Annullierung wegen Flugsicherheitsmängel

LG Darmstadt: Annullierung wegen Flugsicherheitsmängeln

Eine Reisende buchte bei einem Luftfahrtunternehmen einen Linienflug. Weil dieser aufgrund seines technischen Defekts erst mit mehrstündiger Verspätung startete, verlangt die Klägerin nun eine Ausgleichszahlung im Sinne von Art. 5 der Fluggastrechte Verordnung. Die Airline weigert sich der Zahlung, mit der Begründung, in dem technischen Defekt sei ein haftungsbefreiender außergewöhnlicher Umstand zu sehen.

Das Landgericht Darmstadt hat der Klage stattgegeben. Technische Defekte seien von der Airline voll kontrollierbar und würden keinen unvorhersehbaren Umstand darstellen, auf den die Beklagte keinen Einfluss habe.

LG Darmstadt 21 S 263/06 (Aktenzeichen)
LG Darmstadt: LG Darmstadt, Urt. vom 01.08.2007
Rechtsweg: LG Darmstadt, Urt. v. 01.08.2007, Az: 21 S 263/06
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Landgericht Darmstadt

1. Urteil vom 01. August 2007

Aktenzeichen: 21 S 263/06

Leitsatz:

2. Ein technischer Defekt ist kein außergewöhnlicher Umstand.

Zusammenfassung:

3. Ein Fluggast buchte bei einer privaten Fluggesellschaft einen Linienflug. Weil der Schließmechanismus einer Tür im Cockpit einen Defekt hatte, konnte dieser Flug nicht wie geplant ausgeführt werden. Der Abflug verzögerte sich um mehrere Stunden und die Klägerin verlangt nun eine Ausgleichszahlung im Sinne von Art. 5 der Verordnung 261/2004.
Die Beklagte weigert sich der Zahlung. Der Defekt an der Tür sei für die Airline nicht vorherzusehen gewesen und liege außerhalb ihres Einwirkungsbereichs. Aus diesem Grund sei sie von einer Haftung befreit.

Das Landgericht Darmstadt hat der Klägerin Recht zugesprochen. Der Anspruch auf eine Ausgleichszahlung bei langer Wartezeit am Flughafen ergebe sich grundsätzlich aus Art. 7 der Verordnung 261/2004. Der Nachweis eines technischen, nicht kontrollierbaren Defekts sei die einzige Möglichkeit für die Airline, eine Haftungsbefreiung zu erreichen.
Ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne der Verordnung sei ein plötzlich eintretendes Lebensereignis das in seiner konkreten Form für den Unternehmer weder voraussehbar noch kontrollierbar sei.

Ein technischer Defekt an einer Flugzeugtür sei jedoch nicht außerhalb jeglicher zu erwartender Wahrscheinlichkeitsgrenzen und könne durch vorherige Sicherheitsmaßnahen und Überprüfungen vermindert werden.

Tenor:

4. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des AGs Rüsselsheim vom 08.11.2006 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Euro 250,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 30.12.2006 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gegenstandswert des Berufungsverfahrens: Euro 250,00.

Entscheidungsgründe:

5. Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz wegen einer Flugannulierung sowie Ersatz nichtanrechenbarer vorgerichtlicher Anwaltskosten.

6. Die Klägerin buchte bei der Beklagten einen Hin- und Rückflug von Frankfurt am Main nach Mallorca, was nach der Großkreisberechnung einer Flugstrecke von 1.250 km entspricht. Der unter Flugnummer DE 590 für den 19.11.2005 um 06:35 Uhr vorgesehene Abflug in Frankfurt am Main wurde – ohne vorherige Unterrichtung der Klägerin – am Abflugtag zunächst auf 06:55 Uhr verschoben und sodann annulliert. Die Beklagte buchte die Fluggäste auf eine Maschine der Lufthansa (LH 4514) mit Abflugzeit 16:00 Uhr um.

7. Eine von der Klägerin vorprozessual begehrte Ausgleichszahlung nach Art. 7 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 lehnte die Beklagte ab und berief sich auf außergewöhnliche Umstände, nämlich ein Elektronikproblem an der planmäßigen Maschine.

8. Die Klägerin hat den behaupteten Defekt bestritten, gerügt, dass die Beklagte nicht dargelegt habe, welche Wartungs- und sonstigen zumutbaren Maßnahmen sie habe durchführen lassen und weshalb der Defekt nicht habe festgestellt werden können sowie schließlich die Auffassung vertreten, technische Defekte am Fluggerät seien generell keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Die Klägerin hat weiter behauptet, ihr sei durch nicht anrechenbare vorgerichtliche Anwaltskosten ein weiterer Schaden von Euro 22,62 entstanden.

9. Die Klägerin hat beantragt die Beklagte zu verurteilen, an sie Euro 250,00 nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 30.12.2005 sowie Euro 22,62 außergerichtlicher Anwaltskosten zu zahlen.

10. Die Beklagte hat beantragt die Klage abzuweisen.

11. Sie behauptet, Grund für die Flugannullierung sei ein technischer Defekt an der Tür L1 gewesen, deren Elektronik keine ordnungsgemäße Schließung gemeldet habe. Damit habe die Gefahr eines plötzlichen Druckabfalls in der Kabine bestanden (Beweis: Zeuge Matthias Discher). Sie ist der Meinung, damit hätten außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 vorgelegen.

12. Hiergegen wendet sich die – vom AG zugelassene – Berufung der Beklagten, mit welcher sie ihr die Abweisung der Klage weiter verfolgt und fehlerhafte Rechtsanwendung rügt. Das AG habe Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 fehlerhaft angewandt. Die Erwägungsgründe Nr.14 enthielten nur eine beispielhafte Aufzählung. Darunter seien aber auch unerwartete Flugsicherheitsmängel, worauf sich die Beklagte berufe. Aufgrund der Flughöhe der Maschine stelle die Undichtigkeit der Kabinentür einen Flugsicherheitsmangel dar (Beweis: Sachverständigengutachten).

13. Dieser sei für die Beklagte unerwartet gewesen, da sie sämtliche Fluggeräte – auch die hier betroffene Maschine – nach den Herstellerangaben und den Vorgaben des Luftfahrtbundesamtes warten lasse und es sich um einen dort nicht aufgetretenen und daher unvorhersehbaren elektronischen Defekt gehandelt habe (Beweis: Zeuge …, Sachverständigengutachten). Sie meint, derartige technische Defekte seien ebenfalls als außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 anzusehen. Ferner habe das AG vorgerichtliche Anwaltskosten zu Unrecht zuerkannt. Zum einen seien diese als weitergehender Schaden gemäß Art.12 I Verordnung (EG) Nr.261/2004 auf die geforderte Ausgleichszahlung anzurechnen. Zum anderen habe die Klägerin trotz ausdrücklicher Rüge der Beklagten weder eine Gebührenrechnung vorgelegt noch substanziiert zu dem behaupteten Schaden vorgetragen.

14. Die Beklagte beantragt unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung die Klage abzuweisen.

15. Die Klägerin beantragt die Berufung zurückzuweisen.

16. Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung und rügt, die Beklagte habe auch in der Berufungsbegründung den behaupteten technischen Defekt nicht näher substanziiert. Die behauptete Wartung nach Maßgabe des Herstellers werde bestritten, ebenso die Behauptung, die Maschine sei fluguntauglich gewesen. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass derartige Defekte durch regelmäßige Wartung, insbesondere bei mehrfach redundanten Systemen, vermeidbar seien bzw. der Flugsicherheit nicht entgegenstünden (Beweis: Sachverständigengutachten). Die Anwaltskosten habe die Klägerin dargelegt. Diese seien von der Beklagten erstinstanzlich auch nicht bestritten worden.

17. Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze verwiesen.

18. Die Berufung ist nach Zulassung durch das AG gemäß § 511 II Nr.2 ZPO zulässig. Sie wurde fristgerecht eingelegt und begründet. In der Sache hat sie indes nur hinsichtlich der Nebenforderung Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

19. Mit Recht wendet sich die Beklagte gegen die vom AG zuerkannten vorgerichtlichen Anwaltskosten. Die Klage war und ist dazu schon unschlüssig, weil die Klägerin nicht dargetan hat, wann und auf welche Weise ihr diese berechnet wurden und dass sie diese auch bezahlt hat. Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, die Beklagte habe diese Nebenforderung in Erster Instanz nicht bestritten. Ein Anerkenntnis kann in bloßem Schweigen nicht gesehen werden, weil dieses ausdrücklich erklärt werden muss. Im Übrigen muss unschlüssiger Vortrag nicht bestritten werden.

20. Das weitergehende Rechtsmittel greift indes nicht durch. Die Kammer folgt der Auffassung des AG, wonach sich die Beklagte wegen des behaupteten technischen Defekts an der Kabinentür L1 der planmäßig vorgesehenen Maschine selbst dann nicht auf Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 berufen kann, wenn man den dazu gehaltenen Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt. Deshalb ist die Klage im Hauptanspruch nach Art.7 Ia Verordnung (EG) Nr.261/2004 begründet.

21. Zwar ist der Beklagten im Ansatz darin beizupflichten, dass der Verordnungsgeber in Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 nur eine beispielhafte und nicht abschließende Aufzählung derjenigen Umstände vorgenommen hat, die als den Flugunternehmer entlastende außergewöhnliche Umstände anzusehen sind. Die aufgeführten Beispiele zeigen aber, dass es sich hierbei grundsätzlich um Einflussfaktoren handelt, deren Entstehung außerhalb des organisatorischen und technischen Verantwortungsbereiches des Flugunternehmers liegt, die also von diesem nicht beeinflusst und demzufolge auch nicht abgewendet werden können und außerhalb der sogenannten Betriebsgefahr des Fluggerätes liegen.

22. Technische Defekte des Fluggerätes, die Flugsicherheitsmängel verursachen, fallen daher nur dann in den Anwendungsbereich des Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004, wenn sie auf derartige äußere Einflüsse zurückzuführen sind, also etwa witterungsbedingte Defekte (z.B. durch Blitzschlag, Hagel u.ä.), Defekte durch unautorisierte Eingriffe von betriebsfremden Dritten (z.B. Terroranschläge, durch den Fluggast selbst herbeigeführte Beschädigungen u.ä.) oder sonstige vergleichbare Umstände (z.B. Vogelschlag). Derartige Einflussfaktoren behauptet die Beklagte jedoch nicht. Nach ihrer Darstellung lag ein Versagen der technischen Einrichtungen des Fluggerätes selbst vor. Dieser Umstand ist allein dem Verantwortungsbereich der Beklagten zuzuweisen. Dabei kann dahin stehen, ob das Fluggerät ordnungsgemäß gewartet wurde und die Beklagte deshalb nicht konkret vorhersehen konnte, ob und wann der behauptete Defekt auftreten würde. Darin realisiert sich die Betriebsgefahr des Fluggerätes, die haftungsrechtlich der Sphäre des Flugunternehmers, nicht aber dem Fluggast zuzurechnen ist.

23. Es ist ferner unstreitig, dass die Beklagte der Klägerin die Flugannullierung entgegen Art.5 Ic)iii) Verordnung (EG) Nr.261/2004 nicht mindestens sieben Tage vor dem planmäßigen Abflug angekündigt und ihr eine anderweitige Beförderung angeboten hat, die einen Abflug von nicht mehr als einer Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit und ein Erreichen des Endzieles nicht mehr als zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit vorsah. Weiter ist unstreitig, dass die Flugentfernung weniger als 1.500 km betrug, Art.5 Ia) Verordnung (EG) Nr.261/2004.

24. Die vom AG auf die Hauptforderung zuerkannten Verzugszinsen sind mit der Berufung nicht angegriffen.

25. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 II Nr.1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr.10 ZPO.

26. Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens bestimmt sich nach § 47 I GKG in Verbindung mit dem Berufungsantrag.

27. Die Revision ist zuzulassen, weil die Sache im Sinne des § 543 II Nr.1 ZPO grundsätzliche Bedeutung hat. Bislang ist über die Frage, welche Umstände zu einer Entlastung des Flugunternehmers nach Art.5 III Verordnung (EG) Nr.261/2004 führen und wie die Vorschrift auszulegen ist, höchstrichterlich noch nicht entschieden.

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