Auslegung des Rechtsbegriffs der „vertretbaren Gründe“ für die Nichtbeförderung von Fluggästen

LG Frankfurt: Auslegung des Rechtsbegriffs der „vertretbaren Gründe“ für die Nichtbeförderung von Fluggästen

Ein Reisender buchte bei einer Fluggesellschaft einen Flug mit Zwischenlandung. Als der Reisende den Flug antreten wollte, wurde ihm das Betreten des Flugzeuges und somit die Beförderung verweigert.

Die Fluggesellschaft gab als Grund die Beschädigung des Zielflughafens und der umliegenden Region an.

Der Reisende klagte wegen der Beförderungsverweigerung vor dem Amtsgericht (kurz: AG) Frankfurt und bekam teilweise recht. Er ging anschließend vor das Landgericht (kurz: LG) Frankfurt in Berufung und klagte auf das Leisten einer Ausgleichszahlung durch die Fluggesellschaft. Das LG Frankfurt kam zu keiner Entscheidung und gab eine Frage an den Europäischen Gerichtshof (kurz: EuGH) weiter.

LG Frankfurt 2-24 S 185/11 (Aktenzeichen)
LG Frankfurt: LG Frankfurt, Urt. vom 01.03.2012
Rechtsweg: LG Frankfurt, Urt. v. 01.03.2012, Az: 2-24 S 185/11
AG Frankfurt, Urt. v. 04.05.2011, Az: 29 C 2336/10 (73)
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Landgericht Frankfurt

1. Urteil vom 01. März 2012

Aktenzeichen 2-24 S 185/11

Leitsatz:

2. Die Entscheidung ist abhängig von der Antwort des EuGH auf die Frage, ob die „vertretbaren Gründe“ aus Art. 2 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 auch Gründe außerhalb der Person des Fluggastes sein können, wie zum Beispiel höhere Gewalt.

Zusammenfassung:

3. Der Kläger buchte bei der Beklagten einen Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo für den 03.03.2010. Er ist Arzt und hatte in Abstimmung mit der deutschen Botschaft im Erdbebengebiet helfen wollen. Am 04.03.2010 wollte der Kläger von Sao Paulo nach Santiago de Chile weiterfliegen. Die Flugstrecke von Frankfurt am Main nach Sao Paulo beträgt über 2500 Kilometer. Der Rückflug war für den 17.03.2010 gebucht und sollte von Santiago de Chile nach Sao Paulo und von dort aus nach Frankfurt am Main gehen.

Am 27.02.2010 kam es in Chile zu einem Erdbeben der Stärke 8,8, dabei wurde auch der Flughafen Santiago de Chile beschädigt.

Am 03.03.2010 fand sich der Kläger pünktlich zum Check-In am Flughafen Frankfurt am Main ein und wollte seinen Flug nach Sao Paulo antreten. Der Flug fand planmäßig statt, jedoch wurde ihm die Teilnahme am Flug verweigert. Der Weiterflug nach Santiago de Chile war nicht möglich und der Flughafen Sao Paulo überfüllt. Der Kläger wäre am Flughafen Sao Paulo gestrandet gewesen. Die Beklagte hatte dem Kläger angeboten die Kosten für einen Flug nach Santiago de Chile zu übernehmen, sollte es ihm gelingen einen zu finden. Der Kläger erreichte Santiago de Chile daher erst mit einer Verspätung von 24 Stunden.

Der Kläger forderte eine Ausgleichsleistung, die Fluggesellschaft verweigerte ihm diese.

Der Kläger verklagte daher die Beklagte auf das Zahlen einer Ausgleichsleistung in Höhe von 600 €, sowie der Erstattung der Ticketkosten. Das AG Frankfurt lehnte die Klage ab, die Beklagte hatte zuvor noch der Erstattung der Beförderung nach Chile zugestimmt. Da er die Ausgleichsleistung nicht zugesprochen bekam, zog der Kläger vor das LG Frankfurt. Dieses gab an den EuGH die Frage weiter ob in den vertretbaren Gründen aus Art. 2 lit. j der Verordnung (EG) 261/2004 auch außergewöhnliche Umstände einbezogen sind, die nichts mit der Person des Fluggastes zu tun haben. Bis zur Antwort war das Verfahren ausgesetzt.

Tenor:

4. I.

Das Verfahren wird ausgesetzt.

II.

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 2 lit. j der Verordnung (EG) 261/2004 des Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 vom 11. Februar 2004 (ABl. EG L 46 vom 17. Februar 2004 S. 1 ff.) folgende Frage vorgelegt:

Ist Art. 2 lit. j der Verordnung (EG) 261/2004 im Hinblick auf die dort genannten „vertretbaren Gründe“ dahingehend auszulegen, dass „vertretbare Gründe“ nur in der Person des Fluggastes liegende Gründe sein können, die den Luftverkehr oder andere Passagiere in ihrer Sicherheit gefährden oder sonstige, öffentliche oder vertragliche Belange berühren oder können „vertretbare Gründe“ auch sonstige Gründe außerhalb der Person des Fluggastes sein, wie z.B. insbesondere Fälle der höheren Gewalt?

Gründe

I.

5. Der Kläger begehrt von der Beklagten im Rahmen des hiesigen Berufungsverfahrens noch die Leistung einer Ausgleichszahlung in Höhe von 600,- Euro wegen einer Nichtbeförderung gemäß Art. 2 lit. j, 4 III und 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004).

6. Der Kläger buchte verschiedene Flüge bei der Beklagten und bezahlte diese vor Reiseantritt.

7. Bei der Beklagten gebucht waren die Strecke Frankfurt am Main – Sao Paulo mit der Flugnummer … am 03.03.2010 sowie ein sich mit einem anderen Fluggerät anschließender Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile mit der Flugnummer … am 04.03.2010. Die Flugstrecke von Frankfurt am Main nach Sao Paulo beträgt mehr als 2.500 Kilometer. Der Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo sollte durch die Beklagte als ausführendes Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden. Der Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile unter der Flugnummer … sollte dagegen von der Luftfahrtgesellschaft … als ausführendes Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden.

8. Der Rückflug war gebucht am 17.03.2010 von Santiago de Chile nach Sao Paulo (Flugnummer …) sowie von Sao Paulo nach Frankfurt am Main (Flugnummer … – Beklagte).

9. Am 27.02.2010 trat in Chile ein Erdbeben mit der Stärke 8,8 auf bei dem auch der letzte Zielflughafen in Santiago de Chile beschädigt wurde.

10. Am 03.03.2010 traf der Kläger rechtzeitig am Flughafen Frankfurt am Main ein und checkte unter Vorlage einer bestätigten Buchung ein. Die Beförderung wurde ihm jedoch verweigert, obwohl der Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo planmäßig stattfand. Sämtliche anderen auf den Flug Frankfurt am Main – Sao Paulo gebuchten Passagiere wurden befördert. Der Kläger wehrte sich vehement gegen die Nichtbeförderung. Die Beklagte verweigerte dem Kläger aber dennoch die Beförderung, obwohl ausreichend Platz (113 Sitzplätze standen noch zur Verfügung) vorhanden war.

11. Der Flug von Sao Paulo nach Santiago de Chile wurde annulliert.

12. Weil der Kläger dringend die Reise antreten wollte bat er die Beklagte, ihm eine Ersatzbeförderung, etwa am nächsten Tag. zu gewähren. Nach einigem Hin und Her buchte die Beklagte den Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo auf einen … -Flug am nächsten Tag um. Den Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile vermochte die Beklagte jedoch nicht zu organisieren, der Kläger buchte diesen Flug selbst. Der Flug einer Mitreisenden des Klägers wurde ebenfalls umgebucht; jedoch war es der Beklagten hier möglich, auch den Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile ohne zusätzliche Kosten für die Mitreisende umzubuchen. Der Kläger kam aufgrund der Nichtbeförderung 24 Stunden später als ursprünglich geplant in Santiago de Chile an. Eine Ersatzbeförderung im Sinne eines Fluges zu einem in der Nähe von Santiago de Chile gelegenen Flughafen wurde dem Kläger nicht angeboten.

13. Der Kläger hat außergerichtlich versucht, seine von ihm behaupteten Ansprüche durchzusetzen.

14. Der Kläger behauptet, es habe am 04.03.2010 keine Luftraumsperren oder Flughafensperren betreffend den Flughafen von Santiago de Chile gegeben. Zudem sei nicht nachvollziehbar, warum dann nur der Kläger und nicht auch andere Mitreisende mit demselben Zielort, wie etwa Frau …, von dem Flug nach Sao Paulo ausgeschlossen worden seien. Er habe sich gegen die Nichtbeförderung stark gewehrt und zu diesem Zwecke sogar die Flughafenpolizei eingeschaltet. Diese habe die Schaltermitarbeiter darauf hingewiesen, dass ihm im Falle der Nichtbeförderung Entschädigungsansprüche zustünden. Er behauptet des Weiteren, die Beklagte sei ab dem 03.03.2010, nicht wie sonst zweimal täglich, sondern mindestens dreimal täglich von Sao Paulo nach Santiago de Chile geflogen. Auch hätten andere Fluggesellschaften in dieser Zeit mehrere Flüge auf dieser Strecke durchgeführt, so dass eine Weiterbeförderung von Sao Paulo nach Santiago de Chile auf vielfältigem Weg möglich gewesen wäre. Er selbst habe kein vermehrtes Passagieraufkommen auf dem Flughafen in Sao Paulo aufgrund des Erdbebens bemerkt. Selbst wenn dort zuvor wartende Passagiere gewesen sein sollten, so sei nicht ersichtlich, warum die Beklagte sich nicht auf diese veränderten Umstände eingestellt habe. Er habe zwar nach Santiago de Chile gewollt, habe aber ausdrücklich zunächst die Beförderung nach Sao Paulo verlangt, selbst wenn die Beklagte dann in Sao Paulo die Weiterbeförderung nach Santiago de Chile abgelehnt hätte. Die Beklagte habe daraufhin die Beförderung schlechthin verweigert. Ihm sei es aber sehr dringend gewesen, nach Brasilien zu gelangen; er habe in Abstimmung mit der Deutschen Botschaft in Chile als Arzt im Erdbebengebiet helfen wollen. Erst nach mehrmaligen Anrufen am 04.03.2010 habe die Beklagte ihn dann auf einen … Flug nach Sao Paulo am nächsten Tag umgebucht.

15. Er behauptet, die Mitarbeiter der Beklagten hätten ihn darauf hingewiesen, eine Umbuchung auf einen anderen Flug von Sao Paulo nach Santiago de Chile sei nicht möglich; er solle selbst einen solchen Flug suchen und buchen, die Kosten würden ihm auf Nachweis erstattet werden. Er behauptet weiter, die Beklagte habe sich keinesfalls um ihn bemüht; vielmehr sei er selbst sehr engagiert gewesen, um eine Umbuchung zu erhalten. Die Beklagte sei sogar einige Zeit nicht telefonisch erreichbar gewesen.

16. Der Kläger ist der Auffassung, dass vorliegend ein Fall der Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j, 4 III und 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004 gegeben sei. Insbesondere hätten für die Nichtbeförderung seiner Person keine vertretbaren Gründe im Sinne von Art. 2 lit. j Fluggastrechteverordnung vorgelegen.

17. Der Kläger hat in erster Instanz beantragt:

1.

18. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.236,36 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.04.2010 zu zahlen,

2.

19. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 186,24 Euro vorgerichtliche Kosten zu zahlen.

20. Die Beklagte hat in erster Instanz beantragt,

21. die Klage abzuweisen.

22. Die Beklagte behauptet, zu dem gebuchten Zeitpunkt sei die Beförderung von Fluggästen auf der Strecke von Europa nach Santiago de Chile objektiv unmöglich gewesen. Am 03.03.2010 seien in Frankfurt am Main deshalb auch keine Passagiere nach Santiago de Chile eingecheckt worden. Durch das am 27.02.2010 erfolgte Erdbeben sei die Flughafenanlage von Santiago de Chile teilweise zerstört gewesen. Der Flughafen habe den Flugbetrieb ausgesetzt, um sich ganz der Reparatur der entstandenen Schäden widmen zu können. Erst am 02.03.2010 sei der Flugbetrieb teilweise wieder aufgenommen worden. An diesem Tag seien ausschließlich „national carriers“ gestartet; erst am 03.03.2010 habe der Flughafen den ausländischen Flugverkehr teilweise wieder zugelassen. Auch sie selbst habe überraschend am 03.03.2010 und nicht, wie ursprünglich gedacht, erst am 05.03.2010, zwei Flüge planmäßig durchführen können. Aufgrund der vorangegangenen Flugsperre habe es viele Passagiere gegeben, die am Flughafen Sao Paulo auf ihren Weiter- oder Rückflug gewartet hätten, so dass dieser Flughafen überfüllt gewesen sei. Es hätten alleine annähernd 3.000 Chilenen auf dem Flughafen Sao Paulo auf eine Weiterreise nach Santiago de Chile gewartet. Die Hotelkapazitäten seien erschöpft gewesen. Diese Überfüllung habe zu einer katastrophalen und belastenden Situation auf dem Flughafen Sao Paulo geführt. Sie habe daher die früher als erwartet genehmigten Flüge zum Anlass genommen, die wartenden Passagiere zunächst vom Flughafen Sao Paulo nach Santiago de Chile zu transportieren. Insoweit ist die Beklagte auch der Ansicht, dass diese Vorgehensweise berechtigt gewesen sei. Durch die Zeitverschiebung zwischen der mitteleuropäischen Zeit und der brasilianischen Zeit sei es den Flughafenmitarbeitern in Frankfurt am Main am 03.03.2010 nicht möglich gewesen, von dieser Möglichkeit zu erfahren; somit sei die Umbuchung des Klägers auf einen anderen Flug von Sao Paulo nach Santiago de Chile nicht möglich gewesen. Des Weiteren habe sie am 03.03. und 04.03.2010 zunächst die Flugpassagiere befördern wollen, die die Tage zuvor nicht befördert werden konnten. Vereinzelt seien aber Passagiere darunter gewesen, die damit einverstanden waren, sich ab Sao Paulo um eine eigene Weiterreise zu kümmern; der Kläger habe aber ausdrücklich die Weiterreise nach Santiago de Chile verlangt. Diese Weiterreise habe sie aber aufgrund der dort herrschenden Verhältnisse nicht leisten können und auch wollen; der Kläger habe nicht in dieser Situation in Sao Paulo „ausgesetzt“ werden sollen. Insofern habe sie ihrer Fürsorgepflicht nachkommen wollen. Insoweit sei ihr auch ein Ermessensspielraum einzuräumen, ob eine „Teilbeförderung“ nach Sao Paulo sinnvoll gewesen wäre. Oberstes Ziel in einer derartigen Situation müsse sein, das so genannte „Stranden“ von Passagieren nach Möglichkeit zu verhindern. Auch sei festzuhalten, dass am 03.03.2010 keine Passagiere einen Flug angetreten hätten, die nach Santiago de Chile hätten reisen wollen. Eine Belehrung der Flughafenmitarbeiter durch die Flughafenpolizei habe nicht stattgefunden.

23. Die vom Kläger angegebene Mitreisende … habe sich bereits am 27.03.2010 für eine Umbuchung entschieden; zum Zeitpunkt der Umbuchung des Klägers sei dieser, für die Mitreisende gebuchte Flug, dann aber wohl ausgebucht gewesen. Der Kläger habe sich dann dafür entschieden, nur die Umbuchung nach Sao Paulo durchführen zu lassen. Vor Ort habe er sich dann um eine Weiterreise selbst bemühen wollen. Sie habe dies als Kündigung der Teilleistung aufgefasst. Des Weiteren behauptet sie, eine zumutbare Ersatzbeförderung sei gerade nicht möglich gewesen. Von den Motiven, die den Kläger zu dieser Reise animierten, habe sie nichts gewusst. Auch seien diese Motive nicht nachvollziehbar, denn das Erdbeben habe erst nach der Buchung stattgefunden.

24. Die Beklagte ist der Auffassung, dass sie exkulpiert und von der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung befreit sei, da sie den Kläger aufgrund höherer Gewalt (Erdbeben) nicht nach Santiago de Chile habe befördern können.

25. Mit Schriftsatz vom 16.02.2011 hat die Beklagte ohne Anerkennung einer Rechtspflicht im Hinblick auf die Hauptsachegesamtklageforderung von 1.236,36 Euro die Klageforderung in Höhe von 636,36 Euro anerkannt. Darin enthalten sind die Kosten des vom Kläger bezahlten Ersatzfluges von Sao Paulo nach Santiago de Chile in Höhe von 593,66 Euro sowie die Taxikosten in Höhe von 42,70 Euro.

26. Daraufhin hat das Amtsgericht Frankfurt am Main unter dem 09.03.2011 ein Teil-​Anerkenntnisurteil über 636,00 Euro erlassen und verkündet.

27. Der Kläger hat an der noch verbleibenden Klageforderung in Höhe von 600,00 Euro = Ausgleichsanspruch gemäß der VO (EG) Nr. 261/2004 festgehalten.

28. Mit Schlussurteil vom 04.05.2011 hat das Amtsgericht Frankfurt am Main dem Kläger im Hinblick auf den von der Beklagten bereits anerkannten Betrag Zinsen zugesprochen. Weiterhin hat es vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 93,12 Euro zugesprochen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, also insbesondere auch im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf eine Ausgleichszahlung von 600,- Euro.

29. Das Amtsgericht hat zur Begründung ausgeführt, dass wenn man davon ausgehe, dass die wegen der Annullierung des zweiten Flugabschnittes erfolgte Nichtmitnahme des Klägers auf dem ersten Flugabschnitt nach Artikel 5 der VO (EG) Nr. 261/2004 zu beurteilen sei, so scheitere der Ausgleichsanspruch des Klägers daran, dass die Annullierung des zweiten Flugabschnitts auf außergewöhnliche Umstände, nämlich das Erdbeben in Chile und die dadurch erfolgte Beschädigung des Zielflughafens Santiago de Chile nebst dessen teil- bzw. zeitweiser Sperrung zurückgehe mit der Folge, dass die Beklagte nicht verpflichtet sei, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten (Absatz 3 des Artikels 5 der VO (EG) Nr. 261/2004). Dass es sich bei dem Erdbeben in Chile um einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der vorgenannten Vorschrift handele, liege auf der Hand und bedürfe daher keiner weiteren Darlegung. Im Hinblick auf die Zustände auf den Flughäfen Santiago de Chile und Sao Paulo ist das Amtsgericht ohne Beweisaufnahme dem Beklagtenvortrag gefolgt. Weiterhin sei die Beklagte aufgrund der Zustände auf dem Flughafen Sao Paulo auch nicht verpflichtet gewesen, den Kläger lediglich bis nach Sao Paulo zu befördern.

30. Weiterhin hat das Amtsgericht auch eine Nichtbeförderung gemäß Artikel 4 der VO (EG) Nr. 261/2004 verneint. Diesbezüglich ist das Amtsgericht der Auffassung, dass vorliegend aufgrund der Gesamtumstände „vertretbare Gründe“ für die Nichtbeförderung Vorgelegen hätten.

31. Mit Schriftsatz vom 08.09.2011, beim erkennenden Gericht eingegangen am 09.09.2011, hat der Kläger gegen das ihm am 29.08.2011 zugestellte Urteil des Amtgerichts Frankfurt am Main Berufung eingelegt.

32. Mit Beschluss vom 01.11.2011 hat das Amtsgericht Frankfurt am Main sowohl das Teil-​Anerkenntnisurteil vom 09.03.2011 sowie das Schlussurteil vom 04.05.2011 gem. § 319 ZPO wegen offensichtlicher Unrichtigkeiten berichtigt. Insbesondere wurde das Teil-​Anerkenntnisurteil vom 09.03.2011 dahingehend berichtigt, dass der Betrag der Verurteilung sich auf 636,36 Euro beläuft. Entsprechend ist die Zinsforderung im Schlussurteil berichtigt worden.

33. Mit Schriftsatz vom 04.10.2011, beim erkennenden Gericht eingegangen am 08.10.2011, hat der Kläger die Berufung begründet.

34. Der Kläger wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen und vertieft dieses. Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, dass vorliegend ein Fall der Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j, 4 III und 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004 gegeben sei. Insbesondere hätten für die Nichtbeförderung seiner Person keine vertretbaren Gründe im Sinne von Art. 2 lit. j Fluggastrechteverordnung vorgelegen. Nach Auffassung des Klägers könnten „vertretbare Gründe“ im Sinne von Art. 2 lit. j VO nur dann angenommen werden, wenn diese in der Person des Reisenden vorliegen würden, was hier nicht gegeben sei.

35. Der Kläger beantragt,

36. unter Abänderung des am 04.05.2011 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main (Az. 29 C 2336/10 (73)), die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 600,36 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.04.2010 sowie 93,12 Euro vorgerichtliche Kosten zu zahlen.

37. Die Beklagte beantragt,

38. die Berufung zurückzuweisen.

39. Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Die Beklagte ist insbesondere der Auffassung, dass „vertretbare Gründe“ im Sinne von Art. 2 lit. j VO nicht zwingend in der Person des Fluggastes begründet sein müssen, sondern auch sonstige Gründe ausreichen können.

II.

40. Die Berufung ist nach Auffassung der Kammer zulässig, da vorliegend nach den Gesamtumständen die Kammer über die Zulassung der Berufung zu entscheiden hat (vgl. Urteile des BGH v. 14.11.2007, Az. VIII ZR 340/06, zit. nach juris Ziffer 12 und v. 10.02.2011, Az. III ZR 338/09, zit. nach juris Ziffer 15) und vorliegend die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen ist.

41. Die Entscheidung über die Berufung hängt davon ab, ob dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 der FlugastrechteVO zusteht.

42. Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat das Vorliegen eines Ausgleichszahlungsanspruchs des Klägers verneint.

43. Dies hält einer Überprüfung unter anderem nur dann Stand, wenn Art. 2 lit. j FluggastrechteVO dahingehend auszulegen ist, dass „vertretbare Gründe“ auch solche Gründe umfassen, die nicht in der Person des Fluggastes liegen, wie z.B. Fälle der höheren Gewalt.

1.

44. Soweit sich das Amtsgericht mit der Frage eines Ausgleichszahlungsanspruchs nach Art. 5 FluggastrechteVO wegen der Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile und dem Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 5 III FluggastrechteVO auseinandergesetzt hat, ist dies nach Auffassung der Kammer nicht entscheidungserheblich.

45. Nach Auffassung der Kammer wirkt sich die Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile rechtlich nicht auf den vorangehenden Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo aus. Bei den beiden mit unterschiedlichen Flugnummern genannten Flügen, die auch mit unterschiedlichen Fluggeräten durchgeführt werden sollten, handelt es sich nicht um einen einheitlichen Flug, sondern vielmehr um zwei separate eigenständige Flüge. Dies ergibt sich vorliegend schon daraus, dass hinsichtlich des Fluges von Frankfurt am Main nach Sao Paulo die Beklagte ausführendes Luftfahrtunternehmen und für den Flug Sao Paulo nach Santiago de Chile die Fluggesellschaft … ausführendes Luftfahrtunternehmen war.

46. Danach ist die Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile vorliegend für den Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo unerheblich.

47. Auf die Frage eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 5 III FluggastrechteVO kommt es danach zwangsläufig auch nicht an.

2.

48. Nach Auffassung der Kammer ist vorliegend allein entscheidungserheblich, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine Ausgleichszahlung wegen Nichtbeförderung gem. Art. 2 lit. j, 4 III und 7 der Fluggastrechteverordnung anzunehmen sind.

49. Es ist zunächst unzweifelhaft, dass dem Kläger die Beförderung gem. Art. 4 III FluggastrechteVO gegen seinen Willen verweigert worden ist.

50. Ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung setzt weiterhin das Vorliegen einer Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j FluggastrechteVO voraus.

51. Die „Nichtbeförderung“ ist in Art. 2 lit. j FluggastrechteVO legaldefiniert. Danach ist eine „Nichtbeförderung“ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z.B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen.

52. Vorliegend ist weiterhin unzweifelhaft, dass sich der Kläger rechtzeitig am Flugsteig eingefunden und über eine bestätigte Buchung verfügt hat.

53. Streitentscheidend ist vorliegend die Frage, ob die Beklagte dem Kläger aus vertretbaren Gründen im Sinne von Art. 2 lit. j FluggastrechteVO die Beförderung von Frankfurt am Main nach Sao Paulo verweigern durfte.

54. Diese Entscheidung ist wiederum davon abhängig, wie der Begriff der „vertretbaren Gründe“ in Art. 2 lit. j FluggastrechteVO auszulegen ist.

55. Insoweit stellt sich die Auslegungsfrage, ob die „vertretbaren Gründe“ in der Person des Fluggastes begründet sein müssen oder ob auch Gründe außerhalb der Person des Fluggastes als „vertretbare Gründe“ herangezogen werden können.

56. Nach einer in der deutschen Rechtsliteratur vertreten Auffassung können „vertretbare Gründe“ nur in der Person des Fluggastes liegende Gründe sein, die den Luftverkehr oder andere Passagiere in ihrer Sicherheit gefährden oder sonstige, öffentliche oder vertragliche Belange berühren (vgl. Führich, Reiserecht, 6. Aufl., 2010, Seite 880, Rn. 1023 m.w.N.; Staudinger/Schmidt-​Benduhn, NJW 2004, 1897, 1898). Auch wenn ein Fall der höheren Gewalt vorliege, läge nicht der Tatbestand einer Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j der FluggastrechteVO vor (vgl. Führich, Reiserecht, 6. Aufl., 2010, Seite 880, Rn. 1023 m.w.N.; Staudinger/Schmidt-​Benduhn, NJW 2004, 1897, 1898).

57. Für diese Auslegung könnten die genannten Beispiele der „vertretbaren Gründen“ sprechen, die eher einen inneren Bezug zur Person des Fluggastes nahelegen.

58. Sollte der Rechtsbegriff der „vertretbaren Gründe“ gem. § 2 lit. j FluggastrechteVO in diesem Sinne auszulegen sein, wäre nach Auffassung der Kammer der Anspruch des Klägers auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 2 lit. j, 4 III, 7 FluggastrechteVO begründet.

59. Nach Auffassung der Kammer liegen selbst unter Zugrundelegung des Beklagtenvortrags keine vertretbaren Gründe in der Person des Klägers selbst vor, die eine Beförderungsverweigerung rechtfertigen würden.

60. Das Amtsgericht hat diesbezüglich wie folgt ausgeführt:

61. „Das erkennende Gericht ist der Auffassung, dass – abgestellt auf den Zeitpunkt des Eincheckens des Klägers in Frankfurt am Main und die zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannte zeitnahe Wiedereröffnung des Flughafens in Santiago de Chile – hier wegen des zu erwartenden „Campierens“ auf dem Flughafen in Sao Paulo sowohl die Gesundheit als auch die allgemeine Sicherheit des Fluggastes betreffende vertretbare Gründe für dessen Nichtmitnahme nach Sao Paulo gegeben gewesen sind mit der Folge, dass mangels Vorliegen einer definitionsgemäßen Nichtbeförderung im Sinne des Artikels 4 der geltend gemachte Anspruch auf Ausgleichszahlung entfällt.“

62. Dem ist nach Auffassung der Kammer nicht zu folgen. Geht man nämlich von Gründen in der Person des Fluggastes aus, dann müssen sich die Gesundheits- bzw. Sicherheitsbedenken in der Person des Fluggastes auch auf den konkreten Flug an sich auswirken. Dies ist vorliegend aber gerade nicht gegeben. Der Kläger hätte den Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo unzweifelhaft ohne Gesundheits- bzw. Sicherheitsbedenken durchführen können. Gefahren während des Fluges bestanden offensichtlich nicht. Wenn überhaupt konnten diese erst nach der Landung in Sao Paulo aufgrund der von der Beklagten behaupteten Situation auf dem Flughafen Sao Paulo auftreten. Dies reicht bei einer engen Auslegung der vertretbaren Gründe in der Person des Fluggastes aber gerade nicht mehr. Solche Gefahren nach der Beendigung des Fluges stehen nämlich gerade nicht mehr im Bezug zur ordnungsgemäßen Durchführung des Fluges.

63. Nach all dem wären bei einer engen Auslegung des Begriffs der „vertretbaren Gründe“ im Sinne von Gründen in der Person des Fluggastes, diese in der Person des Klägers im vorliegenden Fall nicht anzunehmen.

64.Danach stünde dem Kläger ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen einer Nichtbeförderung in Höhe von 600,- Euro zu. Die Sache wäre insoweit entscheidungsreif.

65. Sollte dagegen der Begriff der „vertretbaren Gründe“ weit auszulegen sein, insbesondere ohne inneren Bezug zum Fluggast selbst, und z.B. auch Fälle der höheren Gewalt umfassen, dann wäre in dem vorliegenden Verfahren der Sachverhalt in Form einer Beweisaufnahme weiter aufzuklären.

66. Der Wortlaut des Art. 2 lit. j FluggastrechteVO steht einer weiten Auslegung letztlich nicht zwingend entgegen. Selbst wenn sich die genannten Beispiele vorrangig auf Umstände in der Person des Fluggasts beziehen, heißt dies nicht zwangsläufig, dass es nicht auch noch andere „vertretbare Gründe“ geben kann. Diesbezüglich wäre auch der Sinn und Zweck der Ausgleichszahlung bei einer Nichtbeförderung zu berücksichtigen. Insoweit sollte vorrangig der Problematik der Überbuchungen entgegengewirkt werden. Insoweit könnte es unbillig sein, einem Luftfahrtunternehmen die Exkulpation in Form der höheren Gewalt abzuschneiden, wenn sich die höhere Gewalt nicht unmittelbar auf den gebuchten Flug auswirkt, sondern nur mittelbar.

67. Sollte vorliegend der Vortrag der Beklagten zu den Zuständen auf den Flughäfen Santiago de Chile und Sao Paulo infolge des Erdbebens in Chile zutreffend sein, was letztlich noch im Rahmen einer Beweisaufnahme zu klären wäre, wäre nach Auffassung der Kammer von dem Vorliegen einer höheren Gewalt auszugehen mit der Folge, dass bei einer weiten Auslegung des Begriffs „vertretbare Gründe“ ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Ausgleichsleistung ausscheiden würde.

68. Vor der Durchführung einer Beweisaufnahme ist jedoch zunächst die Rechtsfrage zu klären, ob es auf eine Beweisaufnahme überhaupt ankommt, was vorliegend zu verneinen wäre, wenn der Begriff der „vertretbaren Gründe“ eng auszulegen ist.

69. Danach bleibt festzuhalten, dass der weitere Verfahrensgang von der Frage der Auslegung des Begriffs „vertretbare Gründe“ in Art. 2 lit. j FluggastrechteVO abhängt.

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