Abhandengekommene Gepäckstücke

EuGH: Abhandengekommene Gepäckstücke

Ein Reisender verklagt das ihn befördernde Luftfahrtunternehmen auf Schadensersatz. Für die Dauer des Fluges hatte er sein Gepäck in dem Koffer eines Mitreisenden verstaut. Weil dieser Koffer abhanden kam, verlangt nun auch der Kläger hierfür eine Entschädigung in Geld.

Der Europäische Gerichtshof hat dem Kläger Recht zugesprochen. Nach den Grundsätzen des Montrealer Übereinkommens erstrecke sich die Ersatzpflicht der Airline auch auf Gepäckstücke im Koffer eines Mitreisenden.

EuGH C-410/11 (Aktenzeichen)
EuGH: EuGH, Urt. vom 22.11.2012
Rechtsweg: EuGH, Urt. v. 22.11.2012, Az: C-410/11
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Europäischer Gerichtshof

1. Urteil vom 22.11.2012

Aktenzeichen: C-410/11

Leitsatz:

2. Kommen Gepäckstücke des Reisenden, welche dieser im Koffer eines Mitreisenden untergebracht hat, abhanden, so steht ihm ein Schadensersatz zu, wenn der betroffene Koffer abhanden kommt.

Zusammenfassung:

3. Eine Gruppe von Reisenden buchte bei einem Luftfahrtunternehmen einen Linienflug. Um Kosten bei der Gepäckaufgabe zu sparen, verstauten zwei der vier Mitreisenden ihr Gepäck in den Koffern der anderen. Als einer dieser Koffer schließlich abhanden kommt, verlangen sowohl der Eigentümer des Koffers, als auch der Fluggast, der lediglich seine Kleidung in den Koffer gelegt hatte, Schadensersatz von der Airline.

Während die Beklagte dem Begehren des Koffereigentümers nachkommt, verweigert sie die Zahlung für den Kläger.

Der Europäische Gerichtshof hat dem Kläger Recht zugesprochen. Gemäß Art. 17 des Montrealer Übereinkommens hat der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht.
Diese Bestimmung ist nach Art. 31 dieses Übereinkommens nach Treu und Glauben und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen.

So kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Luftfrachtführer für jedes an Bord befindliche Gepäckstück, unabhängig von seiner vorherigen Anmeldung, Sorge zu tragen habe. Die Frage nach einer vorherigen Aufgabe beim Flughafenpersonal könne für die Entscheidung zur Schadensersatzzahlung nicht von Bedeutung sein.

Tenor:

4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 22 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und mit Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass der Anspruch auf Entschädigung und die Haftungsbegrenzung des Luftfrachtführers bei Verlust von Reisegepäck auch für den Reisenden gelten, der diese Entschädigung für den Verlust eines Gepäckstücks fordert, das von einem Mitreisenden aufgegeben wurde, sofern dieses verloren gegangene Gepäckstück tatsächlich Gegenstände des Reisenden enthielt.

Gründe:

5. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 22 Abs. 2 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und mit Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. L 194, S. 39) in ihrem Namen genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal).

6. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Espada Sánchez, Frau Oviedo Gonzáles und ihren beiden minderjährigen Kindern Lucía und Pedro einerseits und der Fluggesellschaft Iberia Líneas Aéreas de España SA (im Folgenden: Iberia) andererseits über den Schaden, der durch den Verlust von aufgegebenem Reisegepäck bei einer von dieser Gesellschaft durchgeführten Beförderung im Luftverkehr.

7. Art. 3 („Reisende und Reisegepäck“) Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal bestimmt:

8. „Der Luftfrachtführer hat dem Reisenden für jedes aufgegebene Gepäckstück einen Beleg zur Gepäckidentifizierung auszuhändigen.“

9. Art. 17 („Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) dieses Übereinkommens sieht in Abs. 2 und 4 vor:

10. „Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht, jedoch nur, wenn das Ereignis, durch das die Zerstörung, der Verlust oder die Beschädigung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder während eines Zeitraums eingetreten ist, in dem sich das aufgegebene Reisegepäck in der Obhut des Luftfrachtführers befand. Der Luftfrachtführer haftet jedoch nicht, wenn und soweit der Schaden auf die Eigenart des Reisegepäcks oder einen ihm innewohnenden Mangel zurückzuführen ist. Bei nicht aufgegebenem Reisegepäck, einschließlich persönlicher Gegenstände, haftet der Luftfrachtführer, wenn der Schaden auf sein Verschulden oder das Verschulden seiner Leute zurückzuführen ist.

11. Vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen bezeichnet in diesem Übereinkommen der Begriff ‚Reisegepäck‘ sowohl aufgegebenes als auch nicht aufgegebenes Reisegepäck.“

12. Art. 22 des Übereinkommens, der die „Haftungshöchstbeträge bei Verspätung sowie für Reisegepäck und Güter“ festlegt, bestimmt in der hier maßgeblichen Fassung in Abs. 2:

13. „Bei der Beförderung von Reisegepäck haftet der Luftfrachtführer für Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung nur bis zu einem Betrag von 1 000 Sonderziehungsrechten je Reisenden; diese Beschränkung gilt nicht, wenn der Reisende bei der Übergabe des aufgegebenen Reisegepäcks an den Luftfrachtführer das Interesse an der Ablieferung am Bestimmungsort betragsmäßig angegeben und den verlangten Zuschlag entrichtet hat. In diesem Fall hat der Luftfrachtführer bis zur Höhe des angegebenen Betrags Ersatz zu leisten, sofern er nicht nachweist, dass dieser höher ist als das tatsächliche Interesse des Reisenden an der Ablieferung am Bestimmungsort.“

Unionsrecht:

14. Das Übereinkommen von Montreal ist für die Gemeinschaft am 28. Juni 2004 in Kraft getreten.

15. Der erste Erwägungsgrund des Beschlusses 2001/539 lautet:

16. „Die Luftfahrtunternehmen der Europäischen Gemeinschaft sollten ihre Beförderungen nach klaren und einheitlichen Regeln für die Haftung im Schadensfall erbringen; diese Regeln sollten die gleichen sein, die auch für Drittlandsunternehmen gelten.“

17. Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. L 140, S. 2) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) bestimmt:

18. „Diese Verordnung setzt die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr um und trifft zusätzliche Bestimmungen. …“

19. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 lautet:

20. „Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.

21. Im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 889/2002 heißt es, dass durch „einheitliche, für alle Beförderungen durch Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft geltende Haftungshöchstbeträge für Verlust, Beschädigung oder Zerstörung von Reisegepäck sowie für Schäden, die durch Verspätung entstehen, … sichergestellt [wird], dass sowohl für die Fluggäste als auch für die Luftfahrtunternehmen einfache und klare Regeln gelten und dass der Fluggast erkennen kann, wann er eine zusätzliche Versicherung benötigt“.

Zu den Vorlagefragen:

22. Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 22 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass der Anspruch auf Entschädigung und die Haftungsbegrenzung des Luftfrachtführers bei Verlust von Reisegepäck auch für den Reisenden gelten, der Entschädigung wegen Verlusts eines Gepäckstücks fordert, das von einem Mitreisenden aufgegeben wurde.

23. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal gelten.

24. Für die Bestimmungen dieses Übereinkommens seit dessen Inkrafttreten ein wesentlicher Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind, ist der Gerichtshof zur Vorabentscheidung über dessen Auslegung befugt, unter Beachtung der Auslegungsregeln des allgemeinen Völkerrechts, an die die Union gebunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Brita, C-386/08, Slg. 2010, I-1289, Randnrn. 39 bis 42, und vom 6. Mai 2010, Walz, C-63/09, Slg. 2010, I-4239, Randnrn. 20 und 22 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

25. Zu letzterem Punkt hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 zwar weder die Gemeinschaft noch alle Mitgliedstaaten bindet, dass es jedoch die Regeln des Völkergewohnheitsrechts wiedergibt, die als solche die Organe der Union binden und Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind (vgl. Urteil Brita, Randnr. 42).

26. Gemäß Art. 31 dieses Übereinkommens ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen (Urteil vom 15. Juli 2010, Hengartner und Gasser, C-70/09, Slg. 2010, I-7233, Randnr. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil Walz, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27. Aus Art. 17 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal ergibt sich, dass der Luftfrachtführer insbesondere den Schaden zu ersetzen hat, der durch Verlust von Reisegepäck entsteht. Art. 22 Abs. 2 dieses Übereinkommens bestimmt u. a., dass der Luftfrachtführer bei „der Beförderung von Reisegepäck … für … Verlust … nur bis zu einem Betrag von 1 000 [SZR] je Reisenden“ haftet.

28. Aus den in der vorstehenden Randnummer angeführten Bestimmungen geht zum einen hervor, dass der durch den Verlust von Reisegepäck entstandene Schaden die Haftung des Luftfrachtführers auslöst, und zum anderen, dass der Reisende in den dort festgelegten Grenzen Anspruch auf Ersatz des entstandenen Schadens hat.

29. Ferner ergibt sich aus Art. 17 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal, dass der Luftfrachtführer für den Verlust des gesamten – sowohl des aufgegebenen als auch des nicht aufgegebenen – Gepäcks der Reisenden haftet. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass in Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal der Begriff „Reisegepäck“ verwendet wird, der nach Art. 17 Abs. 4 des Übereinkommens vorbehaltlich entgegenstehender Bestimmungen „sowohl aufgegebenes als auch nicht aufgegebenes Reisegepäck“ bezeichnet.

30. Diese Auslegung wird nicht durch Art. 3 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal in Frage gestellt, wonach „der Luftfrachtführer … dem Reisenden für jedes aufgegebene Gepäckstück einen Beleg zur Gepäckidentifizierung auszuhändigen“ hat. Entgegen dem Vorbringen von Iberia und der Europäischen Kommission erlegt diese Bestimmung, wie die deutsche Regierung zutreffend geltend gemacht hat, dem Luftfrachtführer lediglich eine Verpflichtung zur Identifizierung des aufgegebenen Gepäcks auf. Aus ihr lässt sich nicht herleiten, dass der Anspruch auf Entschädigung bei Verlust von Reisegepäck und die entsprechende Haftungsbegrenzung, die in Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens vorgesehen sind, nur für Reisende gelten, die mindestens ein Gepäckstück aufgegeben haben.

31. Die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal sind daher zusammen betrachtet dahin auszulegen, dass der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen hat, der einem Reisenden durch den Verlust eines von einem Mitreisenden, der denselben Flug genommen hat, aufgegebenen Gepäckstücks entsteht, sofern sich in diesem verloren gegangenen Gepäckstück Gegenstände des Reisenden befunden haben, deren Verlust den ihm entstandenen Schaden begründet. Folglich räumt das Übereinkommen von Montreal nicht nur dem Reisenden, der sein eigenes Reisegepäck individuell aufgegeben hat, sondern auch dem Reisenden, dessen Gegenstände sich in dem von einem Mitreisenden, der denselben Flug genommen hat, aufgegebenen Reisegepäck befunden haben, bei Verlust dieser Gegenstände einen individuellen Anspruch auf Schadensersatz nach den Modalitäten des Art. 17 Abs. 2 Satz 1 des Übereinkommens und in den Grenzen des Art. 22 Abs. 2 des Übereinkommens ein.

32. Dieses Ergebnis wird durch die Ziele bestätigt, die mit dem Abschluss des Übereinkommens von Montreal verfolgt wurden.

33. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im dritten Absatz der Präambel des Übereinkommens die „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadensersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ anerkannt wird. Diese beiden Ziele würden jedoch zwangsläufig in Frage gestellt, wenn ein Reisender, dessen Gegenstände sich im Reisegepäck befunden haben, das ein Mitreisender, der denselben Flug genommen hat, aufgegeben hat, selbst keinen Ersatz des durch ihren Verlust entstandenen Schadens erlangen könnte.

34. Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 22 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass der Anspruch auf Entschädigung und die Haftungsbegrenzung des Luftfrachtführers bei Verlust von Reisegepäck auch für den Reisenden gelten, der diese Entschädigung für den Verlust eines Gepäckstücks fordert, das von einem Mitreisenden aufgegeben wurde, sofern dieses verloren gegangene Gepäckstück tatsächlich Gegenstände des Reisenden enthielt.

Kosten:

35. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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