Fluglotsenstreik kein außergewöhnlicher Umstand

AG Bremen: Fluglotsenstreik kein außergewöhnlicher Umstand

Zwei Urlauber müssen für ihre Heimreise einen Flug bei einem anderen, als dem ursprünglichen Luftfahrtunternehmen buchen, weil der bereits gebuchte Rückflug wegen eines Fluglotsenstreiks annulliert wurde. Die Kläger verlangen eine Kostenerstattung vom Luftfahrtunternehmen, während dieses sich, wegen Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands, nicht in der Pflicht sieht, für die Reisekosten aufzukommen.
Das Amtsgericht Bremen entspricht dem Begehren der Kläger. Ein Fluglotsenstreik sei kein haftungsausschließender außergewöhnlicher Umstand.

AG Bremen 9 C 135/11 (Aktenzeichen)
AG Bremen: AG Bremen, Urt. vom 04.08.2011
Rechtsweg: AG Bremen, Urt. v. 04.08.2011, Az: 9 C 135/11
Fragen & Antworten zum Thema
Verwandte Urteile
Weiterführende Hinweise und Links
Hilfe und Beratung bei Fragen

Bremen-Gerichtsurteile

Amtsgericht Bremen

1. Urteil vom 04.08.2011

Aktenzeichen: 9 C 135/11

Leitsatz:

2. Ein Fluglotsenstreik begründet keinen haftungsbefreienden außergewöhnlichen Umstand im Sinne der EU-Fluggastrechteverordnung.

Zusammenfassung:

3. Der Heimflug von zwei Urlaubern wird, aufgrund eines Fluglotsenstreiks, annulliert. Weil der angebotene Ersatzflug erst in 3 Tagen erfolgen soll, buchen die Kläger einen Flug bei einem anderen Luftfahrtunternehmen zu einem Preis von 1.316 €. Vom ursprünglichen Unternehmen verlangen sie nun eine Erstattung der Mehrkosten. Dieses weigert sich den vollen Betrag zu übernehmen, weil im Streik ein haftungsbefreiender außergewöhnlicher Umstand zu sehen sei.
Das Amtsgericht Bremen hat den Klägern jedoch den kompletten Betrag zugesprochen, mit folgender Begründung: Die Beklagte wusste von den Streiks bereits einen Tag vor der Annullierung und hätte somit den Flug durch Umfliegen der Streikzone organisieren oder einen anderen Flug mit anschließendem Bustransfer bereitstellen können. Die haftungsbefreiende Wirkung des außergewöhnlichen Umstands greife in diesem speziellen Fall deswegen nicht.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilen, an die Kläger einen Betrag in Höhe von insgesamt 996,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz hierauf seit dem 30.11.2010 zu zahlen; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

5. Die Kläger verlangen Zahlung von 1.796,30 € nach einer Flugannullierung.

6. Die Kläger buchten bei der Beklagten den Flug FR3659 von Malaga nach Bremen, der planmäßig am 19.10.2010, 19:00 Uhr, in Malaga starten sollte.

7. Wegen des in Frankreich bestehenden Fluglotsenstreits annullierte die Beklagte den Flug. Sie bot den Klägern einen Alternativflug für den 22.10.2010 an. Dieses Angebot lehnten die Kläger ab und buchten für insgesamt 1.166,42 € bei Brüssel-Airlines einen Rückflug für den 20.10.2010 nach Hamburg. Für die Übernachtung und den Transfer verauslagten die Kläger 50,00 € Hotelkosten, 40 € Taxikosten und 59,50 € Kosten für Telefon und Verpflegung. Die bereits bezahlten Flugkosten in Höhe von 391,62 € erstattete die Beklagte den Klägern auf deren Verlangen zurück.

8. Mit Anwaltsschreiben vom 11.11.2010 forderten die Kläger die Beklagte bis spätestens zum 29.11.2010 ergebnislos zum Schadensersatz auf.

9. Die Kläger sind der Ansicht, dass die Beklagte wegen der Flugannullierung Schadensersatz in Höhe der Rückbeförderungskosten abzüglich des erstatteten Flugpreises schulde. Die Beklagte schulde zudem Ausgleichszahlung in Höhe von insgesamt 800,00 €. Die Kläger behaupten, dass aus beruflichen Gründen die zeitnahe Rückbeförderung des Klägers zu 2. geboten gewesen sei. Die Beklagte habe ausreichende Kapazitäten nicht vorgehalten oder organisiert, obgleich der Streik absehbar gewesen sei. Andere Fluglinien hätten seinerzeit von Malaga aus Deutschland angeflogen.

10. Die Kläger beantragen,

11. Die Beklagte zu verurteilen, an jeden Kläger einen Betrag in Höhe von € 898,15 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz hierauf seit dem 25.11.2010 zu zahlen.

12. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

13. Die Beklagte ist der Ansicht, dass eine Erstattungspflicht wegen des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände ausscheide. Da sich die Kläger für die Flugpreiserstattung entschieden hätten, sei deren Wahlrecht erloschen und es bestünden hinsichtlich der Rückbeförderung keine Schadensersatzansprüche mehr. Die Ausgleichszahlung sei auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch anzurechnen. Die Beklagte behauptet, dass bei Beantragung eines weiteren Slots Bremen aufgrund des dortigen Nachtflugverbots am 19.10.2010 nicht mehr hätte angeflogen werden dürfen.

Entscheidungsgründe:

14. Die Klage ist zulässig; nach § 29 ZPO ist Bremen als Zielflughafen Erfüllungsort im Sinne des § 29 ZPO (BGH, NJW 2011, 2056).

15. Die Klage ist teilweise begründet; die Beklagte schuldet den Klägern Schadensersatz, nicht aber Ausgleichszahlung:

16. Die Klägern steht hinsichtlich des Rückflugs mit Brüssel-Airlines gemäß §§ 280 I, 283, 275 IV, 276 BGB i.V.m. Art. 12 I, 5 I a, 8 I b der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 (im Folgenden: VO) ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 846,80 € zu.

17. Die Hauptleistungspflicht der Beklagten bestand in der Rückbeförderung der Kläger nach Bremen mit dem Flug FR3659 am 19.10.2010, 19:00 Uhr Abflugzeit. Durch die Annullierung des konkret gebuchten Flugs ist die geschuldete Leistungserbringung unmöglich geworden.

18. Das Verschulden der Beklagten wird nach den §§ 283, 280 I 2 BGB vermutet (Palandt, 69. A., § 283, Rn. 4).

19. Da Art. 5 III der VO ausschließlich auf die Ausgleichszahlungsverpflichtung gemäß Art. 7 VO Bezug nimmt, kommt es hinsichtlich des Schadenersatzanspruchs nicht darauf an, ob die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurück zu führen war.

20. Die Beklagte hat die Annullierung zu vertreten; sie hat eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt (§§ 280 I, 283 BGB). Denn die Beklagte ist beweisfällig geblieben, dass sie aufgrund besonderer und außerhalb ihres Einflussbereichs stehender Umstände zur Flugannullierung verpflichtet oder gehalten war und sie zuvor alles ihr Zumutbare unternommen hatte, um die Annullierung zu verhindern bzw. die Verspätung so gering als möglich zu halten. Auch nach der Annullierung hat die Beklagte offenbar nicht alle ihr möglichen Anstrengungen unternommen, um die zeitnahe Rückbeförderung der Fluggäste sicherzustellen und also auch insofern pflichtwidrig gehandelt:

21. Die Beklagte trug nicht hinreichend substantiiert vor, warum es ihr unmöglich war, den streitgegenständlichen Flug – gegebenenfalls unter Umgehung des französischen Luftraums – bis zum Eintritt des Nachtflugverbots noch am 19.10.2010 nach Bremen zu leiten. Die Beklagte hat es nach eigenem Vortrag unterlassen, einen entsprechenden Slot tatsächlich zu beantragen (Schriftsatz vom 18.04.2011, S. 4, Bl. 28 d.A.). Sie lässt sich lediglich dahingehend ein, dass „aufgrund der Erfahrung“ zu „erwarten“ gewesen sei, dass die europäische Luftfahrtagentur und Flugsicherheitsbehörde im Fall der Beantragung einen „extrem verspäteten“ Slot vergeben hätte. Im „Normalfall“ betrügen die Verspätungen 5 Stunden, so dass die Maschine Bremen nicht mehr hätte anfliegen können. Da die Beklagte selbst vorträgt, dass die Streikankündigung am 18.10.2010 erfolgte, hätte sie jedoch am Vortag organisatorische Maßnahmen ergreifen können. Sie hätte den Slot beantragen und ggf. einen nicht vom Nachtflugverbot betroffenen Zielflughafen in Deutschland nebst Taxi- oder Bustransfer organisieren müssen. Diese Obliegenheit der Beklagten entfällt grundsätzlich nicht aufgrund der hiermit verbundenen Mehrkosten. Selbst wenn tatsächlich alle anderen Ersatzmaschinen der Beklagten nicht verfügbar gewesen sein sollten, hätte die Beklagte versuchen müssen, eine Ersatzmaschine bei einer anderen Fluggesellschaft zu chartern oder Rückflugplätze bei anderen Fluglinien für ihre Passagiere zu buchen. Unklar bleibt zudem, warum die Beklagte – unter Zugrundelegung ihres Vortrags – die Verbringung der Fluggäste nach Bremen nicht bereits am Morgen des 20.10.2010 (zuzüglich Übernachtung in Malaga) gewährleisten konnte, sondern einen Alternativflug erst zum 22.10.2010 anbot.

22. Die Kläger hatten aufgrund der – durch die Annullierung zurechenbar verursachten – Buchung eines zeitnahen Rückflugs bei Brüssel-Airlines Kosten in Höhe von insgesamt 1.166,42 €. Diese Aufwendungen waren erforderlich und zweckmäßig (vgl. Palandt, 69. A., Vor § 249, Rn. 44), da sie ausschließlich für die Rückbeförderung anfielen. Die Kläger führten insofern ein auch-fremdes-Geschäft, das an sich der Beklagten oblag. Der gebuchte Zielflughafen Hamburg lag dem geschuldeten Rückbeförderungsort Bremen nächstmöglich. Abzüglich des erstatteten Rückflugpreises ergibt sich somit gemäß § 249 I BGB ein Schaden in Höhe von 846,80 €.

23. Die Kläger haben nicht gegen ihre Schadensminderungspflicht verstoßen. Sie waren gemäß § 254 II BGB nicht gehalten, den angebotenen Alternativflug am 22.10.2010 zu akzeptieren. Zwar ist es unbeachtlich, dass der Kläger zu 2. vorträgt, aus beruflichen Gründen auf eine zeitnahe Rückbeförderung angewiesen gewesen zu sein. Denn einem beruflich verpflichteten Manager dürfen im Ergebnis keine weitergehenden Rechte zugesprochen werden als einem arbeitslosen Fluggast. Entscheidend ist vielmehr, dass es verfügbare Rückbeförderungsmöglichkeiten vergleichbarer Art vor dem 22.10.2010 tatsächlich gab. In diesem Fall muss sich der Fluggast auf einen von der Fluggesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt angebotenen Ersatzflug (der eigenen Linie) grundsätzlich nicht verweisen lassen. Dies ergibt sich unter Zugrundelegung des Schutzzwecks der Verordnung aus dem Wortlaut des Art. 8 I b der VO, wonach die Fluglinie die Beförderung zum Endziel zum „frühestmöglichen Zeitpunkt“ schuldet. Die Verordnung regelt nicht, dass sich die Verpflichtung zur frühestmöglichen Rückbeförderung auf die verfügbaren Maschinen der betroffenen Fluggesellschaft beschränkt.

24. Insofern kann dahinstehen, ob die Beklagte den Klägern eine Hotelunterkunft bis zum 22.10.2011 anbot und organisierte (vgl. Art. 9 I b VO) und ein dreitägiges Zuwarten den Klägern zumutbar gewesen wäre. Dass die Kläger zeitnah einen günstigeren Ersatzflug hätten buchen können, wurde von der insofern beweispflichtigen (Palandt, 69. A., § 254, Rn. 72) Beklagten nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Die Kläger buchten einen Rückflug gleicher Klasse. Dass dieser im Ergebnis dreimal teurer als der ursprünglich gebuchte Flug war, erscheint (noch) verhältnismäßig.

25. Nach Ansicht des Gerichts ist der Schadensersatzanspruch der Kläger nicht dadurch ausgeschlossen, dass diese zunächst die Rückerstattung des geleisteten Flugpreises forderten und sodann erhielten (a.A. wohl: BGH NJW-RR 2010, 1641 ff. (Ziff. 26) ohne nähere Begründung).

26. Zwar beinhaltet Art. 8 VO ein Wahlrecht des Fluggastes. Die in Art. 8 VO normierten Ansprüche bestehen also nicht kumulativ. Nach dem Schutzgedanken der Verordnung dient das Wahlrecht jedoch dem geschädigten Fluggast und nicht der pflichtwidrig handelnden Fluglinie. Der Fluggast soll die Möglichkeit erhalten, die für ihn günstigste Erstattungsmöglichkeit zu wählen, also Schadensersatz, wenn die Rückflugkosten höher als der ursprüngliche Flugpreis waren und Rückerstattung, wenn der Flugpreis höher war. Die Wahl des Anspruchs nach Art. 8 I a VO kann allenfalls dann zu einem Verlust der weitergehenden Rechte aus Art. 8 I b, 12 VO führen, wenn der Fluggast vorab auf diese Rechtsfolge hingewiesen wurde und also durch sein Handeln tatsächlich eine Wahl ausüben wollte (vgl. die Auskunftsverpflichtung nach Art. 14 VO). Nur dann wäre aus dem Rückzahlungsbegehren nach § 133 BGB eine Verzichtserklärung ableitbar. Schließlich liegt es auf der Hand, dass der Fluggast, der nach einer Annullierung seinen Flugpreis wegen Nichtleistung zurückverlangt, nicht auf weitergehenden Schadensersatz verzichten will. Die Kläger haben vorliegend den sogenannten kleinen Schadensersatz unter Anrechnung des zurückerstatteten Flugpreises geltend gemacht; dies ist nach dem Rechtsgedanken des § 325 BGB zulässig. Die Beklagte hat nicht substantiiert vorgetragen, dass sie die Kläger vor deren Rückzahlungsverlangen dezidiert auf die Rechtsfolge des Anspruchsverzichts nach § 283 BGB i.V.m. Art. 12 I, 5 I a, 8 I b der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 hingewiesen habe. Einem Nichtjuristen erschließt sich keineswegs, dass das Rückzahlungsverlangen einen weitergehenden Anspruchsverzicht zur Folge haben könnte. Das Rückzahlungsverlangen der Kläger beinhaltete mithin keine Verzichtserklärung oder abschließende Wahlentscheidung. Ein anderes Ergebnis wäre mit dem übergeordneten Gedanken des europäischen Verbraucherschutzes unvereinbar.

27. Die Klägern steht hinsichtlich der Taxi-, Verpflegungs- und Hotelkosten gemäß § 280 I, 275 IV, 276 BGB i.V.m. Art. 12 I, 5 I b, 9 I, II der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11.02.2004 ein Schadensersatzanspruch in Höhe von insgesamt 149,50 € zu.

28. Der Anfall der geltend gemachten Positionen wurde nicht bestritten; der Schadensersatz erscheint zudem angemessen im Sinne des § 287 ZPO.

29. Die Klägern steht wegen der Annullierung des Flugs eine Ausgleichszahlung in Höhe von insgesamt 800,00 € nach Art. 7 I b VO nicht zu. Denn die Annullierung erfolgte aufgrund des Streiks der Fluglotsen in Frankreich und also aufgrund außergewöhnlicher Umstände im Sinne  des Art. 5 III VO.

30. Ein Fluglotsenstreik ist ein außergewöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 5 III VO, weil er außerhalb der Betriebssphäre der Fluglinie liegt und also von dieser nicht beherrscht werden kann (AG Köln, ZLW 2008, 695); allenfalls der Streik des eigenen Personals der Fluglinie ist gegebenenfalls kein besonderer Umstand (vgl. AG Frankfurt, NJW-RR 2006, 1559; a.A.: AG Frankfurt, RRa 2006, 630). Dass die Annullierung im Zusammenhang mit dem Streik der Fluglotsen in Frankreich stand, ist zwischen den Parteien nicht streitig. Die Beklagte hätte den Streik als solchen durch zumutbare Maßnahmen nicht verhindern können.

31. Art. 5 III VO ist nach Ansicht des EuGH dahin auszulegen, dass das Luftfahrtunternehmen, da es alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen hat, um außergewöhnliche Umstände zu vermeiden, die mit dem etwaigen Eintritt außergewöhnlicher Umstände verbundene Möglichkeit von Verspätungen bei der Flugplanung angemessen berücksichtigen muss. Es muss daher eine gewisse Zeitreserve vorsehen, um den Flug insgesamt möglichst bald nachdem Wegfall der außergewöhnlichen Umstände durchführen zu können. Dagegen kann die genannte Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, dass im Rahmen der zumutbaren Maßnahmen eine Pflicht besteht, allgemein und undifferenziert eine Mindest-Zeitreserve einzuplanen, die für sämtliche Luftfahrtunternehmen unterschiedslos in allen Situationen des Eintritts außergewöhnlicher Umstände gilt (EuGH, RRa 2011, 125).

32. Im Rahmen der Ausgleichsanspruchsprüfung kommt es nicht darauf an, ob die streikbedingte Verspätung der Beförderungsleistung durch den Einsatz von (gecharterten) Ersatzmaschinen oder die Ergreifung ähnliche Maßnahmen hätte abgewendet werden können. Der „Ausgleichsanspruch“ nach Art. 7 VO ist als Ausgleich für immaterielle Schäden kein Schadensersatzanspruch im engeren Sinne. Die Zahlungsverpflichtung beinhaltet vielmehr einen Sanktionscharakter. Die Fluggesellschaften sollen aufgrund der drohenden Schmerzensgeldansprüche der Fluggäste dazu angehalten werden, ihre Organisationsabläufe zu optimieren. Nur wenn der Fluggesellschaft Versäumnisse im eigenen Herrschaftsbereich vorzuwerfen sind (etwa der Ausfall einer Maschine aufgrund technischer Probleme), erscheint es gerechtfertigt, dem Kunden einen pauschalierten Zahlungsanspruch für die erlittenen Unannehmlichkeiten zuzubilligen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 5 III VO. Denn das Kriterium der Vermeidbarkeit bei Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen bezieht sich nach dem Gesetzestext nicht auf die „Annullierung“, sondern auf die „Umstände“, vorliegend also den Streik. Andernfalls hätte es heißen müssen: […] dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätte (statt „hätten“) vermeiden lassen […]. Im Übrigen schließt der maßgebliche Relativsatz an das Substantiv „Umstände“ an.

33. Hinsichtlich der Ausgleichszahlungspflicht (anders Schadensersatz, siehe oben) ist von einer Billigfluglinie nicht zu fordern, dass diese jederzeit Ersatzmaschinen vorrätig hält oder unverzüglich chartert, um dem Risiko der Verspätung aufgrund äußerer Umstände zu begegnen. Dies würde im Ergebnis zu entsprechenden Preissteigerungen führen, die nicht im Interesse der Verbraucher lägen.

34. Ob der Ausgleichsanspruch unabhängig vom Schadensersatzanspruch bestünde oder aber gemäß Art. 12 I 2 VO anzurechnen wäre, kann somit dahinstehen.

35. Die Nebenforderung basiert auf den §§ 288 I, 286 BGB. Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 92 I, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Fragen zu diesem Urteil? Diskutiere in unserem Forum.

Fragen & Antworten zum Thema

Fragen & Antworten zum Thema: Fluglotsenstreik kein außergewöhnlicher Umstand

Verwandte Entscheidungen

AG Köln, Urt. v. 25.10.2010, Az: 142 C 153/10
AG Düsseldorf, Urt. v. 22.06.2011, Az: 25 C 10228/10

Berichte und Besprechungen

ARD: Behinderungen im Luftverkehr
N-TV: Fluglotsenstreik
Focus: Fluglotsenstreiks: Die Notfallflugpläne der Airlines
Forum Fluggastrechte: Fluglotsenstreik: Airline zahlt Ersatzflug
Passagierrechte.org: Kostenerstattung bei Umbuchung wegen Streiks

Rechtsanwälte für Reiserecht

Hilfe bei rechtlichen Fragen: Rechtsanwälte für Reiserecht oder Rechtsanwälte für Fluggastrechte.