Verspätung kein Sachmangel der Beförderungsleistung

AG Rüsselsheim: Verspätung kein Sachmangel der Beförderungsleistung

Die Parteien streiten um Ausgleichszahlungen, die sich aus einer Flugverspätung ergeben und darüber hinaus um die Verrechnung bereits geleisteter Rückzahlungen seitens der Beklagten. Diese hatte der Klägerin im Vorfeld der Verhandlung einen Teil des geforderten Betrages zurückgezahlt, wobei die Klägerin nun den vollen Betrag einfordert.

Das Amtsgericht hält die Klage größtenteils für begründet. Zwar könne sich die Beklagte auf Erfüllung berufen, weil sie einen Teil des Betrages bereits beglichen hatte. Allerdings habe die Klägerin Ansprüche auf weitere Zahlungen wegen der Flugverspätung, die sich aus der Verordnung 261/2004 ergeben.

AG Rüsselsheim 3 C 237/11 (36) (Aktenzeichen)
AG Rüsselsheim: AG Rüsselsheim, Urt. vom 10.08.2011
Rechtsweg: AG Rüsselsheim, Urt. v. 10.08.2011, Az: 3 C 237/11 (36)
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Hessen-Gerichtsurteile

Amtsgericht Rüsselsheim

1. Urteil vom 10. August 2011

Aktenzeichen: 3 C 237/11 (36)

Leitsätze:

2. Die Verspätung eines Fluges stellt allein keinen Sachmangel der Beförderungsleistung dar.

Zusammenfassung:

3. Die Klägerin hatten bei der Beklagten einen Flug gebucht, der seinen Zielort jedoch erst mit Verspätung erreichte. Die Kläger fordern deshalb Ausgleichszahlungen von der Beklagten. Diese hatte ihnen im Vorfeld der Verhandlung jedoch bereits einen Teil des geforderten Betrages gezahlt. Das Amtsgerichthat nun zu entscheiden, ob die Kläger Ansprüche auf weiterführende Zahlungen seitens der Beklagten haben oder nicht.

Das Amtsgericht spricht der Klägerin Ausgleichszahlungen i.H.v. EUR 525,00 nebst Zinsen zu. Dieser Betrag errechne sich aus den bisher geleisteten Zahlungen seitens der Beklagten, der mit den Gesamtforderungen der Klägerin zu verrechnen sei. Weil sie einen Teil des Betrages bereits beglichen hatte, könne sich die Beklagte auf Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB berufen. Allerdings habe die Klägerin neben den Ausgleichsansprüchen keine darüber hinausgehenden Ansprüche auf Flugpreisminderung wegen der eingetretenen Flugverspätung; die Verspätung eines Fluges begründet allein keinen Sachmangel der Beförderungsleistung.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 525,00 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.04.2009 zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von EUR 99,66 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Kläger 12 % und die Beklagte 88 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

5. Von der Ausführung des Tatbestandes wird gemäß §§ 313 a Abs. 1, 313 b Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

6. Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.

7. Die Beklagte hat die Hauptforderung in Höhe von EUR 525,00 je Kläger, insgesamt EUR 1050,00, anerkannt.

8. Im Hinblick auf einen Betrag von jeweils EUR 75,00, insgesamt EUR 150,00, war die Hauptforderung indes unbegründet. Die Beklagte hat der aus insgesamt 5 Personen bestehenden Reisegruppe der Kläger vorgerichtlich unstreitig einen Betrag in Höhe von EUR 375,00 erstattet; hierauf entfallen – dies ebenfalls unstreitig – zwei Fünftel, insgesamt EUR 150,00, auf die Kläger. Bezüglich dieses Betrages kann sich die Beklagte auf Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB berufen.

9. Dem steht nicht entgegen, dass dieser Betrag bezüglich einer anerkannten Minderung wegen der Flugverspätung geleistet worden sein soll. Auf der Grundlage einer erklärten Minderung konnten die Kläger die Zahlung des geleisteten Betrages nicht verlangen. Die Kläger haben neben den Ausgleichsansprüchen keinen darüber hinausgehenden Anspruch auf Flugpreisminderung wegen der eingetretenen Flugverspätung; die Verspätung eines Fluges begründet schon keinen Sachmangel der Beförderungsleistung (so auch BGH NJW 2009, 2743 f.).

10. Den Klägern stehen über das Anerkenntnis hinausgehende Forderungen auch nicht deswegen zu, weil ihnen und ihren Mitreisenden infolge der Verspätung Schäden in Höhe von insgesamt EUR 398,50 entstanden sind. Die seitens der Beklagten im Ergebnis vollständig anerkannten Ausgleichsansprüche der Kläger sind jedenfalls auf etwaige diesbezügliche Ersatzansprüche nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (nachstehend „VO“ genannt) anzurechnen.

11. Dies führt dazu, dass von dem behaupteten Schadensersatzanspruch die zu erbringenden Ausgleichsleistungen – hier insgesamt EUR 1200,00 – in Abzug zu bringen sind. Dieser Abzug hat unabhängig davon zu erfolgen, ob der Schadensersatzanspruch die Gesamthöhe der zu gewährenden Ausgleichsleistung übersteigt. Der in Art. 12 Abs. 1 S. 1 VO verwendete Terminus „weitergehend“ ist nicht betragsmäßig zu verstehen, sondern bezieht sich – wie sich aus den anderen Sprachfassungen der Verordnung in der Gesamtschau mit S. 2 dieser Vorschrift deutlicher ergibt (englisch: „further compensation“ / „compensation granted under this Regulation“; französisch: „indemnisation complémentaire“ / „L’indemnisation accordée en vertu du présent règlement“; niederländisch: „verdere compensatie“ / „van deze verordening toegekende compensatie“) – auf einen inhaltlich „weiteren“ und damit unabhängig von der VO bestehenden Schadenersatz. Entsprechendes gilt im Hinblick auf den vorzunehmenden Abzug, der in der deutschen Sprachfassung missverständlich als „Anrechnung“ bezeichnet wird, in den anderen Sprachfassungen aber ausdrücklich als Abzug der Ausgleichsleistung vom (inhaltlich) weitergehenden Schadenersatz benannt ist (englisch: „be deducted“; französisch: „etre deduite“; niederländisch: „in mindering worden gebracht“).

12. Auch aus dem Sinn und Zweck von Art. 12 VO folgt, dass ein Abzug der Ausgleichsleistung vom Schadenersatzanspruch zu erfolgen hat und dass es auf die „Richtung“ der Anrechnung nicht ankommen kann. Dabei ist hinzunehmen, dass der Abzug der Ausgleichsleistung von einem betragsmäßig geringeren Schadenersatz gegebenenfalls zu einem negativen Ergebnis kommt; in diesem Fall ist nur die Ausgleichsleistung zu gewähren. Sollte man anders verfahren und eine Anrechung nach Art. 12 VO nur „in eine Richtung“ bei einem betragsmäßig höheren Schadenersatzanspruch zulassen, wäre es vom bloßen Zufall abhängig, ob die Anrechnung durchzuführen ist oder nicht; bei einem eingetretenen Schaden von EUR 599,00 würde ein Fluggast diesen Betrag sowie eine Ausgleichszahlung von EUR 600,00 erhalten und wäre trotz eines geringeren Schadens und entgegen der Zielrichtung der Norm gegenüber dem Fluggast bevorteilt, der bei einem eingetretenen Schaden von EUR 601,00 aufgrund der durchzuführenden Anrechnung nach Art. 12 VO insgesamt nur diesen Betrag erhalten würde.

13. Hiernach kann es dahinstehen, dass seitens der Kläger zu den Schäden im Einzelnen nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden ist.

14. Die Kläger können auch Ersatz der im Rahmen der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendeten Kosten nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB verlangen. Die Beklagte befand sich spätestens seit dem 04.04.2009 im Verzug; ein Verschulden wird gesetzlich vermutet. Auch ein ersatzfähiger Schaden liegt vor. Die Beklagte hat zwar in substantiierter Weise mit Nichtwissen bestritten, dass die Kläger die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren gezahlt haben und ihnen hieraus ein Schaden entstanden ist.

15. Auf einer Beweisaufnahme kommt es vorliegend jedoch nicht an. Die Belastung der Kläger mit der Gebührenforderung ihrer Prozessvertreter – unabhängig davon, ob diese durch die Kläger gezahlt wurde oder nicht – stellt hier einen ersatzfähigen Schaden im Sinne des § 249 ff. BGB dar. Der anfängliche Anspruch auf Naturalrestitution (Freistellung) nach § 249 BGB ist gemäß § 250 BGB in einen Ersatzanspruch übergegangen, da die Beklagte auf die auch diesbezügliche Fristsetzung des Klägervertreters vom 20.04.2009 nicht geleistet hat.

16. Es kann auch dahinstehen, ob seitens der Prozessbevollmächtigten der Kläger eine ordnungsgemäße Rechnungsstellung erfolgt ist. Die Rechnungsstellung nach § 10 Abs. 1 RVG ist nur für die Einforderbarkeit der Vergütung im Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten maßgeblich und ohne Bedeutung für die Fälligkeit des Anspruchs – insbesondere im Hinblick auf einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch (OLG München, Az. 10 U 2476/06, Beschluss vom 19.07.2006). Wie sich aus § 10 Abs. 3 RVG ergibt, steht eine fehlende Rechnungsstellung einem materiell-rechtlichen Anspruch des Rechtsanwalts nicht entgegen; dieser entsteht bereits mit dem ersten Tätigwerden des Anwalts und wird gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 RVG mit der Erledigung des Auftrags oder der Beendigung der Angelegenheit – unabhängig von einer Rechnungsstellung – fällig.

17. Unerheblich ist schließlich auch, dass die Beklagte die Ansprüche der Kläger vorgerichtlich bereits abgelehnt hatte. Nach Auffassung des erkennenden Gerichts war die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten durch die Kläger aus ex-ante-Sicht zweckmäßig und nicht schlechterdings aussichtslos, da nach allgemeinen Erfahrungssätzen die vorgerichtliche Beauftragung eines Rechtsanwalts auch dann erfolgversprechend ist, wenn die Gegenseite geltend gemachte Ansprüche bereits abgelehnt hatte.

18. Eine Anrechnung der Ausgleichsansprüche auf die Rechtsanwaltskosten findet nicht statt, da diese nur im Hinblick auf weitergehende Schadensersatzansprüche in Betracht kommt, die ihre Ursache im Ergebnis ebenfalls in der Flugverspätung haben, aber ihre Grundlage jenseits der VO finden. Grundlage des Ersatzanspruchs im Hinblick auf die Rechtsverfolgungskosten ist allerdings der eingetretene Verzug der Beklagten und nicht die Flugverspätung selbst.

19. Der Zinsanspruch ab dem 04.04.2009 ist begründet gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 Abs. 1 BGB; im Übrigen ist er unbegründet, da ein Schuldnerverzug vorliegend erst mit dem Ablauf der vom Kläger zu 1) im März 2009 gesetzten Frist eingetreten ist. Schuldnerverzug tritt nicht bereits mit dem anspruchsbegründenden Vorfall selbst ein, § 286 BGB. Weder dem klägerischen Vortrag noch dem klägerischen Schreiben vom März 2009 selbst lässt sich entnehmen, wann die Mahnung erstellt und der Beklagten zugegangen ist.

20. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 1, Nr. 11, 713 ZPO.

21. Die Berufung war gemäß § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, da die Kläger mit nicht mehr als EUR 600,00 beschwert sind, die Rechtssache aber im Hinblick auf die Rechtsfrage der Anrechnung nach Art. 12 VO grundsätzliche Bedeutung hat.

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