annullierung oder die erhebliche Verspätung zur Folge hat (EuGH, Rodríguez, aaO Rn. 39; Urteil vom 10. Januar 2006 – C-​34/04, The Queen, auf Antrag von International Air Transport Association, European Low Fares Airline Association/Department for Transport, NJW 2006, 351 Rn. 45, 82; Nelson, aaO Rn. 46). Daher könnte die Ausgleichszahlung auch dazu dienen, es dem Fluggast zu ermöglichen, Ersatz seiner materiellen Schäden zu erlangen, ohne im Einzelnen aufwendig deren Höhe darzulegen und zu beweisen.

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