Sturz im Linienbus
OLG Koblenz: Sturz im Linienbus
Die Klägerin, eine ältere Dame, stürzte beim Anfahrvorgang im Linienbus der Beklagten und nahm deshalb das beklagte Linienbusunternehmen auf Schmerzensgeldzahlung in Anspruch. Die Klägerin behauptet der Bus sei ruckartig angefahren.
Das OLG Koblenz hat der Klägerin die begehrte Zahlung nicht zugesprochen und entschieden, dass der Sturz in einem Linienbus grundsätzlich ein eigenes Verschulden des Fahrgastes ist.
OLG Koblenz | 12 U 893/99 (Aktenzeichen) |
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OLG Koblenz: | OLG Koblenz, Urt. vom 14.08.2000 |
Rechtsweg: | OLG Koblenz, Urt. v. 14.08.2000, Az: 12 U 893/99 |
LG Koblenz, Urt. v. 03.05.1999 | |
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Leitsatz:
2. Stürzt ein Fahrgast in einem Linienbus, so muss das Busunternehmen grundsätzlich dafür nicht haften.
Zusammenfassung:
3. Die Klägerin, eine ältere Dame, stürzte beim Anfahrvorgang im Linienbus der Beklagten und nahm deshalb das beklagte Linienbusunternehmen auf Schmerzensgeldzahlung in Anspruch. Die Klägerin behauptet der Bus sei ruckartig angefahren.
Das OLG Koblenz hat der Klägerin den Schmerzensgeldanspruch nicht zugesprochen. Ein Sturz in einem Linienbus ist grundsätzlich ein eigenes Verschulden des Fahrgastes. Ein gewisser Anfahrruck eines Linienbusses im Straßenfahrbetrieb ist ein normaler Vorgang, mit dem jeder Fahrgast rechnen muss. Der Fahrer eines Linienbusses muss sich vor dem Anfahrvorgang nicht versichern, dass alle Insassen sicher Platz genommen haben, er kann vielmehr grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Fahrgäste selbst dafür sorgen, sich im Fahrzeug einen festen Halt zu verschaffen. Etwas anderes gilt nur, wenn die besondere Hilfsbedürftigkeit des Fahrgastes sich dem Fahrer aufdrängen musste. Es reicht dabei nicht aus, dass es sich bei der Klägerin um einen älteren Menschen handelt. Da es sonst keine Anhaltspunkte dafür gab, dass es sich dem Busfahrer aufdrängen musste, dass die Klägerin nicht in der Lage war sich einen festen Halt zu verschaffen, hat die Klägerin keine Ansprüche gegen das Linienbusunternehmen.
Tenor:
4.Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 5. Zivilkammer – Einzelrichterin – des Landgerichts Koblenz vom 3. Mai 1999 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Berufung.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
5. Die 1935 geborene Klägerin bestieg am 29. November 1996 gegen 16.16 Uhr den Linienbus der Beklagten zu 2), der vom Beklagten zu 1) gefahren wurde. Durch einen Sturz im Gang des Busses erlitt die Klägerin im rechten Kniegelenk eine Kreuzbandruptur mit Distorsion des Kniegelenks, die eine stationäre und sodann ambulante ärztliche Behandlung erforderlich machte.
6. Die Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1) habe durch ein äußerst starkes ruckartiges fast schlagartiges Anfahren ihren Sturz in dem Augenblick verursacht, als sie den Sitzgriff in der linken Hand gehabt habe und gerade dabei gewesen sei, sich auf den letzten freien Sitzplatz „einzudrehen“. Sie nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 10.000 DM, auf materiellen Schadensersatz in Höhe von 3.814,84 DM sowie auf die Feststellung in Anspruch, dass die Beklagten verpflichtet seien, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die ihr in Zukunft noch aus dem Unfall entstünden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
7. Die Beklagten haben Klageabweisung mit der Begründung beantragt, der Bus sei normal angefahren und die Klägerin habe ihren Sturz allein verschuldet, weil sie sich pflichtwidrig während des Anfahrvorgangs keinen festen Halt verschafft habe.
8. Das Landgericht hat gemäß Beschluss vom 11. Januar 1999 (Bl. 63 – 65 d.A.) zum Unfallhergang die Zeuginnen G S, S D und A D vernommen (Sitzungsniederschrift vom 3. Mai 1999 (Bl. 77 – 82 d.A.) und die schriftlichen Angaben der inzwischen verstorbenen Zeugin E S vom 16. April 1997 (Bl. 14 d.A.) verwertet.
9. Sodann hat es durch Urteil vom 3. Mai 1999 die Klage abgewiesen.
10. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt, während die Beklagten Zurückweisung der Berufung beantragen.
Entscheidungsgründe:
11. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
12. Der Sturz der Klägerin im Bus der Beklagten zu 2) ist von den Beklagten weder verschuldet worden (§§ 823, 831 BGB), noch besteht hierfür eine Gefährdungshaftung der Beklagten gemäß §§ 18, 7, 8 a StVG.
I.
13. Die Beklagten trifft am Sturz der Klägerin kein Verschulden.
14. 1. Die Klägerin hat nicht den Beweis erbracht, dass der Beklagte zu 1) durch einen vermeidbar heftigen Anfahrruck ihren Sturz verursacht hat. Soweit die (verstorbene) Zeugin S angegeben hat, der Bus sei ruckartig angefahren, lässt dies für sich allein keinen Rückschluss auf ein pflichtwidriges „Überziehen“ beim Anfahren zu. Denn ein gewisser Anfahrruck eines Linienbusses im Straßenfahrbetrieb ist ein normaler Vorgang, mit dem jeder Fahrgast rechnen muss. Soweit die Zeugin S bekundet hat, der Bus sei nicht sanft angefahren, sondern ruckartig, ist diese Aussage in Verbindung mit dem Zusatz zu werten, das sei nicht so ruckartig gewesen, dass sie nach hinten gepresst worden sei. Aber sie habe es schon als Ruck empfunden, weil sie nämlich öfters Reisebusse fahre und da eine sanftere Anfahrt gewöhnt sei. Maßstab für die Beurteilung eines Anfahrrucks können aber nicht die Fahrgewohnheiten bei den durchweg luxuriöser und für lange Fahrten ausgestatteten Reisebussen sein, sondern die gewohnte Praxis im alltäglichen Einsatz von Linienbussen zur Bewältigung der kommunalen Verkehrsversorgung. Die Zeugin Di hat bekundet, nach ihrem Empfinden sei der Bus langsam und normal angefahren und nicht ruckartig. Die Zeugin Do konnte zwar nicht mehr sagen, ob der Bus ruckartig angefahren sei. Nach dem Gesamtinhalt ihrer Aussage – so hat sie nach dem Sturz der Klägerin die Unfallzeit notiert „für den Fall, dass dazu was komme“ – ist aber anzunehmen, dass ein das normale Maß eindeutig übersteigendes ruckartiges Anfahren des Beklagten zu 1) von ihr in Erinnerung behalten worden wäre, wenn es ein solches Fahrverhalten tatsächlich gegeben hätte, namentlich in der von der Klägerin behaupteten krassen Form eines „äußerst starken“ bzw. „besonders“ und „fast schlagartigen“ ruckartigen Anfahrens.
15. In der Gesamtschau geht der Senat daher davon aus (§ 286 ZPO), dass der Omnibus normal, mit dem bei Fahrzeugen dieser Größe unvermeidbaren Ruck losgefahren ist.
16. 2. Richtig ist, dass die Klägerin im Augenblick des Anfahrens des Busses sich noch nicht auf einem Sitzplatz niedergelassen und ersichtlich auch noch nicht einen festen Halt derart gewonnen hatte, dass sie den Anfahrruck des Busses stehend hätte überwinden können. Dies fällt aber in den alleinigen Risikobereich der Klägerin.
17. Nach § 4 Abs. 3 S. 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen war die Klägerin u.a. verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Diese Bestimmung war Bestandteil ihres Beförderungsvertrages mit der Beklagten zu 2) (vgl. Bidinger, Personenbeförderungsrecht, 2. Aufl., Stand Mai 2000, C 6). Es ist anerkannt, dass der Fahrer eines Linienbusses, der seinen Fahrplan einzuhalten hat, darauf vertrauen darf, dass die Fahrgäste ihrer Verpflichtung, sich stets einen festen Halt zu verschaffen, nachkommen. Auch vor dem Anfahren von einer Haltestelle ist es allein Sache des Fahrgastes, für einen sicheren Halt zu sorgen und so eine Sturzgefahr zu vermeiden. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt, von der hier ausgegangen werden muss, zu Fall, so spricht sogar der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (vgl. OLG Oldenburg, MDR 1999, 1321). Der Busfahrer braucht sich vor dem Anfahrvorgang nur dann zu vergewissern, ob ein Fahrgast Platz oder Halt im Wagen gefunden hat, wenn eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes ihm die Überlegung aufdrängte, dass dieser andernfalls beim Anfahren stürzen werde (etwa bei einem Beinamputierten auf Krücken oder einem blinden Fahrgast, vgl. BGH NJW 1993, 654 f.; BGH VersR 1972, 152 f.). Solche Sonderumstände lagen hier nicht vor.
18. Eine Haftung der Beklagten zu 2) für den Beklagten zu 1), der als Busfahrer deren Verrichtungsgehilfe war, kommt nicht schon deshalb in Betracht, weil die Beklagte zu 2) den Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB nicht angeboten hat. Denn die Ursächlichkeitsvermutung ist bereits deshalb widerlegt, weil ein sorgfältig ausgewählter und überwachter Busfahrer zur Überzeugung des Senats in dieser Situation ebenfalls in der gleichen Weise angefahren wäre.
19. 3. Eine Verschuldenshaftung der Beklagten für den Sturz der Klägerin kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass zum Unfallzeitpunkt der Boden im Omnibus auf Grund der Außenwitterung und des dadurch bedingten Feuchtigkeitseintrags ebenfalls feucht war. Das ist eine normale Erscheinung, auf die sich auch die Fahrgäste entsprechend einzustellen haben. Im Übrigen haben die Beklagten bereits in erster Instanz nach entsprechender Beanstandung durch die Klägerin vorgetragen, dass es sich beim Bodenbelag um eine rutschfeste Standardausführung für Omnibusse des öffentlichen Personen- und Nahverkehrs gehandelt habe und hierzu auch die technische Bezeichnung mitgeteilt. Ein konkreter Gegenvortrag der Klägerin ist dazu nicht mehr erfolgt.
II.
20. Auch eine Gefährdungshaftung gemäß §§ 7, 8 a und 18 StVG scheidet aus.
21. Selbst wenn man eine Betriebsgefahr des Busses als nicht restlos ausgeräumt ansähe, müsste diese gegenüber dem hohen Eigenverschulden der Klägerin am Unfall mit der Folge ganz zurücktreten (§§ 9, 18 StVG, 254 BGB), dass die Klägerin den gesamten Schaden allein tragen muss.
22. Es war allein Sache der Klägerin, umgehend nach Einsteigen in den Bus zur Vermeidung eigener Gefährdung einen Sitzplatz oder einen festen Halt zu erreichen, da der Bus alsbald weiterfahren würde. Entgegen ihrer Darstellung gab es für sie, die vorne eingestiegen war, „den letzten freien Sitzplatz“ nicht erst kurz vor dem hinteren Ausstieg, sondern schon gleich vorne freie Sitzplätze. Die Zeuginnen Di und Do, die links vorne in der ersten Reihe gleich hinter der den Fahrbereich abgrenzenden Glaswand saßen, haben übereinstimmend bekundet, dass schon in diesem Bereich zwei freie Sitzplätze waren, und zwar einer in der Reihe neben ihnen und einer direkt hinter ihrem Sitzplatz. Hätte die Klägerin einen dieser Plätze eingenommen, wäre der Unfall bereits vermieden worden. Zwar war es ihr nicht verwehrt, weiter nach hinten durchzugehen und sich dort nach einem Sitzplatz umzusehen. Dies geschah aber auf eigene Gefahr. Insbesondere musste sie dabei einkalkulieren, dass dies zeitlich mit der Anfahrphase des Busses zusammenfallen würde, so dass sie den Anfahrimpuls entweder unter Einnahme eines sicheren Standplatzes abwarten oder aber die Gefahr in Kauf nehmen musste, insbesondere in der instabilen Lage des Eindrehens auf einen Sitz, hierbei aus dem Stand gebracht zu werden. Ihre Darstellung, sie habe sich im Augenblick des Anfahrens „ordnungsgemäß“ mit ihrer linken Hand an dem hierfür vorgesehenen Griff des einzunehmenden Sitzes festgehalten, ist so von keinem Zeugen bestätigt worden. Alle Zeugen sind erst durch einen Aufschrei der Klägerin auf den Vorgang aufmerksam geworden und haben sich daraufhin umgedreht. Die Zeuginnen S und S haben dann zwar gesehen, dass die Klägerin „spagatartig im Gang hing“ und sich am Haltegriff einer Sitzbank festhielt, wobei sie nach Erinnerung der Zeugin S in der rechten Hand eine Tasche hielt. Die Zeugin D hat, nachdem sie sich umgedreht hatte, die Klägerin schon im Gang liegen sehen. Aus alledem lässt sich aber nicht herleiten, dass sich die Klägerin bereits vor dem Anfahren des Busses an dem Griff einen festen Halt verschafft hatte. Ohnehin wäre ein bloßes Festhalten mit dem linken – häufig schwächeren als dem rechten – Arm unter Belastung mit einer dort schon befindlichen Handtasche jedenfalls in der Regel kein sicherer Halt (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1983, 760). Unklar bleibt bei alledem auch, wo der Schirm der Klägerin, den diese ebenfalls mit sich führte, in dieser Situation verblieben ist. In Würdigung all dieser Umstände, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin unter Außerachtlassung der nächstliegenden Eigenvorsorge keinen der zwei in nächster Nähe zu ihrem Einstieg liegenden freien Sitzplätze eingenommen hat, liegt ein so hohes Maß an Selbstverschulden vor, dass eine demgegenüber möglicherweise noch den Beklagten zuzurechnende Betriebsgefahr als Beitrag zur Verursachung des Sturzes der Klägerin so sehr in den Hintergrund tritt, dass sie ganz außer Ansatz bleiben muss (vgl. auch z.B. OLG Stuttgart, VersR 1971, 674 f.; OLG Hamm, r+s 1993, 335 f.; LG Düsseldorf, VersR 1992, 844; LG Dresden, VersR 1999, 204 f.).
III.
23. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
24. Der Streitwert für das Berufungsverfahren, der zugleich auch Wert der Beschwer der Klägerin ist, wird auf 19.814,84 DM festgesetzt (10.000 DM Schmerzensgeld, 3.814,84 DM materieller Schadensersatz und 6.000 DM Feststellungsbegehren).
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