Ausschlussgrund der außergewöhnlichen Umstände beim Fluglotsenstreik

AG Königs Wusterhausen: Ausschlussgrund der außergewöhnlichen Umstände beim Fluglotsenstreik

Der Kläger begehrte eine Ausgleichszahlung wegen der Annullierung seines Fluges von Berlin nach Palma de Mallorca. Die Klage wurde abgewiesen, da die beklagte Fluggesellschaft nachweisen konnte, dass in Form eines Streiks französischer Fluglotsen außergewöhnliche Umstände vorlagen.

AG Königs Wusterhausen 4 C 1960/16 (2) (Aktenzeichen)
AG Königs Wusterhausen: AG Königs Wusterhausen, Urt. vom 27. 04. 2017
Rechtsweg: AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 27. 04. 2017, Az: 4 C 1960/16 (2)
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Amtsgericht Königs Wuster­hausen

1. Urteil vom 27. April 2017

Aktenzeichen 4 C 1960/16 (2)

Leitsatz:

2. Luftraumüberlastung als Folge eines Fluglotsenstreiks in einem Drittland ist ein außergewöhnlicher Umstand.

Zusammenfassung:

3. Der Kläger hatte bei der Beklagten einen Flug von Berlin nach Palma de Mallorca gebucht, dieser wurde jedoch annulliert. Der Kläger forderte eine Ausgleichszahlung gemäß der Fluggastrechteverordnung, die Beklagte hingegen verwies auf einen Streik der französischen Fluglotsen und die resultierende Luftraumüberlastung als außergewöhnliche Umstände.

Das Amtsgericht Königs Wusterhausen folgte der Argumentation der Beklagten und wies die Klage ab. Der Streik war ein unvorhersehbares, unvermeidbares, von außen kommendes Ereignis und die Beklagte hatte alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um Annullierungen zu vermeiden.

Tenor:

4. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Der Streitwert wird auf 400,00 € festgesetzt.

Die Berufung gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Tatbestand:

5. Die Parteien streiten um Ausgleichsansprüche wegen der Annullierung eines Fluges von Schönefeld nach Palma de Mallorca. Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Leistung von Ausgleichszahlungen in Höhe von 400,00 € nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (nachfolgend: Fluggastrechteverordnung oder Verordnung).

6. Die Klägerin buchte bei der Beklagten eine Flugreise von Schönefeld (SXF) nach Palma de Mallorca (PMI). Der Flug mit der Flugnummer FR 110 sollte am Dienstag, 28.04.2016 um 11.20 Uhr in Schönefeld starten, planmäßige Ankunft in Mallorca war um 14.00 Uhr. Am 27.04.2016 erhielt die Klägerin von der Beklagten um 14.53 Uhr eine SMS und um 15.07 Uhr eine E-​Mail mit der Mitteilung, dass der Flug am 28.04.2016 ersatzlos gestrichen worden sei und sie daher zwischen einer Umbuchung des Fluges oder einer Kostenrückerstattung wählen könne. Die Klägerin nahm sodann von der Flugreise Abstand und ließ sich von der Beklagten den Flugpreis zurückerstatten.

7. Zwischen den Parteien steht es im Streit, ob die Stornierung des Fluges am 28.04.2016 auf einem Streik der französischen Fluglotsen beruhte. Unstreitig ist insoweit, dass am 26.04.2016 durch die Organisation zur zentralen Koordination der Luftverkehrskontrolle in Europa (Eurocontrol) eine Notice to Airmen (NOTAM) F0740/16 an alle Fluggesellschaften erging, dass es aufgrund eines Streiks in der zivilen französischen Luftfahrtbehörde zu bedeutenden Störungen in den französischen Service-​Bereichen kommen werde (Anlage B 1, Bl. 46 d. A.). Die Beklagte hat von den ursprünglich weit mehr als 1.300 Flügen, die am 28.04.2016 durchgeführt werden sollten, nach eigenem näher dargelegten Ermessen zur Sicherstellung einer zuverlässigen Flugplanung mit Einhaltung der maximalen Dienstzeit der jeweils eingesetzten Crew insgesamt 121 Flüge gestrichen – darunter auch den streitgegenständlichen Flug, den zugehörigen Rückflug FR 111 und einen weiteren Flug von Schönefeld nach Madrid (Anlage B 9; Bl. 114 ff. d. A.). Wegen der Einzelheiten für den Flug FR 110 wird auf die Darlegungen der Beklagten in den Schriftsätzen vom 20.02.2017 (dort Ziffer 7) und vom 07.04.2017 (dort Ziffer 13) Bezug genommen.

8. Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte sei nach der Fluggastrechteverordnung dazu verpflichtet, ihr für den stornierten Flug angesichts der unstreitigen Flugstrecke von mehr als 1.500 km eine Entschädigung in Höhe von 400,00 € zahlen.

9. Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 400,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 05.01.2017 zu zahlen.

10. Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11. Die Beklagte ist der Auffassung, der Klägerin keine Ausgleichszahlungen nach Art. 7 der Verordnung zu schulden. Ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen sei durch Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ausgeschlossen. Hierzu weist sie darauf hin, dass die Streichung des Fluges aufgrund eines Streiks der französischen Fluglotsen erfolgt sei und sie hierfür keine Verantwortlichkeit treffe. Die Beklagte behauptet, dass die Streichung des Fluges FR 110 am 28.04.2016 auf einer Überlastung des französischen Luftraums infolge eines Streiks der Fluglotsen, der vom 27.04.2016 um 17.00 Uhr UTC bis zum 29.04.2016 um 4.00 UTC angedauert habe, beruhe.

Entscheidungsgründe:

12. Die zulässige Klage ist unbegründet.

13. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die begehrte Ausgleichszahlung.

14. Ihr steht für den stornierten Flug vom 28.04.2016 kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400,00 € nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b), Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung zu.

15. a) Zwar mussten die Reisenden bei dem Flug FR 110 von Schönefeld (SXF) nach Palma de Mallorca (PMI) am 28.04.2016 eine Flugannullierung durch die Beklagte hinnehmen, was grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung begründet. Auch ein Ausnahmetatbestand nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung liegt angesichts der ausgesprochen kurzen Unterrichtungsfrist – in diesem Fall wurde der Klägerin die Annullierung ihres Fluges erst weniger als 24 Stunden vor dem planmäßigen Abflug mitgeteilt – und des fehlenden Angebots einer anderweitigen Beförderung im zeitlichen Rahmen des Buchstaben c) iii) nicht vor.

16. b) Eine Ausgleichzahlung nach Art. 7 der Verordnung ist jedoch gemäß Art. 5 Abs. 3 ausgeschlossen, da die Beklagte in diesem Rechtsstreit nachgewiesen hat, dass die Annullierung des Fluges FR 110 auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

17. aa) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es allgemein anerkannt, dass ein überlasteter Luftraum aufgrund Fluglotsenmangels dazu geeignet ist, außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung zu begründen. Der Begriff der außergewöhnlichen Umstände, der weder in Art. 2 noch in sonstigen Vorschriften der Verordnung definiert ist, meint bereits nach seinem Wortlaut Umstände, die nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann (vgl. BGH, Urteil vom 12.06.2014, Az.: X ZR 104/13, Rn. 10 bei Juris). Hierdurch werden Ereignisse erfasst, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als jedenfalls in der Regel von außen kommende besondere Umstände seine ordnungs- und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Umstände, die im Zusammenhang mit einem den Luftverkehr störenden Vorfall wie einem technischen Defekt auftreten, können nur dann als außergewöhnlich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung eingestuft werden, wenn sie auf ein Vorkommnis zurückgehen, das wie die in Erwägungsgrund 14 der Verordnung aufgezählten Vorkommnisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen ist. Der Bundesgerichtshof hat hieraus abgeleitet, dass technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, grundsätzlich keine außergewöhnliche Umstände begründen, sondern Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind (vgl. BGH, aaO., m. w. N.). Die für technische Defekte entwickelten Maßstäbe sind auch dann heranzuziehen, wenn Vorkommnisse wie etwa die in Erwägungsgrund 14 beispielhaft genannten Fälle politischer Instabilität, mit der Durchführung eines Flugs nicht zu vereinbarende Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken und den Betrieb eines Luftfahrtunternehmens beeinträchtigende Streiks als Ursache außergewöhnlicher Umstände in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 21.08.2012, Az.: X ZR 138/11, Rn. 17 zum Fall der Ankündigung eines Pilotenstreiks; BGH, Urteil vom 12.06.2014, Az.: X ZR 121/13, Rn. 13 zum überlasteten Luftraum aufgrund Fluglotsenmangels).

18. bb) Aufgrund eines Streiks der französischen Fluglotsen, der vom 27.04.2016 um 17.00 Uhr UTC bis zum 29.04.2016 um 4.00 UTC andauerte, ist durch Eurocontrol am 26.04.2016 die NOTAM F0740/16 an alle Fluggesellschaften ergangen, dass es am 28.04.2016 aufgrund des Streiks in der zivilen französischen Luftfahrtbehörde zu bedeutenden Störungen in den französischen Service-​Bereichen kommen werde. Eine Beweiserhebung zu der von der Klägerin bestrittenen Tatsache des Fluglotsenstreiks am 28.04.2016 war in diesem Verfahren entbehrlich, da es aus anderen Gerichtsverfahren gerichtsbekannt ist, dass der für den genannten Zeitraum angekündigte Fluglotsenstreik auch tatsächlich stattgefunden hat. Angesichts der konkreten und substantiierten Darlegungen der Beklagten zu dem Fluglotsenstreik vom 28.04.2016 in der Klageerwiderung vom 20.02.2017 wäre das einfache Bestreiten des Streiks in der Replik der Klägerin ohnehin prozessual unzureichend gewesen (vgl. auch AG Köln, Urteil vom 28.02.2017, Az.: 121 C 343/16, ebenfalls zum Streik der französischen Fluglotsen am 28.04.2016, Anlage B 10). Der Klägerin war es für das öffentliche und allgemein bekannte Ereignis eines Streiks grundsätzlich zumutbar, eine etwaige spätere Absage der unstreitig angekündigten und durch die NOTAM F0740/16 bestätigten Streikmaßnahme konkret darzulegen. Erst mit einem derartigen „substantiierten Bestreiten“ hätte die Klägerin ihrer (sekundären) Darlegungslast genügt und eine Beweisaufnahme über das tatsächliche Stattfinden des Streiks auslösen können. Ein solcher Tatsachenvortrag war ihr jedoch unter Beachtung der prozessualen Wahrheitspflicht nicht möglich, da der Streik – wie dem Gericht bekannt – tatsächlich am 28.04.2016 stattgefunden hat.

19. Die Beklagte war aufgrund des Streiks und der hierauf bezogenen Störungsankündigung von Eurocontrol gehalten, ihr Flugprogramm kurzfristig für den 28.04.2016 in einem angemessenen Umfang zu reduzieren, um trotz des Streiks die Mehrzahl der geplanten Flüge möglichst ohne große Verspätung durchführen zu können. Zwischen den Parteien ist es unstreitig, dass die Beklagte daraufhin den Flug FR 110 von Schönefeld (SXF) nach Palma de Mallorca (PMI) und weitere 120 Flüge am 28.04.2016 wegen der absehbaren Überlastung des französischen Luftraums gestrichen hat. Unstreitig ist auch, dass der streitgegenständliche Flug zwingend über französische Fluginformationsgebiete führen musste. Ein Umfliegen des vom Streik betroffenen Luftraums hat die Klägerin in diesem Rechtsstreit nicht als Option in den Raum gestellt. Es wäre auch bei einem Streik der französischen Fluglotsen für den konkreten Flug in tatsächlicher Hinsicht erkennbar aussichtslos.

20. Bei der Überlastung des französischen Luftraums wegen fehlender Fluglotsen handelt es sich um Umstände, die die Luftverkehrsabläufe im europäischen Luftraum beeinträchtigten, da die Sicherheit des Luftverkehrs trotz der gegebenen widrigen Umstände aufrechterhalten werden musste und Verspätungen und Ausfälle bei den unmittelbar betroffenen Flügen mithin jedenfalls von den Luftverkehrsunternehmen nicht verhindert werden konnten. (Primäre) Ursache des Flugausfalls waren folglich von außen auf den gesamten Flugbetrieb und auf die normale Tätigkeit der Luftverkehrsunternehmen einwirkende Umstände. Wie sonstige Ausfälle und Beeinträchtigungen bei der Überwachungs- und Sicherungstätigkeit der Fluglotsen konnten die ausfallbedingten Gegebenheiten von dem einzelnen Luftverkehrsunternehmen weder beherrscht noch beeinflusst werden (vgl. grundsätzlich zu den Auswirkungen eines Streiks: BGH, Urteil vom 21.08.2012, Az.: X ZR 138/11, Rn. 19 u. 20). Dieses Normverständnis wird durch Erwägungsgrund 15 der Verordnung gestützt. Danach soll von außergewöhnlichen Umständen ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des „Flugverkehrsmanagements“ zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt. Es ist nichts dafür ersichtlich und wird von der Klägerin auch nicht vorgetragen, dass für die Beklagte die Möglichkeit bestanden hätte, trotz des Streiks der französischen Fluglotsen ihr für den 28.04.2016 geplantes Flugprogramm uneingeschränkt durchzuführen.

21. cc) Die Beklagte hat im Weiteren von dem ihr eingeräumten vernünftigen Ermessen Gebrauch gemacht und den streitgegenständlichen Flug gestrichen.

22. Dass die Streichung des Fluges mit der Flugnummer FR 110 am 28.04.2016 ursächlich auf dem Streik der französischen Fluglotsen und den Vorgaben von Eurocontrol beruhte, liegt angesichts des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs nach allgemeiner Lebenserfahrung nahe. Andere Ursachen sind fernliegend und werden von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Soweit die Klägerin den streikbedingten Ausfall des Fluges mit Nichtwissen bestreitet, ist dies angesichts der konkreten Darlegungen der Beklagten in dem Schriftsatz vom 07.04.2017 unbeachtlich. Auf das vertiefte Tatsachenvorbringen der Beklagten in dem Schriftsatz vom 07.04.2017, mit dem auch eine Liste aller am 28.04.2016 gestrichenen Flüge vorgelegt worden ist, hat die Klägerin in diesem Verfahren geschwiegen. Auch nachdem das Gericht in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass es dieses ergänzende Vorbringen für ausreichend, wesentlich und streitentscheidend hält, hat die Klägerin hierzu weder mündlich Stellung genommen noch einen Schriftsatznachlass beantragt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war jedoch das einfache Bestreiten der Klägerin prozessual nicht mehr ausreichend (so im Ergebnis auch AG Köln, aaO.).

23. dd) Die Beklagte hat außerdem ausreichend und in tatsächlicher Hinsicht unbestritten dargelegt, dass sie alle ihr zumutbaren und möglichen Maßnahmen ergriffen hat, um die Streichung des Fluges mit der Flugnummer FR 110 am 28.04.2016 zu vermeiden.

24. (1) Gegebenheiten wie die in Rede stehenden Störungen der Luftverkehrskontrolle im französischen Luftraum begründen nicht zwangsläufig außergewöhnliche Umstände, auf die die Annullierung oder große Verspätung zurückgeht. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn das Luftverkehrsunternehmen trotz Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen die Annullierung oder große Verspätung nicht verhindern kann oder sie auch mit diesen Maßnahmen nicht hätte verhindern können (vgl. EuGH, Wallentin-​Hermann/Alitalia Rn. 22; BGHZ 194, 258 Rn. 11). Das Luftverkehrsunternehmen muss mithin alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch Umstände wie die im Streitfall zu beurteilende Störung einer sicherheitsrelevanten Flughafeneinrichtung – hier der Überwachungs- und Sicherungstätigkeit der Fluglotsen – genötigt ist, einen Flug zu annullieren.

25. (2) Die Beklagte hat sich bei ihrer Annullierungsentscheidung nach ihrem unbestrittenen Vorbringen im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten darum bemüht, am 28.04.2016 möglichst wenig Flüge zu streichen, die den französischen Luftraum überfliegen sollten. Das Bemühen um eine möglichst geringe Beeinträchtigung der eigenen Flugplanung wird bereits durch die von der Beklagten erreichte geringe Annullierungsrate von weniger als 10 % der geplanten Flüge belegt.

26. (3) Bei der weiteren gerichtlichen Überprüfung der unternehmerischen Entscheidungen der Beklagten kommt es im Weiteren darauf an, ob das ausführende Flugunternehmen den ihm gegebenen Spielraum bei der Entscheidung, ob ein Flug wegen außergewöhnlicher Umstände annulliert wird, im Rahmen des eingeräumten vernünftigen Ermessens ohne Willkür ausgeübt hat. Hierbei ist es dem Flugunternehmen insbesondere erlaubt, auf den verbleibenden Flugplan und den von ihr geplanten Umlauf für die jeweilige Maschine Rücksicht zu nehmen (vgl. BGH, Urteil vom 25.03.2010, NJW-​RR 2010, 1641). Die Beklagte hat zu den diesbezüglichen Einzelheiten in der Klageerwiderung vom 20.02.2017 und dem Schriftsatz vom 07.04.2017 konkret für den Flug FR 110 hinreichend substantiiert, nachvollziehbar und unbestritten vorgetragen, so dass keine Anhaltspunkte für einen unvernünftigen Ermessensgebrauch bei der für die Klägerin nachteiligen Streichungsentscheidung bestehen. Es ist nicht ersichtlich, durch welche Maßnahmen die Beklagte die streikbedingte Streichung des Fluges FR 110 am 28.04.2016 hätte verhindern können, ohne zugleich die Flüge anderer Fluggäste annullieren zu müssen oder deren große Verspätung in Kauf zu nehmen.

27. (4) Angesichts der Vielzahl denkbarer außergewöhnlicher Umstände sowie der Unübersehbarkeit des Ausmaßes und der Dauer der hierdurch verursachten Beeinträchtigungen überspannt es einen wirtschaftlich vernünftigen Maßstab, von einem Luftverkehrsunternehmen zu verlangen, für jede denkbare Störung des Luftverkehrs in einer Weise gerüstet zu sein, die es erlaubt, durch den Einsatz zusätzlicher Flugzeuge und gegebenenfalls auch zusätzlichen Personals dafür zu sorgen, dass Annullierungen und diesen in den rechtlichen Folgen gleichkommende große Verspätungen stets vermieden werden können. Denn dies erforderte einen personellen und finanziellen Aufwand, der von den Luftverkehrsunternehmen zu Lasten der Verbraucher über die Beförderungspreise gedeckt werden müsste und im Übrigen Art. 5 Abs. 3 der Verordnung im Wesentlichen seines Anwendungsbereichs berauben würde. Wenn die Fluggastrechteverordnung nach Erwägungsgrund 1 ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherstellen soll und Erwägungsgrund 12 das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten anspricht, die durch eine Annullierung – und eine ihr in den Folgen gleichkommende Ankunftsverspätung – entstehen und gegebenenfalls durch eine Ausgleichszahlung verringert werden sollen, will der Verordnungsgeber lediglich sicherstellen, dass die Luftverkehrsunternehmen auch unter außergewöhnlichen Umständen alle ihnen in dieser Situation zur Verfügung stehenden und zumutbaren Möglichkeiten ausschöpfen, um ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Fluggästen möglichst uneingeschränkt nachzukommen und Annullierungen oder große Verspätungen zu vermeiden. Eine Garantie zur Durchführung jeden Fluges unter allen Umständen ist damit nicht verbunden. Insbesondere ist die Beklagte nicht dazu verpflichtet, auch diejenigen Flüge aufrechtzuerhalten, bei denen wegen der Überlastung des Luftraums von vorneherein ersichtlich ist, dass keine Chance besteht, diese in einem geordneten Umlaufverfahren ohne große Verspätungen in jedem Einzelflug durchzuführen.

28. (5) Schließlich ist auch zu beachten, dass es gerade Sinn und Zweck eines Streiks der Fluglotsen ist, für möglichst schwerwiegende, nicht aufzufangende Störungen und Verzögerungen im Flugablauf zu sorgen, um hierdurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Forderungen der Streikenden zu lenken (vgl. hierzu auch AG Geldern, Urteil vom 20.09.2016, Az.: 17 C 55/16). Es ist auch aus dem Klagevorbringen nicht ersichtlich, welche zumutbaren und möglichen Maßnahmen zur Durchführung des Fluges FR 110 die Beklagte angesichts des Streiks der französischen Fluglotsen versäumt haben sollte. Allein aus der Tatsache, dass es der Beklagten nicht gelungen ist, die durch den Streik der Fluglotsen entstandenen Störungen für den Flug FR 110 aufzufangen, folgt daher nicht, dass sie der Klägerin hierfür eine Ausgleichszahlung leisten muss.

29. c) Soweit die Klägerin beanstandet, die Beklagte habe ihr keine oder nur unzureichende Unterstützungsleistungen nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) und b), Art 8 und Art. 9 der Verordnung angeboten, würde ein solcher Rechtsverstoß der Beklagten nicht als „Sanktion“ eine Pflicht zur Erbringung von Ausgleichszahlungen nach Art. 7 der Verordnung auslösen. Das hierauf bezogene Klägervorbringen ist daher nicht dazu geeignet, die mit der Klage verfolgten Zahlungsansprüche zu begründen.

30. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.

31. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 11 i. V. m. § 711 ZPO.

32. Die Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 ZPO liegen vor, so dass der Anregung der Klägerin folgend die Berufung gegen dieses Urteil zuzulassen ist. Angesichts der inhaltlich vielfältigen gerichtlichen Entscheidungen zu den Rechtsfragen bei einem Verlangen nach Ausgleichszahlungen wegen streikbedingter Annullierung von Flügen ist zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erforderlich.

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