Inanspruchnahme des Versicherungsschutzes des gezahlten Reisepreises

OLG Hamburg: Inanspruchnahme des Versicherungsschutzes des gezahlten Reisepreises

Ein Reisender verlangt von der Beklagten die Rückzahlung des Reisepreises aus einem Kundengeldabsicherungsvertrag, gemäß § 651k BGB, nach Insolvenz des Reiseveranstalters. Die Beklagte lehnte die Zahlung ab und trug vor, dass die Reise schon bereits vor der Insolvenz ausgefallen sei.

Das OLG Hamburg hat die Beklagte zur Zahlung verurteilt und entschieden, dass § 651k BGB darauf gerichtet ist den Reisenden immer dann zu schützen, wenn die Reise nicht durch das Verschulden des Reisenden ausfällt.

OLG Hamburg 9 U 154/10 (Aktenzeichen)
OLG Hamburg: OLG Hamburg, Urt. vom 29.03.2011
Rechtsweg: OLG Hamburg, Urt. v. 29.03.2011, Az: 9 U 154/10
LG Hamburg, Urt. v.19.08.2010, Az: 334 O 249/09
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Oberlandesgericht Hamburg

1. Urteil vom 29.03.2011

Aktenzeichen: 9 U 154/10


Leitsatz:

2. Bei der Inanspruchnahme des Versicherungsschutzes im Rahmen der Kundengeldabsicherung kommt es nicht darauf an wie der Anspruch entstanden ist, solange den Reisenden für den Reiseausfall kein Verschulden trifft.

                                                                                                                                         

Zusammenfassung:

3. Der Kläger buchte bei einem Reiseveranstalter eine Pauschalreise, welche aufgrund der geringen Nachfrage abgesagt werden musste. Gegen den Reiseveranstalter wurde später ein Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger machte gegen die Versicherung des Reiseveranstalters seine Ansprüche (§ 651k BGB) aus dem  Kundengeldabsicherungsvertrag und verlangte die Rückzahlung des Reisepreises. Die Beklagte verweigerte die Zahlung und trug vor, dass § 651k BGB den Versicherungsschutz ausdrücklich nur für den Fall vorsehe, wenn die Insolvenz des Reiseveranstalters für den Reiseausfall ursächlich ist, dies sei jedoch nicht der Fall, da die Reise aus rein wirtschaftlichen Gründen vor der Insolvenz des Reiseveranstalters abgesagt wurde.

Das OLG Hamburg hat die Beklagte zur Zahlung verurteilt und entschieden, dass es sich in Folge der Auslegung der dem § 651k BGB zugrundeliegenden Richtlinien schlussfolgern lässt, dass der Reisende immer dann geschützt werden soll, wenn ihn an dem Reiseausfall kein Verschulden trifft.

                                                                                                                                                                   

Tenor:

4. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 34, vom 19. August 2010 – 334 O 249/09 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aus diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 Gründe:

I.

5. Der Kläger verlangt von der Beklagten Leistungen aus einem Kundengeldabsicherungsvertrag nach Insolvenz des Reiseveranstalters.

6. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

7. Im Januar 2009 buchte der Kläger bei der T… T… T… GmbH eine Kreuzfahrt, die im Zeitraum 6.01.-​11.02.2010 stattfinden sollte. Mit Schreiben vom 15.01.2009 (Anlage K 1) wurde dem Kläger der Reisepreis von € 7.482,30 in Rechnung gestellt, wobei ein 5%iger Rabatt berücksichtigt war. Dieser wurde für den Fall angeboten, dass die gesamte Zahlung innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Rechnung erfolgen würde. Der Kläger zahlte am 22.1.2009 € 7482,30. Er erhielt einen „Sicherungsschein für Pauschalreisen gemäß § 651k des Bürgerlichen Gesetzbuches“, der als Reiseveranstalter die T… T… und als Versicherungsunternehmen die Beklagte aufführt. Dieser enthält unter anderem folgende Bestimmung:

8. „Der rechts angegebene Kundengeldabsicherer (H… M… R… AG, nachfolgend HMR) stellt für den umseitig bezeichneten Reiseveranstalter gegenüber dem Reisenden sicher, dass von ihm erstattet werden

  1. der gezahlte Reisepreis, soweit Reiseleistungen infolge Zahlungsunfähigkeit oder Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Reiseveranstalters ausfallen, (…)“. (Anlage K 2)

9. Die Beklagte unterhielt mit der T… T… GmbH einen Insolvenzsicherungsvertrag, nach dessen § 1 die Beklagte sich verpflichtete, den Reiseteilnehmern der T… T… GmbH Versicherungsschutz im Sinne des § 651k BGB zu gewähren, soweit den Reisenden ein Sicherungsschein übergeben wurde (Anlage B 1). Nach § 3 Nr. 1 f., g. der Allgemeinen Bedingungen zur Insolvenzsicherung für Reiseveranstalter war die T… T… GmbH verpflichtet, Anzahlungen über 10% des Reisepreises und Zahlungen, die über eine Anzahlung hinausgehen, nicht früher als 1 Monat vor Reisebeginn zu fordern oder anzunehmen (Anlage B 2). Die Reisebedingungen der T… T… GmbH sehen vor, dass mit Erhalt des Sicherungsscheines eine Anzahlung von 10% des Reisepreises fällig wird und die Restzahlung spätestens 3 Wochen vor Antritt der Reise zu leisten ist (Anlage K 1).

10. Mit Schreiben vom 8.08.2009 wurde dem Kläger durch die T… T… GmbH mitgeteilt, dass die Reise wegen mangelnder Nachfrage nicht stattfinde (Anlage K 3).

11. Bereits am 2. September 2009 wurde im Insolvenzantragsverfahren durch das AG Verden die vorläufige Verwaltung des Vermögens der T… T… GmbH angeordnet. Daraufhin wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 11.9.2009 wegen der Erstattung des von ihm gezahlten Reisepreises an die Beklagte. Diese lehnte mit Schreiben vom 15.9.2009 die Zahlung ab, weil die Reise nicht infolge der Insolvenz ausgefallen sei. Der Kläger wandte sich nochmals ohne Erfolg an die T… T… GmbH. Diese verwies wiederum an die Beklagte (Schreiben vom 30.9.2009). Unter Fristsetzung bis zum 5.11.2009 mahnten die Prozessbevollmächtigten des Klägers bei der Beklagten erfolglos die Zahlung der Klagforderung an. Mit Beschluss des AG Verden vom 1.12.2009 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet.

12. Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil der Klage stattgegeben. Auf das Urteil wird Bezug genommen.

13.  Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung.

14. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens macht die Beklagte geltend, dass das Landgericht zu Unrecht unterstellt habe, dass die Reise infolge der Insolvenz der T… T… GmbH ausgefallen sei. Dabei habe das Landgericht übersehen, dass zum Zeitpunkt der Absage der Reise die unternehmerische Entscheidung getroffen worden sei, dass die MS „M… P…“ nicht mehr auf dem deutschen Markt vermarktet werden solle. Diese rein wirtschaftliche Entscheidung sei allein aufgrund der geringen Nachfrage auf dem deutschen Markt gefallen. Die Insolvenz sei aufgrund der zum Zeitpunkt der Absage nicht vorhersehbaren, überraschenden Kündigung des Kontokorrentrahmens durch die B… L… Ende August 2009 erfolgt und sei somit nicht ursächlich für den Ausfall der Reise gewesen. § 651k BGB sehe ausdrücklich einen Versicherungsschutz nur für den Fall der vom Versicherungsnehmer zu beweisenden Ursächlichkeit der Insolvenz für den Reiseausfall vor.

15. Die Beklagte weist ferner darauf hin, dass der Kläger bereits 1 Jahr vor Reisebeginn den vollen Reisepreis gezahlt habe, ohne dass insoweit eine Verpflichtung bestanden habe. Die Zahlung des Gesamtreisepreises weit vor dessen Fälligkeit sei vom Anwendungsbereich des § 651k nicht erfasst.

16. Die Beklagte beantragt,

17. das am 19.08.2010 verkündete Urteil des Landgerichts Hamburg, Az. 334 O 249/09, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

18. Der Kläger beantragt,

19. die Berufung zurückzuweisen.

20. Der Kläger verteidigt das landgerichtliche Urteil. Dabei macht der Kläger unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags geltend, dass bereits zum Zeitpunkt der Absage der Reise von einer Zahlungsunfähigkeit der Reiseveranstalterin auszugehen sei. Nach den Erklärungen der Geschäftsführer im Insolvenzverfahren hätten Sanierungsverhandlungen mit den beteiligten Kreditgebern nicht zu der für die Umsetzung eines Sanierungskonzepts benötigten Erweiterung der Kreditlinie geführt, sodass die Gesellschaft in der Folge der Verhandlungen mit der beteiligten Bank zahlungsunfähig geworden sei.

21. Die Beklagte müsse den vollen vorausgezahlten Reisepreis erstatten, ein Mitverschulden des Klägers könne nicht darin gesehen werden, dass dieser das Rabattangebot des Reiseveranstalters angenommen und den vollen Reisepreis bereits vor Fälligkeit gezahlt habe.

22. Ergänzend wird auf das schriftsätzliche Vorbringen der Parteien Bezug genommen.

II.

23. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht der Klage stattgegeben. Die von der Beklagten erhobenen Einwände der angeblich nicht bestehenden Kausalität der Insolvenz für den Reiseausfall (dazu unter 1.) sowie der freiwilligen Vorfälligkeitszahlung (dazu unter 2.) greifen nicht durch.

1.

24. Allerdings konnte das Landgericht ohne nähere Sachaufklärung nicht unterstellen, dass die Absage der Reise durch die Reiseveranstalterin insolvenzbedingt erfolgte. Es ist zwar richtig, dass zu diesem Zeitpunkt noch weitere Buchungen für die Kreuzfahrt im Januar möglich gewesen wären. Dennoch kann es vernünftiger kaufmännischer Entscheidung entsprochen haben, dass angesichts einer bis dahin geringen Nachfrage sich die T… T… GmbH entschlossen hatte, die Vermarktung der MS „M… P…“ auf dem deutschen Markt vorzeitig einzustellen. Auch wenn aufgrund des von der Beklagten selbst angeführten, der allgemeinen Wirtschaftskrise geschuldeten dramatischen Einbruchs bei den Reisebu-​chungen davon auszugehen ist, dass bereits im August 2009 eine Sanierungsbedürftigkeit der Reiseveranstalterin bestand, kann doch nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, dass bereits im Zeitpunkt der Absage der Reise Zahlungsunfähigkeit bestand und die Absage hierauf beruhte.

25. Es kann aber nach Auffassung des Senats nicht darauf ankommen, dass die vom Kläger gebuchte Reise möglicherweise auch dann nicht stattgefunden hätte, wenn die T… T… GmbH nicht insolvent geworden wäre. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, ist mit § 651k BGB Art. 7 der EG-​Richtlinie über Pauschalreisen vom 13. Juni 1990 (ABlEG Nr. L 158/59) in deutsches Recht umgesetzt worden. Art. 7 lautet schlicht:

26. Der Veranstalter und/oder Vermittler, der Vertragspartei ist, weist nach, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind.

27. Ziel des Art. 7 der Richtlinie ist schon nach dem Wortlaut der Schutz der Verbraucher gegen Risiken, die sich aus der Zahlungsunfähigkeit oder dem Konkurs des Reiseveranstalters ergeben. Eine Schutzbedürftigkeit besteht dabei auch in Fällen wie dem Vorliegenden, in dem eine Rückerstattung des vorausgezahlten Reisepreises an der Insolvenz des Veranstalters scheitert, dieser die Reise aber bereits vorher aus anderen Gründen abgesagt hatte. Dass Art. 7 auch einen entsprechend weiten Schutz vorsieht, kann auch der Regelung in Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie entnommen werden. Dieser lautet:

28. „6.Wenn der Verbraucher gemäß Absatz 5 vom Vertrag zurücktritt oder wenn der Veranstalter – gleich aus welchem Grund, ausgenommen Verschulden des Verbrauchers – die Reise vor dem vereinbarten Abreisetag storniert, hat der Verbraucher folgende Ansprüche:

29. a) Teilnahme an einer gleichwertigen oder höherwertigen anderen Pauschalreise, …

30.  b) schnellstmögliche Erstattung aller von ihm aufgrund des Vertrages gezahlten Beträge. In diesen Fällen hat der Verbraucher gegebenenfalls Anspruch auf Entschädigung wegen Nichterfüllung des Vertrages, die gemäß den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vom Veranstalter oder Vermittler geleistet wird, es sei denn,

31. i) die Stornierung erfolgt, weil die Anzahl der Personen, die die Pauschalreise gebucht haben, nicht die geforderte Mindestteilnehmerzahl erreicht, und dem Verbraucher die Stornierung innerhalb der in der Beschreibung der Pauschalreise angegebenen Frist schriftlich mitgeteilt wurde oder

32. ii) die Stornierung erfolgt aufgrund höherer Gewalt, d. h. aufgrund ungewöhnlicher und unvorhersehbarer Ereignisse, auf die derjenige, der sich auf höhere Gewalt beruft, keinen Einfluß hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können; hierzu zählt jedoch nicht die Überbuchung.“

33. Die schnellstmögliche Erstattung aller von ihm aufgrund des Vertrages gezahlten Beträge ist daher in jedem Fall vorgesehen, lediglich der Anspruch auf Entschädigung wegen Nichter-​füllung soll entfallen, wenn die Stornierung erfolgt, weil die Anzahl der Personen, die die Pauschalreise gebucht haben, nicht die geforderte Mindestteilnehmerzahl erreicht, oder in Fällen höherer Gewalt. Art. 7 der Richtlinie bezweckt folglich den vollständigen Schutz der in dieser Vorschrift genannten Rechte der Verbraucher und damit den umfassenden Schutz der Verbraucher gegen sämtliche in diesem Artikel genannten Risiken, die sich aus der Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters ergeben (EuGH, Urteil vom 15. Juni 1999 – C 140/97 – NJW 1999, 3181 unter [61]). Für die Regelung des § 651k BGB, der richtlinien-​konform auszulegen ist, gilt demgemäß hinsichtlich des Schutzumfangs nichts anderes. Die unnötig ausführliche Umsetzung in § 651 k (siehe dazu Erman/H.H. Seiler, BGB, 12. Aufl. 2008, Rdz. 1 zu § 651 k) ist richtlinienkonform so zu verstehen, dass die Rückzahlung des voraus gezahlten Reisepreises in jedem Fall zu gewährleisten ist, wenn die Reise nicht stattgefunden hat und der Veranstalter hierzu infolge Insolvenz nicht mehr in der Lage ist (Erman/H.H. Seiler, BGB, 12. Aufl. 2008, Rdz. 6 zu § 651k).

34. Der Bundesgerichtshof hat bereits in seinem Urteil vom 28.3.2001 (IV ZR 19/00; NJW 2001, 1934) die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des § 651k BGB betont. Aus den Gesetzesmaterialien ist eindeutig die Absicht des Gesetzgebers abzulesen, die Richtlinie vollständig und lückenlos in deutsches Recht umzusetzen. So heißt es in der Bundestagsdrucksache 12/5354:

35. „Mit dem neuen § 651k wird Artikel 7 der Pauschalreiserichtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Die Richtlinienbestimmung schreibt vor, dass der Veranstalter nachweisen muss, dass im Falle seiner Zahlungsunfähigkeit oder seines Konkurses die Erstattung der von dem Reisenden gezahlten Beträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind.“

36. Die Richtlinie fordert – wie oben gezeigt – die Sicherstellung der Rückzahlung des voraus-​gezahlten Reisepreises, wenn der Veranstalter diesen infolge Insolvenz nicht mehr zurückerstatten kann, und zwar gleich aus welchem Grund die Reise nicht stattgefunden hat.

37. Ein solches Verständnis des § 651k Abs. 1 Nr. 1 BGB dürfte mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht mehr vereinbar sein. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Problematik findet in der Kommentarliteratur nicht statt. Ob aus der oben wieder gegebenen Formulierung bei Erman abgeleitet werden kann, dass bereits eine quasi ergänzende Kausalität in dem Sinne als ausreichend angesehen wird, dass eine jedenfalls (auch) bestehende Ursächlichkeit der Insolvenz angenommen wird, wenn wie hier die Insolvenz des Reiseveranstalters zum vorgesehenen Reisezeitpunkt eingetreten war, kann dahingestellt bleiben.

38. Der Senat ist angesichts der eindeutig im Gesetzgebungsverfahren bekundeten Absicht einer uneingeschränkten Umsetzung der Richtlinie der Auffassung, dass eine richtlinien-​konforme Auslegung auch dann geboten ist, wenn diese vom Wortlaut der Vorschrift nicht mehr umfasst sein sollte. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 26.11. 2008 (VIII ZR 200/05; NJW 2009, 427 ff.) ausdrücklich eine teleologische Reduktion für möglich gehalten, wenn – wie hier – feststeht, dass der Gesetzgeber die eigentlich beabsichtigte Um-​setzung einer europäischen Richtlinie infolge redaktioneller Mängel des Gesetzgebungs-​verfahrens nicht vollständig erreicht hat. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 26.11. 2008 (VIII ZR 200/05; NJW 2009, 427, 430) ausgeführt:

39. „[30]

40. dd) Die Rechtsfortbildung verletzt (entgegen Hummel, EuZW 2007, 268, 272) auch nicht die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG). Nach der Recht-​sprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Befugnis der Gerichte zur Fortbildung des Rechts anerkannt; aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Vorrang des Gesetzes folgt kein Verbot für die Gerichte, vorhandene Lücken im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen (BVerfGE 82, 6, 11 f.; 111, 54, 82, jeweils m.w.N.).

41.  [31]

42.  Zwar dürfen die Gerichte eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern. Durch die hier vorgenommene Rechts-​fortbildung wird jedoch der erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht beiseite geschoben. Vielmehr wird aus der in der Gesetzesbegründung niedergelegten Regelungsabsicht des Gesetzgebers entnommen, dass eine Lücke besteht und in welcher Weise sie geschlossen werden soll (vgl. BVerfGE 82, aaO). Denn aus den Gesetzesmaterialen ist – wie bereits dargelegt – die konkrete Absicht des Gesetzgebers erkennbar, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen. Somit liegt eine der richtlinienkonformen teleologischen Reduktion des § 439 Abs. 4 BGB entgegenstehende Wertungsent-​scheidung des Gesetzgebers nicht vor (vgl. auch Herresthal, NJW 2008, aaO; aA Fischinger, EuZW 2008, 312, 313).

43.  [32]

44.  ee) Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit spricht ebenfalls (entgegen Schmidt, aaO, S. 409) nicht gegen die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung. Das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) bedeutet in erster Linie Vertrauensschutz für den Bürger. …“

45.  Dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgt der Senat. Sie hat zur Konsequenz, dass die vorliegend von der Beklagten als Voraussetzung für einen Anspruch auf Versicherungsschutz geforderte Kausalität der Insolvenz für den Reiseausfall nicht bestehen muss, dass es vielmehr ausreicht, dass infolge der Insolvenz dem Reisenden vom Veranstalter der vorausgezahlte Preis für die ausgefallene Reise nicht erstattet werden kann und der insolvente Reiseveranstalter naturgemäß auch zur Durchführung der Reise nicht mehr in der Lage ist.

46.  Diese richtlinienkonforme Auslegung des § 651k Abs. 1 Nr. 1 BGB hat darüberhinaus zur Folge, dass der von der Beklagten ausgegebene Sicherungsschein mit der dem Gesetz entsprechenden Formulierung in gleicher Weise zu verstehen ist. Der Versicherungsvertrag, der die Gesetzesformulierung übernimmt, hat die gesetzliche Bestimmung in der Form zum Inhalt, wie sie sich bei einer richtlinienkonformen Auslegung darstellt. Das allein entspricht den Vorstellungen der Vertragspartner. Das Versprechen von Versicherungsschutz durch die Beklagte wird von den Reisekunden dahingehend verstanden, dass die Erstattung von Vorausleistungen im Falle von Reiseausfall und Insolvenz des Veranstalters gesichert ist. Der im Urteil des BGH angesprochene Aspekt der Rechtssicherheit steht dem nicht entgegen. Es ist für den Senat weder ersichtlich noch von der Beklagten dargelegt worden, dass bei der Abschätzung des versicherten Risikos durch die Beklagte angenommen worden wäre, dass in Fällen wie dem Vorliegenden, in denen bereits vor Eintritt der Insolvenz die Reise abgesagt wird, im Folgenden jedoch wegen zwischenzeitlicher Insolvenz die Rückerstattung des Reisepreises ausfällt, kein Versicherungsschutz bestehen soll. Da der Beklagten wie der gesamten Versicherungswirtschaft die Pauschalreiserichtlinie bekannt war und diese die maßgebliche Regelung enthält, musste sie sich schon bei Abschluss der Versicherungsverträge darauf einrichten, dass sie für alle Forderungsausfälle von Reisekunden infolge Insolvenz des Veranstalters einzutreten hatte, ausgenommen lediglich etwaige nach Beendigung der Reise angefallene Gewährleistungsforderungen.

2.

47.  Das Landgericht hat auch zu Recht eine Erstattung von 90 % des vollen Reisepreises zugesprochen. Der Bundesgerichtshof hat bereits in seinem schon erwähnten Urteil vom 28.3.2001 (IV ZR 19/00; NJW 2001, 1934) ausgeführt, dass die Verpflichtung des Reiseveranstalters, sicherzustellen, dass dem Reisenden der „gezahlte Reisepreis“ unter den dort genannten Voraussetzungen erstattet wird, einschränkungslos für den gesamten Reisepreis gilt, weil anderenfalls der vollständige Schutz des Reisenden nicht gewährleistet würde. In der damaligen Entscheidung sind AGB der Versicherung, wonach der Anspruch des Reisenden nur auf eine Anzahlung von 10 % des Reisepreises beschränkt wurde und eine volle Erstattung nur bei Zahlung 3 Wochen vor Reiseantritt stattfinden sollte, für unwirksam erklärt worden. Demgemäß ist auch in dem Sicherungsschein dem Kläger gegenüber eine entsprechende Einschränkung des Versicherungsschutzes gar nicht mitgeteilt worden. Vielmehr wird dort allein entsprechend der Regelung in § 651k Abs. 1 Nr. 1 BGB und dem Muster in Anlage 1 BGB-​InfoV auf den „gezahlten“ Reispreis abgestellt, ohne dass es darauf ankommt, wann dieser gezahlt worden ist.

48.  Dass die Beklagte mit dem Reiseveranstalter entsprechende Absprachen getroffen hat, war den Reisekunden nicht bekannt und kann daher für den Umfang des von ihnen zu beanspruchenden Versicherungsschutzes keine Rolle spielen. Auf Einwendungen aus dem Kundengeldabsicherungsvertrag kann sich die Beklagte gegenüber dem Kläger gem. § 651k Abs. 3 S. 2 BGB nicht berufen.

49.  Die im Reisevertrag vorgesehene Fälligkeitsregelung hinderte den Kläger nicht daran, den vollständigen Reisepreis bereits vor Fälligkeit zu zahlen. Dies ergibt sich schon aus § 271 Abs. 2 BGB, wonach der Schuldner im Falle der Bestimmung einer Leistungszeit die Leistung im Zweifel vorher bewirken kann. Es ist daher nach der Rechtsordnung nicht generell unerwünscht, Zahlungen schon vor Fälligkeit zu erbringen.

50. Soweit die Beklagte vorträgt, die Vorschrift des § 651k Abs. 1 BGB sei nach ihrem Sinn und Zweck dahingehend auszulegen, dass kein Schutz für Zahlungen, die weit vor Fälligkeit erbracht würden, bestünde, kann dem nicht gefolgt werden. Hiergegen sprechen schon die Erwägungen in der angeführten Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2001. Der Wortlaut des § 651k BGB differenziert nicht danach, wann der Reisepreis gezahlt wurde, insbesondere danach, ob dies im Einklang mit Fälligkeitsbestimmungen in dem Reisevertrag oder dem Versicherungsvertrag stand. Vielmehr stellt § 651k Abs. 1 Nr. 1 BGB darauf ab, dass sichergestellt werden muss, dass der „gezahlte Reisepreis“ erstattet wird. Maßgeblich ist daher, ob der Kunde im Falle des Ausfalls von Reiseleistungen in den dort genannten Fällen den Reispreis tatsächlich – ganz oder teilweise – bereits gezahlt hat. Darauf, ob eine Zahlung des Kunden fällig war, kommt es nicht an.

51. Es ist aber auch kein durchgreifender Grund ersichtlich, den Anspruch des Reisenden gegen den Kundengeldabsicherer im Falle der Zahlung vor Fälligkeit auszuschließen. Insbesondere ist der Kunde, der den Reisepreis aus welchen Erwägungen auch immer bereits vor der Fälligkeit zahlt, nicht weniger schutzwürdig. Aus § 651k Abs. 4 BGB ergibt sich auch nichts anderes. Danach darf der Reiseveranstalter Zahlungen auf den Reisepreis vor Beendigung der Reise zwar erst ab Übergabe eines Sicherungsscheins annehmen oder fordern. Sofern er einen solchen Sicherungsschein aber überlässt, steht die Regelung des § 651k Abs. 4 BGB Zahlungsforderungen auf den Reisepreis nicht entgegen, und zwar nach dem Wortlaut der Vorschrift ohne Einschränkung. Dann wäre es jedoch widersinnig, dem Reiseteilnehmer gleichwohl nur für solche Zahlungen, die bereits fällig waren, einen Schutz aus dem Vertrag über die Kundengeldabsicherung zu gewähren. Dass der Kunde durch Rabattaktionen – frei- willig – zur früheren Zahlung veranlasst wird, steht dem nicht entgegen.

III.

52. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Zulassung der Revision erfolgt im Hinblick auf die für eine Vielzahl von Verträgen bedeutsame Frage der richtlinienkonformen Auslegung des § 651k Abs. 1 Nr. 1 BGB.

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