Haftungsgrenzen europäischer Airlines

EuGH: Haftungsgrenzen europäischer Airlines

In diesem Urteil stellte sich zunächst die Frage, ob das Warschauer Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12. Oktober 1929 in der in Den Haag am 28. September 1955 geänderten Fassung, auf das sich die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 bezieht, zu den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, für deren Auslegung der Gerichtshof gemäß Art. 234 EG zuständig ist. Die Antwort auf diese Frage fiel negativ aus.
Die zweite Frage die sich stellte war, ob die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, dahin auszulegen ist, dass für die nicht ausdrücklich geregelten Fragen die Bestimmungen des Warschauer Abkommens, hier dessen Art. 29, weiterhin im Fall eines Flugs zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft anwendbar sind. Diese Frage wurde vom Gericht positiv beantwortet.

EuGH C-301/08 (Aktenzeichen)
EuGH: EuGH, Urt. vom 22.10.2009
Rechtsweg: EuGH, Urt. v. 22.10.2009, Az: C-301/08
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EUGH
1. Urteil vom 22.10. 2009
Aktenzeichen C-301/08

Leitsätze:
2. Das Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Warschauer Abkommen) gehört nicht zu den Normen des Gemeinschaftsrechts der europäischen Union.
Der Anwendung des Art. 29 des Warschauer Abkommen steht jedoch nichts entgegen, wenn der Reisende vom Luftfahrtunternehmen Schadensersatz für einen auf dem Flug zwischen zwei Mitgliedsstaaten der europäischen Union erlittenen Schaden fordert.

Zusammenfassung:
3. Im vorliegenden Fall stürzte die Klägerin auf dem Rollfeld des Flughafens Luxemburg auf dem Weg zu einem Flugzeug der Luxair. Sie verlangte daraufhin Schadensersatz von dem Deutschen Luftpool, eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts. Diese Klage war allerdings unzulässig, da die Geschehnisse fünf Jahre zurück liegen. Ihre Ansprüche seien bereits verjährt.
Dem EuGH wurde nun Fragen diesbezüglich vorgelegt. Zunächst beschäftigte er sich mit der Frage, ob das Warschauer Abkommen zu den Normen des Gemeinschaftsrecht gehört, für deren Auslegung der Gerichtshof nach Art. 234 EG zuständig ist. Dies verneinte der EuGH.
Die zweite Frage die sich stellte war, ob die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, dahin auszulegen ist, dass für die nicht ausdrücklich geregelten Fragen die Bestimmungen des Warschauer Abkommens, hier dessen Art. 29, weiterhin im Fall eines Flugs zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft anwendbar sind. Dies bejahte der EuGH.

Rechtlicher Rahmen:
4. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen (ABl. L 285, S. 1) in Verbindung mit dem am 12. Oktober 1929 in Warschau unterzeichneten Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr in der durch die vier Zusatzprotokolle von Montreal vom 25. September 1975 geänderten Fassung (im Folgenden: Warschauer Abkommen).
5. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Bogiatzi, verheiratete Ventouras, einerseits und der luxemburgischen Gesellschaft Luxair, société luxembourgeoise de navigation aérienne SA (im Folgenden: Luxair), sowie der deutschen Gesellschaft Deutscher Luftpool andererseits wegen des gesamtschuldnerischen Ersatzes des Schadens, den Frau Bogiatzi infolge eines Unfalls beim Einsteigen in ein Flugzeug der Luxair erlitten hat.
Völkerrecht:
5. Die Europäische Gemeinschaft ist nicht Vertragspartei des Warschauer Abkommens, dem die – zur Zeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalts fünfzehn – Mitgliedstaaten der Europäischen Union beigetreten sind.“
6. Das Warschauer Abkommen in seiner ursprünglichen Fassung wurde durch das Haager Protokoll vom 28. September 1955, das Abkommen von Guadalajara vom 18. September 1961, das Protokoll von Guatemala vom 8. März 1971 und die vier Zusatzprotokolle von Montreal vom 25. September 1975 mehrfach geändert und ergänzt.
7. Art. 29 des Warschauer Abkommens bestimmt:
8. Die Klage auf Schadensersatz kann nur binnen einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden; die Frist beginnt mit dem Tage, an dem das Luftfahrzeug am Bestimmungsort angekommen ist, oder an dem es hätte ankommen sollen, oder an dem die Beförderung abgebrochen worden ist.
9. Die Berechnung der Frist bestimmt sich nach den Gesetzen des angerufenen Gerichts.“
Gemeinschaftsrecht:
10. Die ersten fünf Erwägungsgründe der Verordnung Nr. 2027/97 lauten:
11. „ Im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik ist das Niveau des Schutzes von Fluggästen, die von Unfällen im Luftverkehr betroffen sind, zu verbessern.
12. Die Haftung bei Unfällen ist geregelt durch das am 12. Oktober 1929 in Warschau unterzeichnete Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr bzw. dieses Abkommen in der durch das Haager Protokoll vom 28. September 1955 geänderten Fassung und das Abkommen von Guadalajara vom 18. September 1961 – je nachdem, welches Anwendung findet, wobei jedes dieser Abkommen nachstehend, falls anwendbar, ‚Warschauer Abkommen‘ genannt wird. Das Warschauer Abkommen gilt weltweit zum Nutzen sowohl der Fluggäste als auch der Luftfahrtunternehmen.
13. Die durch das Warschauer Abkommen festgesetzten Haftungsgrenzen sind in Anbetracht der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Maßstäbe zu niedrig und führen oft zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten, die das Image des Luftverkehrs schädigen. Daher haben verschiedene Mitgliedstaaten die Haftungsgrenzen erhöht, was wiederum zu unterschiedlichen Beförderungsbedingungen im Luftverkehrsbinnenmarkt geführt hat.
14. Das Warschauer Abkommen gilt überdies nur für den internationalen Luftverkehr. Im Luftverkehrsbinnenmarkt wird nicht mehr zwischen nationalen und internationalen Flügen unterschieden. Aus diesem Grund sollten im nationalen und internationalen Luftverkehr dieselben Bestimmungen über Höhe und Art der Haftung gelten.

15. Eine umfassende Überprüfung und Revision des Warschauer Abkommens ist seit langem überfällig und wäre langfristig auf internationaler Ebene eine einheitlichere und praktischere Lösung hinsichtlich der Haftung der Luftfahrtunternehmen bei Unfällen. Die Bemühungen um eine Anhebung der im Warschauer Abkommen vorgeschriebenen Haftungsgrenzen sollten weiter in Verhandlungen auf multilateraler Ebene fortgesetzt werden.“

16. Im siebten Erwägungsgrund dieser Verordnung wird ausgeführt:
17. „Im Einklang mit derzeitigen Tendenzen auf internationaler Ebene ist es angemessen, jegliche finanzielle Haftungsgrenzen im Sinne von Artikel 22 Absatz 1 des Warschauer Abkommens oder sonstige rechtliche oder vertragliche Haftungsgrenzen aufzuheben.“
18. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 definiert die Begriffe „Luftfahrtunternehmen“, „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“, „Schadensersatzberechtigter“, „Ecu“, „SZR“ und „Warschauer Abkommen“.
19. Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2027/97 lautet:
20. „Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Warschauer Abkommen benutzten Begriffen.“
21. Art. 5 Abs. 1 und 3 dieser Verordnung bestimmt:
22. „Das Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zahlt unverzüglich, keinesfalls jedoch später als fünfzehn Tage nach der Feststellung der Identität der schadensersatzberechtigten natürlichen Person einen Vorschuss zur Befriedigung der unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnisse, und zwar im Verhältnis zur Schwere des Falles.
[…]
23. Der Vorschuss stellt keine Haftungsanerkennung dar und kann mit den eventuell später aufgrund der Haftung des Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft gezahlten Beträgen verrechnet werden, ist aber nicht zurückzuzahlen, es sei denn, es handelt sich um Fälle gemäß Artikel 3 Absatz 3 oder um Fälle, in denen in der Folge nachgewiesen wird, dass die Person, die den Vorschuss erhalten hat, den Schaden durch Fahrlässigkeit verursacht oder mitverursacht hat oder keinen Schadensersatzanspruch hatte.“
24. Die Verordnung Nr. 2027/97 ist durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. L 140, S. 2) geändert worden, die auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar ist.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen:
25. Frau Bogiatzi stürzte am 21. Dezember 1998 auf dem Rollfeld des Flughafens Luxemburg auf dem Weg zu einem Flugzeug der Luxair.
26. Am 22. Dezember 2003 verklagte sie den Deutschen Luftpool, eine Gesellschaft des deutschen bürgerlichen Rechts, in der die Versicherer für Luftfahrtrisiken zusammengeschlossen sind, und die Luxair vor dem Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) unter Berufung auf die Verordnung Nr. 2027/97 und auf das Warschauer Abkommen auf Schadensersatz. Die fünf Jahre nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschehnissen eingereichte Klage von Frau Bogiatzi wurde für unzulässig erklärt. Das befindende Gericht hielt nämlich die in Art. 29 des Warschauer Abkommens für die Erhebung einer Schadensersatzklage vorgesehene Ausschlussfrist von zwei Jahren für eine unverrückbare Frist, die nicht gehemmt oder unterbrochen werden könne.
27. Die Unzulässigkeit der Klage wurde in der Berufungsinstanz bestätigt. Daraufhin reichte Frau Bogiatzi Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) ein.
28. Vor diesem Hintergrund hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

29. Gehört das Warschauer Abkommen in der in Den Haag am 28. September 1955 geänderten Fassung, auf das sich die Verordnung Nr. 2027/97 bezieht, zu den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, für deren Auslegung der Gerichtshof gemäß Art. 234 EG zuständig ist?
30. Ist die Verordnung Nr. 2027/97 in ihrer zur Zeit des Unfalls, d.h. am 21. Dezember 1998, geltenden Fassung dahin auszulegen, dass für die nicht ausdrücklich geregelten Fragen die Bestimmungen des Warschauer Abkommens, hier dessen Art. 29, im Fall eines Flugs zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft weiterhin anwendbar sind?
31. Für den Fall, dass die erste und die zweite Frage bejaht werden: Ist Art. 29 des Warschauer Abkommens in Verbindung mit der Verordnung Nr. 2027/97 dahin auszulegen, dass die dort vorgesehene Zweijahresfrist gehemmt oder unterbrochen werden kann oder dass das Luftfahrtunternehmen oder sein Versicherer darauf mit einer vom nationalen Richter als Haftungsanerkenntnis gewerteten Handlung verzichten kann?

Zu den Vorlagefragen:
32. Zur ersten Frage:

33. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Warschauer Abkommen zu den Normen des Gemeinschaftsrechts gehört, für deren Auslegung der Gerichtshof nach Art. 234 EG zuständig ist.

34. Vorab ist auf die Auffassung der Luxair einzugehen, dass der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren in Wirklichkeit nicht das Warschauer Abkommen auslegen, sondern Art. 307 EG anwenden müsse, nach dem bei einer Kollision einer Gemeinschaftsvorschrift mit einer Übereinkunft, die älter als der EG-Vertrag sei, der Grundsatz des Vorrangs nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaats gegenüber Drittstaaten berühre
35. Dazu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung durch Art. 307 Abs. 1 EG in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Völkerrechts klargestellt werden soll, dass die Geltung des Vertrags nicht die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats berührt, die Rechte der Drittstaaten aus einer früheren Übereinkunft zu achten und seine Pflichten zu erfüllen (vgl. Urteile vom 14. Oktober 1980, Burgoa, 812/79, Slg. 1980, 2787, Randnr. 8, vom 18. November 2003, Budejovický Budvar, C-216/01, Slg. 2003, I-13617, Randnrn. 144 und 145, sowie vom 3. März 2009, Kommission/Österreich, C-205/06, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 33, und Kommission/Schweden, C-249/06, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 34).
36. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung können jedoch die Bestimmungen einer vor Inkrafttreten des Vertrags geschlossenen Übereinkunft in den innergemeinschaftlichen Beziehungen nicht geltend gemacht werden.

37. Art. 307 EG kommt deshalb nicht zur Anwendung.

38. Daher ist auf die vorgelegte Frage nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung des Warschauer Abkommens zurückzukommen.
39. Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass der Gerichtshof nach Art. 234 EG dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des EG-Vertrags sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft zu entscheiden.
40. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein vom Rat gemäß den Art. 300 EG und 310 EG geschlossenes Abkommen für die Gemeinschaft die Handlung eines Gemeinschaftsorgans im Sinne von Art. 234 Abs. 1 Buchst. b EG. Die Bestimmungen eines solchen Abkommens sind von dessen Inkrafttreten an integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung, und im Rahmen dieser Rechtsordnung ist der Gerichtshof zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Übereinkommens zu befinden (vgl. Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, Slg. 1974, 449, Randnrn. 4 bis 6, vom 30. September 1987, Demirel, 12/86, Slg. 1987, 3719, Randnr. 7, vom 15. Juni 1999, Andersson und Wåkerås-Andersson, C-321/97, Slg. 1999, I-3551, Randnr. 26, und vom 11. September 2007, Merck Genéricos – Produtos Farmacêuticos, C-431/05, Slg. 2007, I-7001, Randnr. 31).
41. Hier steht aber fest, dass die Gemeinschaft keine Vertragspartei des Warschauer Abkommens ist. Folglich ist der Gerichtshof grundsätzlich nicht dafür zuständig, die Bestimmungen dieses Abkommens im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auszulegen (vgl. Urteil vom 27. November 1973, Vandeweghe u. a., 130/73, Slg. 1973, 1329, Randnr. 2, und Beschluss vom 12. November 1998, Hartmann, C-162/98, Slg. 1998, I-7083, Randnr. 9).
42. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass er, wenn und soweit die Gemeinschaft aufgrund des Vertrags die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich einer internationalen Übereinkunft ausgeübten Befugnisse übernommen hat und folglich an die Bestimmungen dieser Übereinkunft gebunden ist, für deren Auslegung auch dann zuständig ist, wenn sie nicht von der Gemeinschaft ratifiziert worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1972, International Fruit Company u. a., 21/72 bis 24/72, Slg. 1972, 1219, Randnr. 18, vom 14. Juli 1994, Peralta, C-379/92, Slg. 1994, I-3453, Randnr. 16, und vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C-308/06, Slg. 2008, I-057, Randnr. 48).
43. Hier steht fest, dass alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zur Zeit des für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts Vertragsparteien des Warschauer Abkommens waren.
44. Deshalb ist zu prüfen, ob in diesem Fall die Gemeinschaft aufgrund des Vertrags die Befugnisse übernommen hat, die im Anwendungsbereich des Warschauer Abkommens, das jede internationale Luftbeförderung von Personen, Reisegepäck oder Gütern erfasst, zuvor von den Mitgliedstaaten ausgeübt wurden.
45. Zur Zeit des für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts gab es drei von der Gemeinschaft im Anwendungsbereich des Warschauer Abkommens auf der Grundlage des Art. 80 Abs. 2 EG erlassene Verordnungen.
46. Es handelt sich zunächst um die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABl. L 36, S. 5). Der Gegenstand dieser Verordnung beschränkt sich jedoch auf eine gemeinsame Mindestregelung, die für Fluggäste hinsichtlich der Ausgleichsleistungen von Seiten der Luftfahrtunternehmen bei Nichtbeförderung auf einem überbuchten Linienflug gilt. Im Gegensatz zu dieser Verordnung, die nur die Nichtbeförderung behandelt, betrifft das Warschauer Abkommen seinerseits aber die Haftung der Luftfahrtunternehmen u. a. bei Flugverspätungen.
47. Sodann schreibt die Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen (ABl. L 240, S. 1) in ihrem Art. 7 den Luftfahrtunternehmen eine Unfallhaftpflichtversicherung gegen Schäden vor, die insbesondere Fluggästen und an Gepäck entstehen können. Anders als im Warschauer Abkommen werden aber die Voraussetzungen für die Haftung dieser Luftfahrtunternehmen in der genannten Verordnung nicht geregelt.

48. Die Verordnung Nr. 2027/97 schließlich erfasst im Unterschied zum Warschauer Abkommen nur die von Fluggästen erlittenen Schäden im Todesfall, bei körperlicher Verletzung oder sonstiger gesundheitlicher Schädigung und nicht die materiellen Schäden an Reisegepäck und Gütern.
49. Somit hat die Gemeinschaft nicht alle zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Warschauer Abkommens ausgeübten Befugnisse übernommen.

50. In Ermangelung eines vollständigen Übergangs der zuvor von den Mitgliedstaaten ausgeübten Befugnisse auf die Gemeinschaft kann diese nicht allein deshalb, weil alle diese Staaten zur Zeit des für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts Vertragsparteien des Warschauer Abkommens waren, an dessen Bestimmungen gebunden sein, die sie nicht selbst genehmigt hat (vgl. entsprechend Urteil Intertanko u. a., Randnr. 49).
51. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Warschauer Abkommen nicht zu den Normen des Gemeinschaftsrechts gehört, für deren Auslegung der Gerichtshof nach Art. 234 EG zuständig ist.

52. Zur zweiten Frage:

53. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht in Anbetracht dessen, dass die Verordnung Nr. 2027/97 in den Bereich fällt, der vom Warschauer Abkommen geregelt wird, dem zur Zeit des für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beigetreten waren, und unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts im Wesentlichen wissen, ob die Verordnung Nr. 2027/97 dahin auszulegen ist, dass sie in einem Fall, in dem ein Reisender das Luftfahrtunternehmen wegen eines Schadens in Anspruch nimmt, den er bei einem Flug zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erlitten hat, nicht an der Anwendung verschiedener Bestimmungen des Warschauer Abkommens, insbesondere seines Art. 29, hindert.

54. Vorab ist festzustellen, dass nach Art. 29 des Warschauer Abkommens eine Klage auf Schadensersatz gegen ein Luftfahrtunternehmen wegen eines Unfalls nur binnen einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden kann, die mit dem Tag beginnt, an dem das Luftfahrzeug am Bestimmungsort angekommen ist, oder an dem es hätte ankommen sollen, oder an dem die Beförderung abgebrochen worden ist. Die Verordnung Nr. 2027/97 enthält demgegenüber keine ausdrückliche Bestimmung über die Verjährungsfrist einer solchen Schadensersatzklage und verweist auch nicht ausdrücklich auf Art. 29 des Warschauer Abkommens.

55. Frau Bogiatzi macht im Wesentlichen geltend, die Verordnung Nr. 2027/97 müsse, da sie nicht ausdrücklich auf die im Ausgangsverfahren anwendbaren Bestimmungen des Warschauer Abkommens verweise und die Bestimmungen dieses Abkommens, insbesondere sein Art. 29, danach auch nicht ausdrücklich auf das Ausgangsverfahren anwendbar seien, eigenständig angewandt und ausgelegt werden.
56. Es ist festzustellen, dass sich die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage allein anhand des Wortlauts und des Zusammenhangs der Verordnung Nr. 2027/97 nicht beantworten lässt.
57. Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut und ihr Zusammenhang zu berücksichtigen, sondern auch die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18. Mai 2000, KVS International, C-301/98, Slg. 2000, I-3583, Randnr. 21, vom 23. November 2006, ZVK, C-300/05, Slg. 2006, I-11169, Randnr. 15, und vom 12. Februar 2009, Klarenberg, C-466/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 37).
58. Hinsichtlich des mit der Verordnung Nr. 2027/97 verfolgten Ziels ergibt sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund, dass sie darauf abzielt, im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik das Niveau des Schutzes von Fluggästen, die von Unfällen im Luftverkehr betroffen sind, zu verbessern.

59. Außerdem ist sowohl den Vorarbeiten zu der Verordnung Nr. 2027/97 als auch ihren Erwägungsgründen 3, 5 und 15 zu entnehmen, dass sich dieses Bestreben um eine Verbesserung des Niveaus des Schutzes von Fluggästen, die von Unfällen im Luftverkehr betroffen sind, konkret in der Einführung von Bestimmungen niederschlägt, die, was den Luftverkehr zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft betrifft, bis zu einer umfassenden Überprüfung und Revision des Warschauer Abkommens an die Stelle einiger seiner Bestimmungen treten sollen.
60. Insbesondere hielt der Gemeinschaftsgesetzgeber die Haftungsgrenzen für die Luftfahrtunternehmen, wie sie im Warschauer Abkommen festgesetzt sind, in Anbetracht der zur Zeit der Ausarbeitung der Verordnung Nr. 2027/97 herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für zu niedrig. Ihm lag deshalb an einer Anhebung mancher dieser Grenzen.

61. Dagegen ergibt sich aus dem zweiten und dem vierten Erwägungsgrund sowie aus Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2027/97, dass dann, wenn diese die Anwendung des Warschauer Abkommens nicht mit dem Ziel der Erhöhung des Niveaus des Schutzes von Fluggästen ausschließt, dieser Schutz die Komplementarität und die Gleichwertigkeit der Verordnung im Verhältnis zu der Abkommensregelung impliziert.
62. Art. 29 des Warschauer Abkommens gehört aber, da er nur eine Modalität der Erhebung einer Haftungsklage gegen Luftfahrtunternehmen bei Unfällen regelt, nicht zu der Kategorie von Bestimmungen, deren Anwendung der Gemeinschaftsgesetzgeber ausschließen wollte.
63. Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 2027/97 dahin auszulegen ist, dass sie in einem Fall, in dem ein Reisender das Luftfahrtunternehmen wegen eines Schadens in Anspruch nimmt, den er bei einem Flug zwischen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erlitten hat, der Anwendung von Art. 29 des Warschauer Abkommens nicht entgegensteht.
64. Zur dritten Frage:
65. In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.
Kosten:
66. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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