Leistungsverweigerung gegenüber HIV-​infizierten Rollstuhlfahrer

LG München: Schmerzensgeldanspruch bei Leistungsverweigerung gegenüber einem HIV-​infizierten Rollstuhlfahrer

Eine Krankenrücktransportversicherung verweigerte einem HIV-kranken Rollstuhlfahrer trotz bescheinigter Transportfähigkeit den Rücktransport aus den USA nach Deutschland, wodurch diesem erheblich Strapazen entstanden.

Das Landgericht München sprach ihm dafür einen Schmerzensgeldanspruch zu. In der Erkrankung sei kein ausreichender Rechtsgrund zur Leistungsverweigerung zu sehen.

LG München 6 S 20960/06 (Aktenzeichen)
LG München: LG München, Urt. vom 09.11.2007
Rechtsweg: LG München, Urt. v. 09.11.2007, Az: 6 S 20960/06
LG München, Urt. v. 16.05.2007, Az: 6 S 20960/06
AG München, Urt. v. 31.10.2006, Az: 241 C 16100/06
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Landgericht München

1. Urteil vom 16. Mai 2007

Aktenzeichen 6 S 20960/06

Leitsatz:

2. Ein Kranker, dem trotz bescheinigter Transportfähigkeit von der Krankenrücktransportversicherung die Rückführung verweigert wird und der bei der Heimreise zusätzliche Strapazen auf sich nehmen muss, hat Anspruch auf Schmerzensgeld.

Zusammenfassung:

3. Ein mit HIV infizierter Mann, der überdies im Rollstuhl sitzt, schloss für die Reise in die USA eine Krankenrücktransportversicherung ab. In der Tat verschlechterte sich im Ausland sein Gesundheitszustand so sehr, dass er sich von einem örtlichen Arzt die für die Heimführung erforderliche Transportfähigkeit bescheinigen ließ und leitete sie an seine Rücktransportversicherung zurück. Obwohl sie sich zunächst als prinzipiell bereit zeigte, wurde die Transportfähigkeit des Patienten in Zweifel gezogen und die Heimführung verweigert. Folglich mühte sich der Kranke ab, allein und auf eigene Kosten zum Flughafen und darüber nach Deutschland zu gelangen, was erhebliche körperliche und seelische Belastungen mit sich brachte.

In zweiter Instanz verurteilte das Landgericht die Versicherung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an den Mann, weil sie ihren vertraglichen Pflichten rechtswidrig nicht nachgekommen war. Durch die schriftliche Bestätigung des ärztlichen Gutachtens zur Reisefähigkeit des Klägers, habe die Beklagte den Transport ausführen müssen.

Eine gegenteilige Einschätzung eigener Gutachter führe nicht zu  einem Leistungsverweigerungsrecht auf Seiten der Beklagten.

Tenor:

4. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts München vom 31.10.2006 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von Euro 2.000,– nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 7.7.2006 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

5. (entfällt gemäß § 540 Absatz 2 ZPO i. V. m. § 313 Absatz 1 Satz 1 ZPO)

Entscheidungsgründe:

I.

6. Die zulässige Berufung ist begründet und führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils sowie einer Verurteilung der Beklagten im vorgenommenen Umfang.

1.

7. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von Euro 2.000,– gemäß §§ 280 Absatz 1, 253 Absatz 2 BGB.

a)

8. Der Beklagten ist eine Verletzung ihrer Pflichten aus dem streitgegenständlichen Krankenrücktransportversicherungsvertrag vorzuwerfen. Gemäß § 12 der Versicherungsbedingungen war die Beklagte verpflichtet, im Falle einer akuten, unerwarteten Erkrankung des Klägers auf einer Reise diesen bei Transportfähigkeit in ein Krankenhaus am Wohnsitz des Versicherungsnehmers zu transportieren. Auf Grund der akuten Erkrankung des Klägers an hohem Fieber und ununterbrochenem Reizhusten lag unstreitig eine Erkrankung im Sinne der Versicherungsbedingungen vor. Soweit die Beklagte auf die erste Kontaktaufnahme des Klägers am 12.5.2005 keine Maßnahmen für einen Rücktransport eingeleitet, sondern den Kläger an das örtliche Krankenhaus verwiesen hatte, kann ihr auch kein Pflichtenverstoß vorgeworfen werden, da der Kläger zu diesem Zeitpunkt die gemäß § 12 Ziffer 5. der Versicherungsbedingungen erforderliche Bescheinigung seiner Transportfähigkeit noch nicht vorlegen konnte. Eine solche Transportfähigkeitsbescheinigung hat der Kläger dann aber am 13.5.2005 von einem am Reiseort niedergelassenen Arzt beigebracht und der Beklagten per Fax übersandt. Dabei bestand zu diesem Zeitpunkt die Verpflichtung der Beklagten für einen Rücktransport des Klägers. Dies wurde offensichtlich auch von der Beklagten zum damaligen Zeitpunkt so gesehen, da die Beklagte nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers sofortige Maßnahmen zur Rückholung des Klägers mit der Begründung ablehnte, die Mietwagenfirma, von der der Kläger ein Fahrzeug angemietet hatte, am Samstag (13.5.2005) nicht erreichen zu können. Die Beklagte war daher durchaus prinzipiell zu einer Rückholung des Klägers bereit.

9. Soweit die Beklagte nunmehr im Prozess die Transportfähigkeit des Klägers auch nach Vorlage der Transportfähigkeitsbescheinigung vom 13.5.2005 bestreitet, ist dieser Vortrag zum einem vor dem Hintergrund des Verweises der Beklagten auf die fehlende Erreichbarkeit der Mietwagenfirma wie auch im Hinblick auf die medizinische Einschätzung des vor Ort tätigen Arztes, der die Transportfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hatte, unsubstantiiert. Die Beklagte begründet ihren Vortrag lediglich mit allgemeinen Erwägungen dahingehend, dass Atemwegserkrankungen ein medizinisches Risiko beim Flug begründen und bei einer HIV-​Erkrankung während einer Schwächung des Körpers generell die Gefahr einer Lungenentzündung besteht. Dies sind zwar durchaus zutreffende medizinische Erwägungen, lassen jedoch keinen Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Situation des Klägers am 13.5.2005 erkennen. Hierfür wäre erforderlich gewesen, dass sich die Beklagte mit der konkreten Diagnose des vor Ort tätigen Arztes auseinandersetzt und substantiiert darstellt, aus welchen Gründen bestimmte Diagnosen falsch sein sollen oder der Rückschluss des vor Ort tätigen Arztes auf eine Transportfähigkeit des Klägers den medizinischen Erkenntnissen widersprechen sollte. Ohne diesen näheren Vortrag stellt die Behauptung der Beklagten, der Kläger sei nicht reisefähig gewesen, eine bloße Behauptung ins Blaue hinein dar. Die von der Beklagten angestellten allgemeinen medizinischen Erwägungen führen nicht durchgehend zu einer Transportunfähigkeit.

10. § 12 Ziffer 2. der Versicherungsbedingungen sieht zwar vor, dass der Rücktransport nach Rücksprache des Arztes der Beklagten mit dem behandelnden Arzt erfolgt, wenn der Arzt der Beklagten danach den Transport medizinisch für sinnvoll und vertretbar erachtet. Hierzu hat die Beklagte auch vorgetragen, ihr Arzt habe einen solchen Rücktransport nicht für medizinisch vertretbar erachtet. Zum einen ist der diesbezügliche Vortrag aber aus den bereits genannten Gründen völlig unsubstantiiert. Des Weiteren fehlt jeglicher Vortrag, dass der Arzt der Beklagten über die bloße Transportfähigkeitsbescheinigung des behandelnden Arztes vor Ort hinaus mit diesem Rücksprache genommen oder von diesem irgendwelche weiteren Unterlagen erhalten hätte. Wenn der Arzt der Beklagten aber auf dieser Entscheidungsgrundlage, die ihn zu keiner abweichenden ärztlichen Beurteilung hätte führen können, die Durchführung eines Rücktransports ablehnt, so ist dies als pflichtwidrig im Sinne der Versicherungsbedingungen zu beurteilen. Dieses Verhalten ihres Arztes muss sich die Beklagte zurechnen lassen, § 278 BGB. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass § 12 Ziffer 2. der Versicherungsbedingungen dem Arzt der Beklagten kein ausschließliches Bestimmungsrecht über die Anordnung eines Rücktransports gewährt, sondern lediglich einen Kontrollmechanismus dahingehend darstellen soll, dass medizinisch nicht vertretbare Transporte – sowohl zum Schutz des Versicherungsnehmers aus medizinischen Gründen wie auch zum Schutz der Beklagten aus haftungsrechtlich Gründen – bei erkennbaren Fehldiagnosen des Arztes vor Ort verhindert werden. Soweit diese Voraussetzungen nicht vorliegen, reduziert sich das Ermessen des Arztes der Beklagten hinsichtlich der Anordnung des Rücktransportes auf null. Eine Anordnung, den Kläger nicht zurück zu transportieren, grenzt bei dieser Sachlage bereits an Verantwortungslosigkeit, auch wenn der damals der Beklagten noch nicht bekannte Umstand, dass ein Verbleiben des Klägers am Reiseort auf Grund des in der Heimat erst festgestellten Tumors bereits nach wenigen Tagen zu einer lebensbedrohlichen Situation für den Kläger geführt hätte, für die Frage der Pflichtwidrigkeit der Beklagten nicht heranzuziehen ist.

b)

11. Der Kläger hat auch durch die Untätigkeit der Beklagten Schmerzen erlitten, die über die normalen Reisestrapazen eines in der Art des Klägers Erkrankten hinausgehen. Er musste die Rückreise von seinem Aufenthaltsort nach Reno (= Rückgabeort des Leihfahrzeugs) auf der Rückbank eines Abschleppwagens verbringen da er selbst nicht fahren konnte, sein Gepäck selbst in das Auto bringen, gegenüber der Leihwagenfirma selbst erklären, dass nicht das Leihfahrzeug beschädigt ist (weil dieses abgeschleppt wurde), sondern der Fahrer erkrankt ist, obwohl der Kläger krankheitsbedingt kaum sprechen konnte. Weiter musste er sein Gepäck selbst in die Flughafenabfertigungshalle in Reno zu bringen, wo ihm lediglich die letzten 100 m ein Mitarbeiter der Leihwagenfirma half. In San Francisco war er gezwungen, sein Gepäck selbst vom Flughafen zum Hotel und am nächsten Tag vom Hotel zum Flughafen bringen, am Flughafen in San Francisco in einer langen Warteschlange zu warten, wo er erst nach einiger Wartezeit bevorzugt behandelt wurde und auch dann erst einen Rollstuhl erhielt. In Frankfurt musste der Kläger ohne Hilfe in das Flugzeug nach Berlin wechseln. Nach Verlust seiner Koffer in Berlin musste der Kläger durch den gesamten Flughafen zur Gepäckermittlungsstelle ohne Rollstuhl. Danach musste er ebenfalls ohne Rollstuhl bis zum Taxi. Diesen Vortrag hat der Kläger in 1. Instanz sowohl in der Klage wie auch in der Replik widerspruchsfrei dargestellt. Lediglich der Vortrag, er habe in Frankfurt ohne Hilfe in das Flugzeug nach Berlin wechseln müssen, variiert in der Replik etwas. Abweichend zur Replik hat der Kläger in der Klageschrift vorgetragen, dass ihm in Frankfurt ein Rollstuhl zur Verfügung stand. Dieser Umstand führt aber noch nicht dazu, die Schilderung des Klägers als unglaubwürdig zu erachten. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Eindruck des Klägers, den dieser im Rahmen seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht gemacht hat. Der Kläger hat seine Ausführungen im Termin vom 16.5.2007 ruhig und ohne große Emotionen, wenn auch – verständlicherweise – nicht völlig emotionslos getätigt. Das Gericht folgt daher den Bekundungen des Klägers, die dieser auch anhand einer mitgebrachten Straßenkarte für Kalifornien anschaulich demonstriert hat. Es ist für das Gericht nachvollziehbar, dass der Kläger durch diese Zusatzbelastungen in seinem ohnehin bereits stark angeschlagenen Gesundheitszustand erhebliche zusätzliche Schmerzen und Belastungen auf sich nehmen musste.

c)

12. Unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände, insbesondere der beim Kläger ausgelösten zusätzlichen Strapazen und dem leichtfertigen Verhalten der Beklagten bei ihrer Entscheidung über eine Rückholung des Klägers war ein Schmerzensgeld in Höhe von Euro 2.000,– als angemessen zu bestimmen. Bei der Bestimmung der Höhe des Schmerzensgeldes war dabei zu berücksichtigen, dass die zusätzlichen Reisestrapazen nur wenige Tage vorhanden waren und die Beurteilung, die aus der Ferne vorgenommen werden musste, nicht leicht war. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die psychische Belastung des Klägers auf Grund seiner HIV-​Infizierung und der damit verbundenen Notwendigkeit einer besonders intensiven medizinischen Betreuung im Krankheitsfall besonders hoch war, kombiniert mit dem Gefühl, von der Beklagten, auf die er sich in derartigen Fällen hätte verlassen können müssen, auf ganzer Linie im Stich gelassen worden zu sein. Der Verweis auf die Schwierigkeiten wegen fehlender Erreichbarkeit der Leihwagenfirma, den der Kläger noch am 13.5.2005 selbst durch Eigeninitiative widerlegen konnte, musste für den Kläger fast wie Hohn wirken.

2.

13. Der Ausspruch zu den Zinsen ergibt sich aus §§ 291, 288 Absatz 1 BGB.

II.

14. Kosten: § 97 ZPO.

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