Ausgleichsanspruch bei Annullierung von Bordkarten durch das Luftfahrtunternehmen
EuGH: Ausgleichsanspruch bei Annullierung von Bordkarten durch das Luftfahrtunternehmen
Die Kläger hatten bei dem beklagten Luftfahrtunternehmen, zwei Flüge, einen ersten sogenannten Zubringerflug und einen darauffolgenden Anschlussflug gebucht. Der Zubringerflug verspätete sich um rund anderthalb Stunden. Die Beklagte annullierte daraufhin die Bordkarten der Kläger für den Anschlussflug, weil sie davon ausging, dass die Kläger den Anschlussflug nicht mehr erreichen würden. Tatsächlich erreichten die Kläger allerdings den Anschlussflug, konnten aber wegen der Annullierung der Bordkarten nicht weiterbefördert werden. Sie fordern nun von der Beklagten Ausgleichzahlungen wegen Flugannullierung.
Der Europäische Gerichtshof hält die Klage für begründet und stellt klar, dass Ausgleichszahlung wegen einer Flugannullierung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 hier berechtigt seien, da die Annullierung und die daraus folgende Nichtbeförderung als Verschulden der Beklagten zu werten seien und somit dieses Verhalten in den Schutzbereich der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 falle.
EuGH | C-321/11 (Aktenzeichen) |
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EuGH: | EuGH, Urt. vom 04.10.2012 |
Rechtsweg: | EuGH, Urt. v. 04.10.2012, Az: C-321/11 |
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Leitsatz:
2. Annulliert das Luftfahrtunternehmen die Bordkarten der Fluggäste, da es der Meinung ist, dass die Fluggäste den Flug nicht mehr erreichen werden, so entsteht für die Fluggäste ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004.
Zusammenfassung:
3. Die Kläger buchten bei der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen, zwei aufeinanderfolgende Flüge, einen ersten sogenannten Zubringerflug und einen darauffolgenden Anschlussflug. Der Zubringerflug verspätete sich um rund anderthalb Stunden. Die Beklagte ging daraufhin davon aus, dass die Kläger den Anschlussflug nicht mehr erreichen würden und annullierte die die Bordkarten der Kläger für den Anschlussflug. Tatsächlich erreichten die Kläger den Anschlussflug jedoch, konnten aber wegen der Annullierung der Bordkarten nicht weiterbefördert werden.
Die Kläger fordern nun von der Beklagten Ausgleichzahlungen i. S. d. Verordnung (EG) Nr. 261/2004 wegen Flugannullierung, weil diese ihnen die Beförderung verweigert habe, obwohl sie den Anschlussflug trotz der Verspätung des Zubringerfluges noch erreicht hatten.
Der Europäische Gerichtshof hält die Klage für begründet. Ausgleichszahlung wegen einer Flugannullierung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 seien hier berechtigt, da die Annullierung durch die Beklagte und die daraus folgende Nichtbeförderung der Kläger als Verschulden der Beklagten zu werten seien und somit dieses Verhalten in den Schutzbereich der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 falle. Diese habe die Bordkarten aus einem Irrtum heraus annulliert und müsse für die resultierende Nichtbeförderung haften.
Tenor:
4. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Buchst. j der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 ist so auszulegen, dass der Begriff „Nichtbeförderung“ auch den Fall erfasst, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen eines einheitlichen Beförderungsvertrags, der mehrere Buchungen auf unmittelbar aufeinanderfolgenden und gleichzeitig abgefertigten Flügen umfasst, bestimmten Fluggästen die Beförderung verweigert, weil es auf dem ersten in ihrer Buchung ausgewiesenen Flug zu einer von diesem Unternehmen zu vertretenden Verspätung gekommen ist und das Unternehmen irrig angenommen hat, die Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen.
Gründe:
5. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1).
6. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Rodríguez Cachafeiro und Frau Martínez-Reboredo Varela-Villamor gegen die Fluggesellschaft Iberia, Líneas Aéreas de España SA (im Folgenden: Iberia) führen, weil diese es abgelehnt hat, ihnen wegen Nichtbeförderung auf einem Flug von Madrid (Spanien) nach Santo Domingo (Dominikanische Republik) Ausgleichsleistungen zu erbringen.
Rechtlicher Rahmen:
Verordnung (EWG) Nr. 295/91:
7. Die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABl. L 36, S. 5), die bis zum 16. Februar 2005 in Kraft war, bestimmte in ihrem Art. 1:
„Mit dieser Verordnung wird ungeachtet des Staates, in dem ein Luftfahrtunternehmen ansässig ist, der Staatsangehörigkeit des Fluggastes und des Zielortes eine gemeinsame Mindestregelung für den Fall eingeführt, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug von einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, auf das der [EG-] Vertrag anwendbar ist, nicht befördert werden, obwohl sie hierfür einen gültigen Flugschein mit bestätigter Buchung vorweisen können.“
Verordnung Nr. 261/2004:
8. Die Erwägungsgründe 1, 3, 4, 9 und 10 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
…
(3) Durch die Verordnung … Nr. 295/91 wurde zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste ist aber immer noch zu hoch; dasselbe gilt für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen.
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.
…
(9) Die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste sollte dadurch verringert werden, dass von den Luftfahrtunternehmen verlangt wird, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen, anstatt Fluggästen die Beförderung zu verweigern, und denjenigen, die letztlich nicht befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.
(10) Fluggäste, die gegen ihren Willen nicht befördert werden, sollten in der Lage sein, entweder ihre Flüge unter Rückerstattung des Flugpreises zu stornieren oder diese unter zufrieden stellenden Bedingungen fortzusetzen, und sie sollten angemessen betreut werden, während sie auf einen späteren Flug warten.“
9. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
- j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;
…“
10. Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung sieht in Abs. 2 vor:
„Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste
- a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich
– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden
oder, falls keine Zeit angegeben wurde,
– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder
…“
11. Art. 4 („Nichtbeförderung“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:
„(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass Fluggästen die Beförderung zu verweigern ist, so versucht es zunächst, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung unter Bedingungen, die zwischen dem betreffenden Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zu vereinbaren sind, zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen. Die Freiwilligen sind gemäß Artikel 8 zu unterstützen, wobei die Unterstützungsleistungen zusätzlich zu dem in diesem Absatz genannten Ausgleich zu gewähren sind.
(2) Finden sich nicht genügend Freiwillige, um die Beförderung der verbleibenden Fluggäste mit Buchungen mit dem betreffenden Flug zu ermöglichen, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigern.
(3) Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.“
12. Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
- a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,
- b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,
- c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.
…“
13. Die Art. 8 und 9 der Verordnung in Verbindung mit deren Art. 4 sehen für Fluggäste einen Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung vor sowie für diejenigen, deren Beförderung verweigert wurde, einen Anspruch auf Betreuungsleistungen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage:
14. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Rodríguez Cachafeiro und Frau Martínez-Reboredo Varela-Villamor, kauften jeweils bei Iberia einen Flugschein für die Strecke A Coruña (Spanien)–Santo Domingo. Dieser Flugschein wies zwei Flüge aus: den Flug IB 513, A Coruña–Madrid, vom 4. Dezember 2009 (13.30 Uhr – 14.40 Uhr) und den Flug IB 6501, Madrid-Santo Domingo, vom selben Tag (16.05 Uhr – 19.55 Uhr).
15. Im Abfertigungsschalter von Iberia auf dem Flughafen von A Coruña gaben die Kläger des Ausgangsverfahrens unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Bedingungen ihr Gepäck direkt bis zu ihrem Endziel auf, und ihnen wurden zwei Bordkarten für die beiden aufeinanderfolgenden Flüge ausgestellt.
16. Der erste Flug verspätete sich um eine Stunde und 25 Minuten. Da Iberia aufgrund dieser Verspätung davon ausging, dass diese beiden Fluggäste ihren Anschlussflug nach Madrid versäumen würden, annullierte sie um 15.17 Uhr ihre Bordkarten für den zweiten, um 16.05 Uhr vorgesehenen Flug. Das vorlegende Gericht führt aus, die Kläger des Ausgangsverfahrens seien bei ihrer Ankunft in Madrid zu dem Zeitpunkt am Flugsteig erschienen, als der letzte Aufruf der Gesellschaft an die Fluggäste erfolgt sei. Das Personal von Iberia verweigerte ihnen jedoch die Beförderung mit der Begründung, ihre Bordkarten seien annulliert und ihre Plätze anderen Fluggästen zugewiesen worden.
17. Die Kläger des Ausgangsverfahrens warteten bis zum folgenden Tag, um mit einem anderen Flug nach Santo Domingo befördert zu werden, und erreichten ihr Endziel mit 27 Stunden Verspätung.
18. Am 23. Februar 2010 erhoben Herr Rodríguez Cachafeiro und Frau Martínez-Reboredo Varela-Villamor beim Juzgado de lo Mercantil N° 2 de A Coruña Klage mit dem Antrag, Iberia zu verurteilen, ihnen wegen „Nichtbeförderung“ gemäß Art. 4 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 Ausgleichsleistungen in Höhe von jeweils 600 Euro zu erbringen. Iberia bestritt diese Ansprüche und machte geltend, der Sachverhalt, auf dessen Grundlage die Klage bei diesem Gericht erhoben worden sei, stelle keine „Nichtbeförderung“ dar, sondern sei als versäumter Anschlussflug zu beurteilen, da die Entscheidung, den Klägern des Ausgangsverfahrens die Beförderung zu verweigern, nicht auf eine Überbuchung zurückzuführen, sondern durch die Verspätung des vorhergehenden Flugs begründet gewesen sei.
19. Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, Iberia habe die in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung an sieben Fluggäste geleistet, denen sie die Beförderung auf dem in Rede stehenden Flug Madrid-Santo Domingo verweigert habe.
20. In diesem Rahmen fragt sich das vorlegende Gericht, ob sich der Begriff „Nichtbeförderung“ ausschließlich auf Fälle bezieht, in denen Flüge von Anfang an überbucht sind, oder ob dieser Begriff auf andere Fälle, wie den der Kläger des Ausgangsverfahrens, erstreckt werden kann.
21. Der Juzgado de lo Mercantil N° 2 de A Coruña hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist der Begriff der Nichtbeförderung in Art. 2 Buchst. j in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 so auszulegen, dass er auch den Fall erfasst, dass das Luftfahrtunternehmen die Beförderung verweigert, weil es auf der ersten im Flugschein ausgewiesenen Teilstrecke zu einer von ihm zu vertretenden Verspätung gekommen ist und das Unternehmen in der irrigen Annahme, die Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen, die Plätze mit anderen Fluggästen besetzt hat?
Zur Vorlagefrage:
22. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 2 so auszulegen ist, dass der Begriff „Nichtbeförderung“ auch den Fall erfasst, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen eines einheitlichen Beförderungsvertrags, der mehrere Buchungen auf unmittelbar aufeinanderfolgenden und gleichzeitig abgefertigten Flügen umfasst, bestimmten Fluggästen die Beförderung verweigert, weil es auf dem ersten in ihrer Buchung ausgewiesenen Flug zu einer von diesem Unternehmen zu vertretenden Verspätung gekommen ist und das Unternehmen irrig angenommen hat, die Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen.
23. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 eine „Nichtbeförderung“ dann vorliegt, wenn ein Luftfahrtunternehmen sich weigert, einen Fluggast mit einem Flug zu befördern, für den dieser über eine Buchung verfügte und sich unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat, es sei denn, für diese Weigerung sind vertretbare, z. B. die in Art. 2 Buchst. j genannten, Gründe gegeben.
24. Im Ausgangsverfahren beruht die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage auf der Prämisse, dass die Kläger sich unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Bedingungen am Flugsteig für den Flug Madrid-Santo Domingo eingefunden haben. Darüber hinaus geht aus der Akte hervor, dass den Klägern die Beförderung mit diesem Flug nicht deshalb verweigert wurde, weil sie diese Bedingungen nicht erfüllt haben sollen, sondern weil ihre Buchung wegen der Verspätung ihres vorhergehenden Flugs von A Coruña nach Madrid annulliert worden war.
25. Unbeschadet der Folgen, die sich möglicherweise daraus ergeben, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens aufgrund dieser Verspätung 27 Stunden später als bei der Buchung ihrer Reise vorgesehen an ihrem Endziel (Santo Domingo) angekommen sind, ist festzustellen, dass, was die Gründe angeht, aus denen ein Luftfahrtunternehmen die Beförderung eines Fluggastes verweigert, der über eine Buchung verfügt und sich ordnungsgemäß am Flugsteig eingefunden hat, Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 diese Weigerung nach seinem Wortlaut nicht an das Vorliegen einer von dem Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen verursachten „Überbuchung“ des betreffenden Flugs knüpft.
26. Zum Kontext dieser Bestimmung und zu den Zielen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, ergibt sich nicht nur aus den Erwägungsgründen 3, 4, 9 und 10 der Verordnung Nr. 261/2004, sondern auch aus den Vorarbeiten zu dieser Verordnung, insbesondere dem von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 21. Dezember 2001 vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Betreuungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (KOM[2001] 784 endg.), dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass dieser Verordnung die seinerzeit zu hohe Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste durch Schließung der Lücken der Verordnung Nr. 295/91 verringern wollte, die nach ihrem Art. 1 lediglich eine gemeinsame Mindestregelung für den Fall eingeführt hatte, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug nicht befördert werden.
27. In diesem Kontext hat der Unionsgesetzgeber in Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 bei der Definition der „Nichtbeförderung“ jeglichen Hinweis auf den Grund weggelassen, aus dem ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert.
28. Dadurch hat der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich dieser Definition über den Fall der Nichtbeförderung wegen Überbuchung hinaus erweitert, der zuvor als einziger in Art. 1 der Verordnung Nr. 295/91 genannt war, und diesem Begriff eine weite Bedeutung gegeben, die sämtliche Fälle erfasst, in denen ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert.
29. Diese Auslegung wird durch die Feststellung bestätigt, dass eine Beschränkung der Reichweite des Begriffs „Nichtbeförderung“ allein auf die Fälle der Überbuchung in der Praxis zu einer deutlichen Einschränkung des den Fluggästen gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 gewährten Schutzes führen und damit dem Ziel der Verordnung zuwiderlaufen würde, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, was eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Slg. 2006, I-403, Randnr. 69, sowie vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, Slg. 2008, I-11061, Randnr. 18).
30. Die Annahme, dass nur die Fälle der Überbuchung unter den Begriff der Nichtbeförderung fallen, hätte somit zur Folge, dass Fluggäste, die sich in einer Situation wie derjenigen der Kläger des Ausgangsverfahrens befinden, völlig schutzlos gestellt wären, weil ihnen die Möglichkeit genommen würde, sich auf Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 zu berufen, der in Abs. 3 auf die in den Art. 7 bis 9 dieser Verordnung vorgesehenen Ansprüche auf Ausgleichszahlungen, Erstattung oder anderweitige Beförderung und Betreuungsleistungen Bezug nimmt.
31. In Anbetracht dessen muss die Verweigerung der Beförderung durch ein Luftfahrtunternehmen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens grundsätzlich vom Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 erfasst sein.
32. Allerdings muss Gewissheit darüber bestehen, dass, wie es diese Bestimmung vorsieht, keine vertretbaren Gründe für diese Weigerung gegeben sein können, „z[um] B[eispiel] im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen“.
33. Hierzu ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber mit der Verwendung der Wörter „zum Beispiel“ zum Ausdruck bringen wollte, dass die Aufzählung der Fälle, in denen eine Nichtbeförderung vertretbar sein kann, nicht abschließend ist.
34. Aus dieser Formulierung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine Nichtbeförderung aus einem betrieblichen Grund wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als vertretbar angesehen werden muss.
35. Das vorlegende Gericht bezieht sich nämlich auf die Tatsache, dass es im Rahmen eines einheitlichen Beförderungsvertrags, der mehrere Buchungen auf zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden und gleichzeitig abgefertigten Flügen umfasst, auf dem ersten dieser Flüge zu einer von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen zu vertretenden Verspätung gekommen ist und dieses in der irrigen Annahme, die betroffenen Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen, anderen Fluggästen ermöglicht hat, auf diesem zweiten Flug die Plätze zu besetzen, die die Fluggäste, denen die Beförderung verweigert wurde, besetzen sollten.
36. Dieser Grund für die Nichtbeförderung ist jedoch nicht vergleichbar mit den in Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 ausdrücklich genannten, da er in keiner Weise dem Fluggast zuzurechnen ist, dem die Beförderung verweigert wird.
37. Darüber hinaus kann einem Luftfahrtunternehmen nicht erlaubt werden, den Kreis der Fälle, in denen es berechtigt wäre, einem Fluggast die Beförderung zu verweigern, erheblich zu erweitern. Dies hätte zwangsläufig zur Folge, dass ein solcher Fluggast völlig schutzlos gestellt wäre, was dem Ziel der Verordnung Nr. 261/2004 zuwiderlaufen würde, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste durch eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte sicherzustellen.
38. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens würde dies außerdem dazu führen, dass die betroffenen Fluggäste das sich aus der Nichtbeförderung ergebende Ärgernis und die damit verbundenen großen Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssten, obwohl diese Nichtbeförderung in jedem Fall allein vom Luftfahrtunternehmen zu vertreten ist, das entweder die Verspätung des ersten von ihm selbst durchgeführten Flugs zu verantworten oder irrig angenommen hat, die betroffenen Fluggäste könnten sich nicht rechtzeitig am Flugsteig des Anschlussflugs einfinden, oder aber Flugscheine für aufeinanderfolgende Flüge verkauft hat, bei denen die für das Erreichen des Anschlussflugs zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreichte.
39. Für eine Nichtbeförderung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende lassen sich infolgedessen keine vertretbaren Gründe anführen; sie ist deshalb als „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung einzustufen.
40. In Anbetracht dessen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung so auszulegen ist, dass der Begriff „Nichtbeförderung“ auch den Fall erfasst, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen eines einheitlichen Beförderungsvertrags, der mehrere Buchungen auf unmittelbar aufeinanderfolgenden und gleichzeitig abgefertigten Flügen umfasst, bestimmten Fluggästen die Beförderung verweigert, weil es auf dem ersten in ihrer Buchung ausgewiesenen Flug zu einer von diesem Unternehmen zu vertretenden Verspätung gekommen ist und das Unternehmen irrig angenommen hat, die Fluggäste würden den zweiten Flug nicht rechtzeitig erreichen.
Kosten:
41. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
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