Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers gegen Fluggesellschaft bei Flugverspätungen seiner Arbeitnehmer

EuGH: Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers gegen Fluggesellschaft bei Flugverspätungen seiner Arbeitnehmer

Eine litauische Behörde forderte Schadensersatz von Air Baltic, weil ihr durch eine Flugverspätung zusätzliche Lohnkosten entstanden waren. Der Europäische Gerichtshof legte das Montrealer Abkommen dahin aus, dass sie schadensersatzberechtigt war.

EuGH C-429/14 (Aktenzeichen)
EuGH: EuGH, Urt. vom 17.02.2016
Rechtsweg: EuGH, Urt. v. 17.02.2016, Az: C-429/14
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Europäischer Gerichtshof

1. Urteil vom 17. Februar 2016

Aktenzeichen C-429/14

Leitsatz:

2. Das Abkommen von Montreal, insbesondere seine Art. 19, 22 und 29, ist dahin auszulegen, dass ein Luftfrachtführer, der einen Vertrag über die internationale Beförderung mit einem Arbeitgeber von als Reisenden beförderten Personen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geschlossen hat, gegenüber diesem Arbeitgeber für den Schaden haftet, der durch die Verspätung von Flügen entstanden ist, die dessen Arbeitnehmer gemäß diesem Vertrag in Anspruch genommen haben, und wodurch dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstanden sind.

Zusammenfassung:

3. Eine litauische Behörde hatte für zwei Mitarbeiter eine Flugreise von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) und Moskau (Russland) nach Baku (Aserbaidschan) am 16.01.2011 gebucht. Aufgrund einer Flugverspätung und infolge verpasstem Anschlussflug verlängerte sich die Geschäftsreise, sodass den Mitarbeitern zusätzliches Gehalt und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt wurden. Deren Erstattung forderte die Behörde vom ausführenden Luftfrachtführer Air Baltic.

Der Klage wurde in zwei Instanzen stattgegeben, schließlich wurde sie dem Obersten Gericht Litauens vorgelegt, welches das Verfahren aussetzte und den Europäischen Gerichtshof anrief, damit er die Frage beantworte, ob das Montrealer Abkommen dahin auszulegen sei, dass Arbeitgebern, die Vertragspartner eines Luftfahrtunternehmens geworden sind, im Falle einer Verspätung Zusatzkosten zu ersetzen sind.

Der Europäische Gerichtshof bejahte die Frage, da das Abkommen davon spreche, dass Fluggesellschaften ihren Kunden Schäden ersetzen mussten, wobei dabei nicht ausschließlich auf Reisende abgestellt wurde.

Tenor:

4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Das Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28. Mai 1999, das mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, insbesondere seine Art. 19, 22 und 29, ist dahin auszulegen, dass ein Luftfrachtführer, der einen Vertrag über die internationale Beförderung mit einem Arbeitgeber von als Reisenden beförderten Personen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geschlossen hat, gegenüber diesem Arbeitgeber für den Schaden haftet, der durch die Verspätung von Flügen entstanden ist, die dessen Arbeitnehmer gemäß diesem Vertrag in Anspruch genommen haben, und wodurch dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstanden sind.

Gründe:

Urteil:

5. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 19, 22 und 29 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen und im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 genehmigt wurde (ABl. L 194, S. 38, im Folgenden: Übereinkommen von Montreal).

6. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Air Baltic Corporation AS (im Folgenden: Air Baltic) und dem Lietuvos Respublikos specialiųjų tyrimų tarnyba (Sonderermittlungsdienst der Republik Litauen, im Folgenden: Sonderermittlungsdienst) wegen des Ersatzes des Schadens, der Letzterem durch die Verspätung von Flügen entstanden ist, auf denen zwei seiner Arbeitnehmer auf Grundlage eines mit Air Baltic geschlossenen Vertrags über die internationale Beförderung von Reisenden befördert wurden.

Rechtlicher Rahmen:

7. Nach dem dritten Absatz der Präambel des Übereinkommens von Montreal erkennen dessen Vertragsstaaten die „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadensersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ an. Im fünften Absatz der Präambel heißt es ferner, dass die Vertragsstaaten „[überzeugt sind], dass gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen das beste Mittel ist, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

8. Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) dieses Übereinkommens enthält Art. 1 („Anwendungsbereich“), der insbesondere Folgendes vorsieht:

9. „(1)  Dieses Übereinkommen gilt für jede internationale Beförderung von Personen, Reisegepäck oder Gütern, die durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt erfolgt. Es gilt auch für unentgeltliche Beförderungen durch Luftfahrzeuge, wenn sie von einem Luftfahrtunternehmen ausgeführt werden.

(2)

10. Als ‚internationale Beförderung‘ im Sinne dieses Übereinkommens ist jede Beförderung anzusehen, bei der nach den Vereinbarungen der Parteien der Abgangsort und der Bestimmungsort, gleichviel ob eine Unterbrechung der Beförderung oder ein Fahrzeugwechsel stattfindet oder nicht, in den Hoheitsgebieten von zwei Vertragsstaaten liegen oder, wenn diese Orte zwar im Hoheitsgebiet nur eines Vertragsstaats liegen, aber eine Zwischenlandung in dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates vorgesehen ist, selbst wenn dieser Staat kein Vertragsstaat ist. …

(3)

11. Ist eine Beförderung von mehreren aufeinander folgenden Luftfrachtführern auszuführen, so gilt sie, gleichviel ob der Beförderungsvertrag in der Form eines einzigen Vertrags oder einer Reihe von Verträgen geschlossen worden ist, bei der Anwendung dieses Übereinkommens als eine einzige Beförderung, sofern sie von den Parteien als einheitliche Leistung vereinbart worden ist; eine solche Beförderung verliert ihre Eigenschaft als internationale Beförderung nicht dadurch, dass ein Vertrag oder eine Reihe von Verträgen ausschließlich im Hoheitsgebiet desselben Staates zu erfüllen ist.

…“

12. Kapitel II („Urkunden und Pflichten der Parteien betreffend die Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern“) dieses Übereinkommens enthält Art. 3 („Reisende und Reisegepäck“), dessen Abs. 5 bestimmt:

13. „Die Nichtbeachtung der Absätze 1 bis 4 berührt weder den Bestand noch die Wirksamkeit des Beförderungsvertrags; dieser unterliegt gleichwohl den Vorschriften dieses Übereinkommens einschließlich derjenigen über die Haftungsbeschränkung.“

14. Kapitel III („Haftung des Luftfrachtführers und Umfang des Schadensersatzes“) dieses Übereinkommens umfasst die Art. 17 bis 37.

15. Art. 19 („Verspätung“) des Übereinkommens von Montreal lautet:

16. „Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht. Er haftet jedoch nicht für den Verspätungsschaden, wenn er nachweist, dass er und seine Leute alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens getroffen haben oder dass es ihm oder ihnen nicht möglich war, solche Maßnahmen zu ergreifen.“

17. Art. 22 („Haftungshöchstbeträge bei Verspätung sowie für Reisegepäck und Güter“) dieses Übereinkommens bestimmt in seinem Abs. 1:

18. „Für Verspätungsschäden im Sinne des Artikels 19 haftet der Luftfrachtführer bei der Beförderung von Personen nur bis zu einem Betrag von 4 150 Sonderziehungsrechten je Reisenden.“

19. Art. 25 („Vereinbarungen über Haftungshöchstbeträge“) dieses Übereinkommens sieht Folgendes vor:

20. „Ein Luftfrachtführer kann sich im Beförderungsvertrag höheren als [den] in diesem Übereinkommen vorgesehenen Haftungshöchstbeträgen unterwerfen oder auf Haftungshöchstbeträge verzichten.“

21. Art. 29 („Grundsätze für Ansprüche“) des Übereinkommens lautet:

22. „Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadensersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadensersatz ausgeschlossen.“

23. Art 33 („Gerichtsstand“) des Übereinkommens von Montreal bestimmt in seinem Abs. 1:

24. „Die Klage auf Schadensersatz muss im Hoheitsgebiet eines der Vertragsstaaten erhoben werden, und zwar nach Wahl des Klägers entweder bei dem Gericht des Ortes, an dem sich der Wohnsitz des Luftfrachtführers, seine Hauptniederlassung oder seine Geschäftsstelle befindet, durch die der Vertrag geschlossen worden ist, oder bei dem Gericht des Bestimmungsorts.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen:

25. Der Sonderermittlungsdienst kaufte über ein Reisebüro Flugtickets, die zweien seiner Arbeitnehmer ermöglichen sollten, für geschäftliche Zwecke von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) und Moskau (Russland) nach Baku (Aserbaidschan) zu reisen. Dabei war vorgesehen, dass die betroffenen Arbeitnehmer Vilnius am 16. Januar 2011 um 9.55 Uhr verlassen und am selben Tag um 22.40 Uhr in Baku ankommen würden. Außerdem war vorgesehen, dass die Flüge zwischen Vilnius, Riga und Moskau von Air Baltic durchgeführt werden würden.

26. Die Arbeitnehmer des Sonderermittlungsdienstes verließen Vilnius zu den vorgesehenen Zeiten und kamen plangemäß in Riga an. Ihr Anschlussflug hingegen hob verspätet von Riga ab und kam in Moskau mit Verspätung an. Sie konnten daher den Flug, den sie in der Folge für die Verbindung zwischen Moskau und Baku nehmen sollten, nicht nutzen. Deshalb buchte Air Baltic sie auf einen anderen Flug um, der Moskau an dem Tag, der auf den vorgesehenen Tag folgte, verließ und an diesem Tag in Baku ankam.

27. Da die Verspätung von mehr als 14 Stunden, mit der die Betroffenen ihr endgültiges Ziel erreichten, zu einer Verlängerung ihrer Geschäftsreise geführt hatte, bezahlte ihnen der Sonderermittlungsdienst gemäß der litauischen Regelung zusätzliche Reisekosten und Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 1 168,35 litauischen Litas (LTL) (ca. 338 Euro). Der Dienst machte anschließend eine Schadensersatzforderung in Höhe dieses Betrags gegen Air Baltic geltend, die sich weigerte, dieser Forderung nachzukommen.

28. In Anbetracht dieser Umstände erhob der Sonderermittlungsdienst beim Vilniaus miesto 1-​asis apylinkės teismas (Erstes Bezirksgericht der Stadt Vilnius) Klage mit dem Antrag, Air Baltic zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 1 168,35 LTL (ca. 338 Euro) zu verurteilen. Mit Urteil vom 30. November 2012 gab dieses Gericht der Klage statt.

29. Air Baltic erhob beim Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) Berufung gegen dieses Urteil. Dieses wies die Berufung zurück und bestätigte mit Urteil vom 7. November 2013 die angefochtene Entscheidung.

30. Daraufhin legte Air Baltic beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof Litauens) Kassationsbeschwerde ein.

31. Im Rahmen dieser Beschwerde macht Air Baltic geltend, dass sich eine juristische Person, wie der Sonderermittlungsdienst, nicht auf die in Art. 19 des Übereinkommens von Montreal vorgesehene Haftung des Luftfrachtführers berufen könne. Sie bringt im Wesentlichen vor, dass diese Haftung nur gegenüber Reisenden selbst und nicht gegenüber anderen Personen gelte, und zwar erst recht, wenn diese keine natürlichen Personen seien und daher nicht als Verbraucher angesehen werden könnten.

32. Der Sonderermittlungsdienst trägt im Wesentlichen vor, dass die Haftung des Luftfrachtführers nach Art. 19 des Übereinkommens gegenüber einer Person gelte, die, wie dieser Dienst, zum einen Partei eines mit einem Luftfrachtführer geschlossenen Vertrags über die internationale Beförderung von Reisenden sei und zum anderen durch die Verspätung einen Schaden erlitten habe.

33. Unter diesen Umständen hat der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

34. Sind die Art. 19, 22 und 29 des Übereinkommens von Montreal dahin zu verstehen und auszulegen, dass ein Luftfrachtführer gegenüber Dritten, u. a. gegenüber dem Arbeitgeber der Reisenden (einer juristischen Person, mit der ein Vertrag über die internationale Beförderung von Reisenden geschlossen wurde), für den Schaden haftet, der auf die Verspätung eines Fluges zurückzuführen ist, durch die dem Kläger (dem Arbeitgeber) zusätzliche Kosten im Zusammenhang mit der Verspätung entstanden sind (beispielsweise die Bezahlung von Reisekosten)?

2.

35. Falls die erste Frage zu verneinen ist: Ist Art. 29 des Übereinkommens von Montreal dahin zu verstehen und auszulegen, dass solche Dritte das Recht haben, auf anderen Grundlagen, beispielsweise unter Berufung auf nationales Recht, Ansprüche gegen den Luftfrachtführer geltend zu machen?

Zu den Vorlagefragen:

Zur ersten Frage

36. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Übereinkommen von Montreal, insbesondere seine Art. 19, 22 und 29, dahin auszulegen ist, dass ein Luftfrachtführer, der einen Vertrag über die internationale Beförderung mit einem Arbeitgeber von als Reisenden beförderten Personen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geschlossen hat, für den Schaden haftet, der durch die Verspätung von Flügen entstanden ist, die dessen Arbeitnehmer gemäß diesem Vertrag in Anspruch genommen haben, und wodurch dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstanden sind.

37. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Übereinkommen von Montreal am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und am 5. April 2001 in ihrem Namen vom Rat der Europäischen Union genehmigt wurde. Dieses Übereinkommen ist für die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten.

38. Daraus folgt, dass die Vorschriften des Übereinkommens von Montreal seit diesem Inkrafttreten integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und dass der Gerichtshof daher dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteile IATA und ELFAA, C-​344/04, EU:C:2006:10, Rn. 36, sowie Walz, C-​63/09, EU:C:2010:251, Rn. 20). Dieses Übereinkommen wurde in englischer, arabischer, chinesischer, spanischer, französischer und russischer Sprache verfasst, wobei alle diese sechs Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind.

39. Hinsichtlich dieser Auslegung ist hervorzuheben, dass ein völkerrechtlicher Vertrag nach ständiger Rechtsprechung anhand seines Wortlauts und im Licht seiner Ziele auszulegen ist. Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, mit dem Regeln des allgemeinen Völkerrechts kodifiziert werden, an die die Union gebunden ist, stellt insoweit klar, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile IATA und ELFAA, C-​344/04, EU:C:2006:10, Rn. 40, sowie Walz, C-​63/09, EU:C:2010:251, Rn. 23).

40. In der Sache ist darauf hinzuweisen, dass Art. 29 des Übereinkommens von Montreal, der die Ansprüche betrifft, vorsieht, dass bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern ein Anspruch auf Schadensersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht – sei es das Übereinkommen selbst, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund –, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden kann, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadensersatz ausgeschlossen.

41. Somit ist für die Frage, ob eine Schadensersatzklage erhoben werden kann, die auf die Haftung des Luftfrachtführers nach dem Übereinkommen von Montreal gestützt wird, vorab zu prüfen, ob ein Schaden wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, dessentwegen diese Haftung geltend gemacht wird, diesem Übereinkommen unterliegt.

42. Hierzu ergibt sich aus Art. 19 des Übereinkommens von Montreal, dass dem Luftfrachtführer die allgemeine Verpflichtung obliegt, jeden „Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht“.

43. Dieser Artikel beschreibt den im Fall einer Verspätung zu ersetzenden Schaden anhand des schadensbegründenden Ereignisses, enthält jedoch keinerlei Angabe über die Person, der ein solcher Schaden entstanden sein kann.

44. Daher ist festzustellen, dass Art. 19 des Übereinkommens von Montreal, obschon er nicht ausdrücklich die Haftung eines Luftfrachtführers gegenüber einem Arbeitgeber wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Fall eines Schadens vorsieht, der durch die Verspätung von Flügen entstanden ist, die im Rahmen eines Vertrags über die internationale Beförderung zwischen dem Arbeitgeber und dem Frachtführer durchgeführt wurden, dahin ausgelegt werden kann, dass er nicht nur auf den Schaden Anwendung findet, der einem Reisenden entstanden ist, sondern auch auf jenen, den dieser Arbeitgeber erlitten hat.

45. Unter Berücksichtigung der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist zu ermitteln, ob eine solche am Wortlaut von Art. 19 des Übereinkommens von Montreal orientierte Auslegung durch den Zusammenhang, in dem dieser Artikel steht, und durch die von diesem Übereinkommen verfolgten Zwecke bestätigt wird.

46. Hierzu ist erstens festzustellen, dass Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal in seiner französischen Sprachfassung den Begriff des Schadens, der durch Verspätung entsteht, zum Zweck der Beschränkung der Haftung des Luftfrachtführers zwar auf den bloßen Schaden „bei der Beförderung von Personen“ eingrenzt.

47. Diese Bestimmung verweist jedoch ausdrücklich auf Art. 19 des Übereinkommens von Montreal, so dass sie nicht dahin verstanden werden kann, dass sie den Begriff des Schadens anders definiert, als er in diesem Artikel definiert wird.

48. Außerdem unterscheiden sich die Fassungen von Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal in der englischen, der spanischen und der russischen Sprache von der französischen Sprachfassung, weil erstere auf den Verspätungsschaden („damage caused by delay“, „daño causado por retraso“ und „вред, причиненный при перевозке лиц в результате задержки“) Bezug nehmen, ohne einen solchen Schaden allein auf den zu beschränken, den Reisende erlitten haben.

49. Die Lektüre von Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal in seinen verschiedenen verbindlichen Sprachfassungen vermag daher die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils enthaltene Auslegung zu stützen.

50. Zweitens ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, der dessen Anwendungsbereich festlegt, dass dieses Übereinkommen für jede internationale Beförderung von Personen, Reisegepäck oder Gütern gilt, die durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt erfolgt.

51. Diese Bestimmung beschränkt sich also darauf, Personen generell in ihrer Eigenschaft als Reisende zu erfassen, die, wie Reisegepäck und Güter, im internationalen Luftverkehr befördert werden.

52. Sie bestimmt hingegen nicht die Personen, die für die Beförderung von Reisegepäck, Gütern oder Reisenden die Dienste eines internationalen Luftfrachtführers in Anspruch nehmen und denen hieraus ein Schaden entstehen kann.

53. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal im Licht des dritten Absatzes seiner Präambel auszulegen ist, der die Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr hervorhebt, wobei der Begriff „Verbraucher“ im Sinne dieses Übereinkommens nicht zwangsläufig mit dem des „Reisenden“ zusammenfällt, sondern je nach Fall Personen umfasst, die nicht selbst befördert werden und daher keine Reisenden sind.

54. In Anbetracht dieses Ziels kann der Umstand, dass im Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal nicht auf Personen Bezug genommen wird, die die Dienste eines internationalen Luftfrachtführers in Anspruch nehmen, um ihre Angestellten als Reisende befördern zu lassen, nicht dahin verstanden werden, dass er diese Personen, und folglich die Schäden, die ihnen hieraus möglicherweise entstehen, vom Anwendungsbereich dieses Übereinkommens ausschließt.

55. Damit ergibt sich aus einer Analyse von Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, dass Schäden, die diese Personen erleiden, in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fallen können.

56. Drittens und letztens ergibt sich aus mehreren übereinstimmenden Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal, dass dieses einen Zusammenhang zwischen der Haftung des Luftfrachtführers einerseits und dem Bestand eines zwischen einem solchen Luftfrachtführer und einer anderen Partei geschlossenen Vertrags über die internationale Beförderung andererseits herstellt, ohne dass es für die Haftung des Frachtführers aufgrund dieses Vertrags von besonderer Bedeutung wäre, ob diese andere Partei selbst ein Reisender ist oder nicht.

57. So bezieht sich Art. 1 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal zur Bestimmung des Begriffs der internationalen Beförderung auf die „Vereinbarungen der Parteien“ über den Abgangsort und den Bestimmungsort einer solchen Beförderung, was darauf schließen lässt, dass diese in einem vertraglichen Rahmen durchgeführt werden soll.

58. Zudem ergibt sich, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils dargelegt wurde, aus Art. 29 des Übereinkommens von Montreal, dass ein Anspruch auf Schadensersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden kann, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind, sofern sich der Luftfrachtführer nicht gemäß Art. 25 dieses Übereinkommens im Vertrag einem höheren Haftungshöchstbetrag unterworfen oder auf einen solchen verzichtet hat.

59. Des Weiteren legt Art. 33 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal fest, dass eine solche Klage neben den anderen dem Kläger offenstehenden Möglichkeiten bei dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem sich die Geschäftsstelle des Luftfrachtführers befindet, durch die der Vertrag geschlossen worden ist.

60. Schließlich sieht Art. 3 Abs. 5 dieses Übereinkommens vor, dass die Nichtbeachtung der spezifischen Informationspflicht und der Pflicht zur Aushändigung von Urkunden, die diese Bestimmung dem Luftfrachtführer im Rahmen einer internationalen Personenbeförderung auferlegt, weder den Bestand noch die Wirksamkeit des Vertrags berührt; dieser unterliegt gleichwohl den Vorschriften dieses Übereinkommens einschließlich derjenigen über die Haftungsbeschränkung.

61. Aus alledem ergibt sich, dass Art. 19 des Übereinkommens von Montreal unter Berücksichtigung seines Wortlauts und des Zusammenhangs, in dem er steht, sowie des von diesem Übereinkommen verfolgten Ziels des Schutzes der Verbraucherinteressen dahin auszulegen ist, dass er nicht nur auf den Schaden anzuwenden ist, den ein Reisender erlitten hat, sondern auch auf den Schaden, den eine Person in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber erlitten hat, die mit einem Luftfrachtführer einen Vertrag über die internationale Beförderung geschlossen hat, dessen Gegenstand die Beförderung von Reisenden ist, die ihre Arbeitnehmer sind.

62. Wie sich aus Rn. 12 des vorliegenden Urteils ergibt, hat im Ausgangsverfahren die in Rede stehende Person jedoch eine Klage auf Ersatz eines Schadens erhoben, der ihr durch die Verspätung eines auf Grundlage eines Vertrags über die internationale Beförderung durchgeführten Fluges entstanden war, der die Beförderung nicht nur eines, sondern zweier bei ihr angestellter Reisender zum Gegenstand hatte. In einer solchen Situation kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Betrag des von dieser Person geltend gemachten Schadensersatzes höher ist als der, der von jedem einzelnen betroffenen Reisenden hätte geltend gemacht werden können, wenn jeder für sich genommen eine Klage auf Schadensersatz erhoben hätte.

63. In Anbetracht der in Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal vorgesehenen Beschränkung der Haftung des Luftfrachtführers „je Reisenden“ ist daher zu prüfen, ob die Auslegung von Art. 19 dieses Übereinkommens, wie sie in Rn. 46 des vorliegenden Urteils dargelegt wurde, nicht dadurch in Frage gestellt werden kann, dass die Vertragsparteien dieses Übereinkommens mit seinem Abschluss auch einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen erreichen wollten, wie dies aus dem fünften Absatz der Präambel des Übereinkommens hervorgeht.

64. Aus dem Erfordernis der Haftungsbeschränkung „je Reisenden“ folgt indes, dass die Höhe des Schadensersatzes, der einer Person wie der des Ausgangsverfahrens, die eine Klage auf Ersatz eines durch Verspätung bei der internationalen Beförderung von Reisenden entstandenen Schadens erhebt, zuerkannt werden kann, jedenfalls nicht den Betrag überschreiten darf, den sie durch Multiplikation der in Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal festgelegten Höchstgrenze mit der Anzahl der Reisenden, die auf der Grundlage des zwischen dieser Person und dem oder den betroffenen Luftfrachtführern geschlossenen Vertrags befördert wurden, erhalten hätte.

65. Ein solcher Schadensersatz kann einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen sicherstellen. Personen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende werden im Hinblick auf die in Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal vorgesehene Haftungsbeschränkung nämlich weder schlechter noch besser gestellt als Reisende, die aufgrund der Verspätung selbst einen Schaden erlitten haben.

66. Umgekehrt wird den Luftfrachtführern garantiert, dass sie nicht über die in dieser Bestimmung festgelegte Haftungsbeschränkung „je Reisenden“ hinaus haften, weil der diesen Personen zuerkannte Schadensersatz, wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils dargelegt wurde, keinesfalls die Gesamtsumme der Schadensersatzleistungen übersteigen darf, die den betroffenen Reisenden zuerkannt werden könnten, wenn jeder für sich genommen eine Klage erhöbe.

67. Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Übereinkommen von Montreal, insbesondere seine Art. 19, 22 und 29, dahin auszulegen ist, dass ein Luftfrachtführer, der einen Vertrag über die internationale Beförderung mit einem Arbeitgeber von als Reisenden beförderten Personen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geschlossen hat, gegenüber diesem Arbeitgeber für den Schaden haftet, der durch die Verspätung von Flügen entsteht, die dessen Arbeitnehmer gemäß diesem Vertrag in Anspruch genommen haben, und wodurch dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstanden sind.

Zur zweiten Frage

68. Mit seiner zweiten Frage, die für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitgeber wie der des Ausgangsverfahrens das Recht hat, auf anderen Grundlagen als diesem Übereinkommen, insbesondere unter Berufung auf nationales Recht, Ansprüche gegen den Luftfrachtführer geltend zu machen.

69. In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht diese zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten:

70. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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