Atomunglück ist „höhere Gewalt“

LG Saarbrücken: Atomunglück ist „höhere Gewalt“

Wegen den Folgen des Atomunglücks in Tschernobyl möchte ein Urlauber von seinem Reisevertrag für ein Ferienhaus in Ungarn zurücktreten.
Das Landgericht Saarbrücken spricht dem Kläger ein besonderes Rücktrittsrecht zu.

LG Saarbrücken 2 S 82/87 (Aktenzeichen)
LG Saarbrücken: LG Saarbrücken, Urt. vom 08.09.1988
Rechtsweg: LG Saarbrücken, Urt. v. 08.09.1988, Az: 2 S 82/87
AG Neunkirchen, Urt. v. 29.01.1987, Az: 5 C 1276/86
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Landgericht Saarbrücken

1. Urteil vom 08.09.1988

Aktenzeichen: 2 S 82/87

Leitsatz:

2. Ein Atomunglück am Urlaubsort ist ein Fall „höherer Gewalt“ und berechtigt den Reisenden vom Reisevertrag zurückzutreten.

Zusammenfassung:

3. Der Kläger buchte beim Beklagten ein Ferienhaus in Ungarn für eine Reise, die er kurze Zeit nach dem Atomunglück in Tschernobyl antreten wollte. Aufgrund der in Ungarn, durch das Atomunglück, vorhandenen Umwelt- und Lebensmittelbelastung wollte der Kläger die Buchung stornieren.
Das Landgericht Saarbrücken hat dem Kläger die Stornierung ermöglicht. Wenn ein Reisender einen Vertrag mit einem privaten Vermieter von Ferienimmobilien schließt, liegt ein Reisevertrag vor. Von einem Reisevertrag kann man, aufgrund „höherer Gewalten“, schon vor dessen Erfüllung zurücktreten. Ein Atomunglück stellt eine „höhere Gewalt“ im Sinne eines Reisevertrages dar.

Tenor:

4. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts in Neunkirchen vom 29. Januar 1987 – Az.: 5 C 1276/86 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Gründe:

5. Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist auch im übrigen zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

6. Auf Grund des Vertrages vom 23. Januar 1986 betreffend die Anmietung eines Ferienhauses in Ungarn kann die Klägerin nicht 80 % des Gesamtpreises abzüglich der geleisteten Anzahlung verlangen.

7. Zunächst stehen der Klägerin eigene Rechte nicht zu. Obwohl … bei Abschluß des Vertrages als Vermittlerin aufgetreten ist (vgl. Ziffer 1 und 8 der Mietbedingungen) und mit der Buchungsbestätigung dem Beklagten Namen und Anschrift der Wohnungseigentümerin mitgeteilt hat, vertritt auch das erkennende Gericht die Auffassung, daß zwischen den Parteien vertragliche Beziehungen nicht bestehen. Vertragspartnerin ist …, wobei die Vermittlungsklausel offensichtlich nur dem Haftungsausschluß diente (vgl. BGH NJW 1974, 37). Dies ist unter Würdigung der einzelnen vertraglichen Bestimmungen in dem hiermit in Bezug genommenen angefochtenen Urteil mit zutreffender Begründung, der sich die Kammer anschließt, ausgeführt. Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht im Hinblick auf das Reisevertragsrecht. Es trifft zwar zu, daß es sich bei dem abgeschlossenen Vertrag nicht um einen Reisevertrag i. S. des § 651 a Abs. 1 BGB handelt, da nicht eine Gesamtheit von Reiseleistungen geschuldet worden ist, sondern nur eine Leistung, die Bereitstellung eines Ferienhauses in Ungarn. Ob ein solcher Vertrag als Miet- oder Werkvertrag zu werten ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es anerkannten Rechts, daß auf derartige Verträge, die lediglich die Vermietung von Ferienhäusern und -Wohnungen betreffen, bei denen der Anbieter, wie vorliegend …, als eigener Veranstalter von Ferienhausaufenthalten auftritt, die Bestimmungen des Reiserechts entsprechende Anwendung finden (vgl. BGH NJW 1985, 906), so daß auch insoweit der Rechtsgrundsatz des § 651 a Abs. 2 BGB gilt.

8. Soweit die Klägerin ihre Ansprüche aus abgetretenem Recht der … herleitet, ist die Klage gleichfalls nicht begründet.

9. Durch Schreiben vom 14. Mai 1986 hat der Beklagte den Vertrag mit … rechtswirksam gekündigt. Im Hinblick auf den Reaktorunfall von Tschernobyl vom 25./26. April 1986 war er hierzu in entsprechender Anwendung von § 651 j BGB berechtigt. Nach Auffassung der Kammer stellt der Reaktorunfall von Tschernobyl einen Fall höherer Gewalt dar, der zur Kündigung der Anmietung eines in Ungarn gelegenen Ferienhauses zum damaligen Zeitpunkt berechtigt hat. Unter den gegebenen Umständen war ein Ferienaufenthalt in der vorgesehenen Zeit vom 15. Juni bis 05. Juli 1986 dem Beklagten und seiner Familie in Ungarn nicht zumutbar, da der vertraglich vorgesehene Nutzen der Ferienreise in Frage gestellt war. Auf Grund der seinerzeit vorliegenden Äußerungen und Meldungen der Medien und öffentlicher Stellen, war es zum Zeitpunkt der Kündigung unsicher, inwieweit am Urlaubsort in Ungarn Strahlengefahr bestand. Diese Unsicherheit ist insbesondere für den Urlaub in Ostblockstaaten zu bejahen, die dem Unglücksort näher gelegen waren als die Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere mußte der Beklagte auf Grund der allgemeinen Informationen davon ausgehen, daß er an Ort und Stelle keine hinreichend zuverlässigen Auskünfte über die Intensität der radioaktiven Belastung und eine etwaige Verseuchung von Lebensmitteln erhalten werde. Es mag zwar letztlich nicht mit Sicherheit geklärt sein, ob durch die durch den Unfall von Tschernobyl bedingte erhöhte Strahlenbelastung auch ein erhöhtes Krebsrisiko gegeben war. Entscheidend ist, daß nach der überwiegend in der Wissenschaft vertretenen Auffassung eine Gesundheitsgefährdung auf Grund der über der Norm liegenden Meßwerte nicht auszuschließen war. Eine Gefährdung des Reisenden ist aber schon dann gegeben, wenn eine Gesundheitsschädigung nicht ausgeschlossen werden kann. Dies war zu dem hier fraglichen Zeitpunkt der Fall, und zwar insbesondere im Hinblick auf die fortdauernde Belastung von Lebensmitteln.

10. Im übrigen kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, daß die Strahlenbelastung in Ungarn nicht höher als in der Bundesrepublik Deutschland oder zumindest in Teilen von ihr gewesen sei. Ob dies zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, daß der Beklagte aufgrund der ihm damals zur Verfügung stehenden Kenntnisse befürchten mußte, Gesundheitsschäden davon zu tragen. Gegenüber den Verhältnissen am Wohnort mußte er davon ausgehen, am Urlaubsort keine ausreichende Information über eventuelle Gefahren zu erhalten, und zwar insbesondere was die an Ort und Stelle zu verzehrenden Lebensmittel betrifft (Milch, Obst und Gemüse). Er konnte anders als in der Bundesrepublik Deutschland nicht davon ausgehen, daß extrem belastete Lebensmittel aus dem Verkehr gezogen würden. Da insoweit eigene Kontrollmöglichkeiten fehlten, war die Unsicherheit in Bezug auf verseuchte Lebensmittel gerade auch im Hinblick auf das geringe Alter seiner drei Kinder dem Beklagten nicht zumutbar. Dies alles rechtfertigt den Schluß, daß die Reise infolge bei Vertragsabschluß nicht voraussehbarer höherer Gewalt erheblich beeinträchtigt war (vgl. auch AG Ansbach NJW-RR 1987, 496; AG Rendsburg NJW-RR 1987, 1080; LG Freiburg NJW-RR 1988, 593). Damit ist ein pauschalierter Ersatzanspruch nach Ziffer 5 der Mietbedingungen nicht gegeben.

11. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

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