Reisevertrag und Reaktorunfall

BGH: Reisevertrag und Reaktorunfall

In Folge eines Reaktorunfalls kündigt ein Urlauber seine gebuchte Reise noch vor deren Beginn. Der beauftragte Reiseveranstalter verlangt nun den Ersatz der bereits Erfolgten Anzahlung an das Hotel sowie eine Stornopauschale. Der Urlauber weigert sich der Zahlung.

Der Bundesgerichtshof hat dem Kläger teilweise Recht zugesprochen. Im Sinne von §651j BGB sei sowohl das Risiko, als auch die anfallenden Kosten, zu gleichen Teilen zwischen den Parteien aufzuteilen.

BGH VII ZR 60/89 (Aktenzeichen)
BGH: BGH, Urt. vom 23.11.1989
Rechtsweg: BGH, Urt. v. 23.11.1989, Az: VII ZR 60/89
OLG Karlsruhe, Urt. v. 30.12.1988, Az: 13 U 155/87
LG Freiburg, Urt. v. 27.05.1987, Az: 1 O 721/86
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Bundesgerichtshof

1. Urteil vom 23. November 1989

Aktenzeichen: VII ZR 60/89

Leitsätze:

2. Der Reaktorunfall in Tschernobyl vom 25./26. April 1986 ist nicht vorhersehbare höhere Gewalt im Sinne des BGB § 651j Abs 1, die zur Kündigung einer vom 4. bis 9. Mai 1986 für eine Schulklasse gebuchten Reise nach Prag berechtigte.

Zum Anspruch des Reiseveranstalters auf Ersatz von Hotel-​Stornokosten, wenn der Reisende den Reisevertrag vor Reisebeginn wegen nicht vorhersehbarer höherer Gewalt kündigt.

Zusammenfassung:

3. Ein Urlauber buchte bei einem privaten Reiseveranstalter einen Hotelaufenthalt. Als sich zwei Wochen vor Reiseantritt der Reaktorunfall in Tschernobyl ereignete, kündigte der Urlauber seine Reise.

Der Veranstalter verlangt nun die Rückzahlung der von ihm geleisteten Anzahlung an das Hotel sowie eine Stornopauschale von dem Beklagten. Dieser weigert sich der Zahlung, da es ihm weder zugemutet werden könne den Urlaub in Anspruch zu nehmen, noch für nicht in Anspruch genommene Leistungen zahlen zu müssen.

Der Bundesgerichtshof hat dem klagenden Reiseveranstalter teilweise Recht zugesprochen. Unstreitig liege in der durch die atomare Katastrophe verursachten Gefahr ein Kündigungsgrund zugunsten des Reisenden. Der Unfall sei für beide Seiten nicht vorhersehbar oder zu kontrollieren gewesen und in der Folge als Akt höherer Gewalt einzustufen.

Als solcher gelten für ihn die Rückabwicklungsregelungen von §651j BGB. Hiernach seien beide Seiten zur einseitigen Kündigung des Reisevertrags berechtigt. Die Risiko- und Kostenverteilung tragen beide Parteien zu gleichen Teilen. Entsprechend habe der Beklagte dem Reiseveranstalter 50% der angefallenen Kosten zu ersetzen.

Tatbestand:

4. Dr. S., Lehrer des W.-​E.-​Gymnasiums in F., buchte bei dem Kläger – einem Omnibusreiseunternehmer – für die Zeit vom 4. bis 9. Mai 1986 eine Klassenfahrt nach Prag. Am 3. Mai 1986 teilte er dem Kläger mit, das zuständige Ministerium des beklagten Landes habe aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl vom 25./26. April 1986 angeordnet, von der Reise abzusehen. Die Klassenfahrt wurde daraufhin nicht durchgeführt.

5. Der Kläger, der sämtliche Reiseleistungen der geplanten Reise erbringen sollte, verlangte mit der Klage Ersatz bezahlter Stornogebühren für Hotelkosten in Höhe von 5.123,20 DM sowie erbrachter Auslagen für beantragte Visa und ausgehändigte Fachliteratur in Höhe von insgesamt 1.262,02 DM, jeweils nebst Zinsen.

6. Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 1.262,02 DM nebst Zinsen stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers, mit der er die Verurteilung des beklagten Landes zur Zahlung weiterer 5.123,20 DM nebst Zinsen erstrebte, zurückgewiesen. Mit der – zugelassenen – Revision, die das beklagte Land zurückzuweisen bittet, verfolgt der Kläger den Anspruch auf Ersatz der verauslagten Stornokosten weiter.

Entscheidungsgründe:

7. Das Berufungsgericht nimmt an, aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl habe der Reisevertrag gemäß § 651j BGB gekündigt werden können. Nicht entscheidend sei, wie sich aus heutiger Sicht die tatsächliche Gefahr einer erhöhten Strahlenbelastung in der CSSR darstelle. Vielmehr sei auf den damals verfügbaren Informationsstand abzustellen. Zur Zeit der vorgesehenen Reise seien von den tschechischen Behörden weder Werte über die Strahlenbelastung in der CSSR bekannt gegeben noch irgendwelche Vorsorgemaßnahmen empfohlen worden. Über die mit der geplanten Reise verbundenen Gefahren habe somit große Ungewißheit bestanden.

8. Dagegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.

9. Nach § 651j BGB können sowohl der Reiseveranstalter als auch der Reisende den Vertrag kündigen, wenn die Reise infolge bei Vertragsschluß nicht voraussehbarer höherer Gewalt erheblich erschwert, gefährdet oder beeinträchtigt wird. Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist ein solcher Fall höherer Gewalt. Als unerwartet eingetretenes nicht abwendbares Ereignis hatte es seinen Ursprung weder in der Sphäre des Klägers als Reiseveranstalter noch in der der Reiseteilnehmer; der Kläger konnte ihm – etwa durch eine Änderung des Reiseverlaufs – nicht ausweichen. Auch wäre die vorgesehene Reise durch den Reaktorunfall erheblich beeinträchtigt und erschwert worden, ohne daß die vom Kläger geschuldeten Reiseleistungen selbst Mängel aufgewiesen hätten (vgl. Senatsurteil BGHZ 85, 50, 57/58). Nach dem allein maßgeblichen Kenntnisstand unmittelbar vor Reiseantritt war eine Gesundheitsgefährdung der Reiseteilnehmer aufgrund erhöhter Strahlenbelastung nicht auszuschließen; dieses Risiko war den Reisenden nicht zuzumuten. Das beklagte Land, vertreten durch Dr. S., konnte daher den Reisevertrag wegen höherer Gewalt kündigen.

10. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Verfahrensfehler rügt, hat der Senat die Rügen geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet.

11. Das Berufungsgericht führt weiter aus, die Zahlungen des Klägers an das Hotel in Prag könnten nicht als erbrachte Leistungen i.S.d. § 651e Abs. 3 BGB behandelt werden. Erbracht seien nur die Leistungen, die die Reisenden bis zum Zeitpunkt der Kündigung in Anspruch genommen hätten. Da die Reise gar nicht erst durchgeführt worden sei, habe der Kläger die entscheidende Leistung, nämlich Gewährung von Unterkunft und Verpflegung, nicht erbracht. Er könne daher keine Entschädigung verlangen.

12. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand.

13. Wird der Reisevertrag nach § 651j Abs. 1 BGB wegen höherer Gewalt gekündigt, kann der Reiseveranstalter gemäß § 651j Abs. 2 Satz 1  BGB für die bereits erbrachten oder zur Beendigung der Reise noch zu erbringenden Reiseleistungen eine Entschädigung verlangen. Dem Kläger steht ein solcher Entschädigungsanspruch – wie das Berufungsgericht mit Recht annimmt – nicht zu. Zwar war er als Reiseveranstalter nach dem zustande gekommenen Vertrag verpflichtet, neben der Visabeschaffung, der Durchführung der Fahrt und der Betreuung der Reisenden durch sachkundige Führer auch die vorgesehene Hotelunterkunft mit Verpflegung bereitzustellen. Er mußte deshalb durch entsprechende Vereinbarungen mit einem Hotel Reservierungen vornehmen lassen, um den Erfolg der Reise zu gewährleisten. Die ihm nach kurzfristiger Kündigung wegen höherer Gewalt und der daraufhin nicht durchgeführten Reise auferlegten Stornokosten beruhen jedoch nicht auf dem Reisevertrag.

14. Diese Kosten „wurzeln“ allein in dem Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Leistungsträger, auf das der Reisende keinen Einfluß nehmen kann und das ihm in der Regel unbekannt ist. Sie können daher – weil nicht im Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Reisenden entstanden – nicht als erbrachte Reiseleistungen i.S.d. § 651e Abs. 3 Satz 2 BGB angesehen werden. Daß der Reiseveranstalter bei einer Kündigung nach § 651j Abs. 1 BGB auch für die Leistungen eine Entschädigung verlangen kann, die für den Reisenden infolge der Aufhebung des Vertrags kein Interesse haben, steht dem nicht entgegen. Auch insoweit muß der Reiseveranstalter „Reiseleistungen“ bereits erbracht haben oder noch erbringen; sein Anspruch auf Entschädigung ist stets an Reiseleistungen geknüpft.

15. Der Senat ist jedoch der Ansicht, daß dem Kläger aufgrund der in § 651j Abs. 2 BGB zum Ausdruck gebrachten Risikoverteilung zwischen Reiseveranstalter und Reisendem ein Anspruch auf Ersatz der Stornokosten zur Hälfte zusteht.

16. Die Vorschrift des § 651j Abs. 1 BGB stellt im Anschluß an § 11 des von der Bundesregierung vorgeschlagenen Entwurfs eines Gesetzes über den Reiseveranstaltungsvertrag eine Sonderregelung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage dar (vgl. Bundestags-​Drucksachen 8/786 S. 21; 8/2343 S. 12). Sie läßt eine Kündigung des Reisevertrags auch dann zu, wenn der Reiseveranstalter zwar seinen Leistungspflichten nachgekommen ist oder nachkommen kann, jedoch aufgrund höherer Gewalt die Geschäftsgrundlage des Vertrags entfallen ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 85, 50, 56/57). Wird aus diesen Gründen der Vertrag gekündigt, ist das Risiko der gescheiterten Reise zwischen beiden Vertragsparteien angemessen zu verteilen, weil eine Gefährdung oder Beeinträchtigung einer Reise durch höhere Gewalt weder in den Risikobereich des Reiseveranstalters noch in den des Reisenden fällt.

17. Mit der Regelung des § 651j Abs. 2 BGB hat der Gesetzgeber diese Risikoverteilung in der Weise vorgenommen, daß er einmal dem Reiseveranstalter als Ausgleich für die Kündigungsmöglichkeit des Reisenden auch und gerade bei mängelfreier Reiseleistung einen Entschädigungsanspruch für erbrachte oder noch zu erbringende Reiseleistungen unabhängig davon einräumt, ob diese Leistungen nach der Kündigung für den Reisenden noch von Interesse sind. Zum anderen hat er bestimmt, daß Mehrkosten für die Rückbeförderung von den Parteien je zur Hälfte zu tragen sind und die im übrigen aufgrund höherer Gewalt entstandenen Mehrkosten dem Reisenden zur Last fallen..

18. Mit dieser gesetzgeberischen Wertung soll bei einer Kündigung des Reisevertrags wegen höherer Gewalt ein möglichst gerechter Interessenausgleich zwischen Reiseveranstalter und Reisendem erreicht werden. Das Risiko von Leistungsstörungen bei Wegfall der Geschäftsgrundlage soll nicht allein der Reiseveranstalter tragen; er wird daher jedenfalls teilweise entlastet. Andererseits werden die aufgrund höherer Gewalt eintretenden oder eingetretenen Risiken weitgehend auf den Reisenden verlagert (vgl. a. Wolter AcP 183 (1983), 35, 50ff); durch höhere Gewalt verursachte Mehrkosten fallen grundsätzlich ihm zur Last.

19. Ausgehend von den Grundgedanken dieser Regelung ist der Senat der Auffassung, daß bezahlte Stornokosten für eine wegen höherer Gewalt nicht in Anspruch genommene Hotelunterkunft, die keine erbrachte Reiseleistungen darstellen und für die der Reiseveranstalter deshalb gemäß 651e Abs. 3 Satz 2 BGB keine Entschädigung verlangen kann, nicht allein vom Reiseveranstalter zu tragen sind. Zwar wäre es unbillig, solche Kosten wie die aufgrund einer Kündigung wegen höherer Gewalt anfallenden Mehrkosten mit Ausnahme der Mehrkosten für die Rückbeförderung allein dem Reisenden aufzuerlegen, zumal dieser dem Risiko einer wegen höherer Gewalt gescheiterten Reise ebenso fernsteht wie der Reiseveranstalter. In Anlehnung an die der Regelung des § 651j Abs. 2 Satz 2 BGB über den Ausgleich der Mehrkosten für die Rückbeförderung zugrunde liegenden Risikoverteilung ist es jedoch angemessen, etwaige aufgrund einer Kündigung wegen höherer Gewalt entstandene Stornokosten für die vom Reiseveranstalter bereits vorgenommene und auch notwendige Hotelreservierung beiden Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen. Auch solche Kosten sind unvorhersehbare „Mehrkosten“, die – wie die Mehrkosten für die Rückbeförderung – allein durch höhere Gewalt entstanden sind und nach Treu und Glauben nicht nur von einer Partei getragen werden können. Insofern ist durch Anwendung der allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben die gesetzliche Regelung ergänzungsbedürftig, die auf Kosten, wie sie hier entstanden sind, nicht zugeschnitten ist.

20. Eine derartige Risikoverteilung ist allein sach- und interessengerecht. Bei einem Wegfall der Geschäftsgrundlage ist gemäß § 242 BGB grundsätzlich der Inhalt des Vertrags den veränderten Umständen anzupassen. Diese Anpassung kann darin bestehen, daß ein an sich von einer Partei zu tragendes Risiko auf beide Parteien je zur Hälfte verteilt wird. Auch im Streitfall ist es angemessen, das aufgrund der vor Reisebeginn ausgesprochenen Kündigung nach der gesetzlichen Regelung allein vom Kläger als Reiseveranstalter zu tragende Risiko, Stornokosten an ein Hotel zahlen zu müssen, zur Hälfte den Reisenden aufzuerlegen. Eine solche Risikoverteilung erscheint um so mehr geboten, als die Vorschrift des § 651j BGB hinsichtlich der Kostenpflicht eine zu starre Regelung enthält. Darauf wurde bereits im Rechtsausschuß des Bundestags von einer Minderheit hingewiesen (BT-​Drucksache 8/2343 S. 13), diese Auffassung wird auch vom Schrifttum geteilt (Bartl, Reiserecht, 2. Aufl., Rdn. 152; Klatt, Gesetz über den Reisevertrag, Anm. zu § 651j).

21. Die gegenteilige Ansicht, die dem Reiseveranstalter im Fall einer Kündigung wegen höherer Gewalt vor Beginn der Reise jeden Anspruch auf Entschädigung versagt und ihm insoweit das Risiko allein überbürdet (so Larenz aaO S. 394; vgl. auch Löwe, Das neue Pauschalreiserecht, S. 99 zu § 651e BGB), wird der hier gebotenen Risikoverteilung nicht gerecht. Insbesondere übersieht sie, daß der Reisevertrag wegen unvorhersehbarer höherer Gewalt schon vor Beginn der Reise gekündigt werden kann und dem Reiseveranstalter für bereits erbrachte Reiseleistungen (z.B. Auslagen für Visabeschaffung, Reiseleiter, Reiseliteratur) grundsätzlich ein Entschädigungsanspruch zusteht.

22. Nach alledem können das Berufungsurteil und das Urteil des Landgerichts keinen Bestand haben, soweit die auf Ersatz der Stornokosten in Höhe von 5.123,20 DM gerichtete Klage über die Hälfte dieses Betrags hinaus, also in Höhe von 2.561,60 DM, abgewiesen worden ist. Der Senat ist insoweit in der Lage, gemäß § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO abschließend zu entscheiden. Der Klage ist daher in diesem Umfang stattzugeben, im übrigen ist sie abzuweisen. Die weitergehenden Rechtsmittel des Klägers sind zurückzuweisen.

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