Online Check-In und Reiserücktrittsversicherung

AG München: Online Check-In und Reiserücktrittsversicherung

Ein Fluggast checked am Tag des Fluges online ein. Noch bevor er sein Gepäck abgegeben hat, bemerkt er, dass er sich krank und nicht länger reisefähig fühlt. Er betritt den Flieger nicht und möchte stattdessen von seiner Reiserücktrittsversicherung Gebrauch machen. Das Luftfahrtunternehmen lehnt dies ab.
Das Amtsgericht München bejaht einen Anspruch auf Auszahlung der Versicherungssumme.

AG München 171 C 18960/13 (Aktenzeichen)
AG München: AG München, Urt. vom 30.10.2013
Rechtsweg: AG München, Urt. v. 30.10.2013, Az: 171 C 18960/13
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Amtsgericht München

1. Urteil vom 30.10.2013

Aktenzeichen: 171 C 18960/13

Leitsätze:

2. Der Check-In stellt einen Realakt dar und ist erst mit der Gepäckaufgabe am Schalter abgeschlossen.

Ein Online Check-In ist kein Check-In im eigentlichen Sinne und wird erst mit der tatsächlichen Gepäckaufgabe vor dem Abflug abgeschlossen.

Eine Reiserücktrittsversicherung kann nach einem Online Check-In und vor der Gepäckaufgabe in Anspruch genommen werden.

Zusammenfassung:

3. Der Kläger buchte bei der Beklagten, einem Luftfahrtunternehmen, einen Flug. Zu diesem buchte er auch eine Reiserücktrittsversicherung. Eine Reiserücktrittsversicherung kann in Anspruch genommen werden, wenn man aus einem wichtigen Grund, wie beispielsweise einer schweren Krankheit, die Reise nicht antreten kann. Folglich kann eine Reiserücktrittsversicherung nicht mehr in Anspruch genommen werden, wenn man die Reise angetreten hat. In der Regel wird der Reiseantritt erfüllt, wenn man den Check-In mit der Gepäckaufgabe abgeschlossen hat. Der Kläger der die Reiserücktrittsversicherung in Anspruch nahm, checkte online ein und hatte somit sein Gepäck noch nicht aufgegeben.
Nach Ansicht des Amtsgerichts München liegt bei einem Online Check-In kein Check-In im eigentlichen Sinne vor, da der Check-In mit der Gepäckaufgabe einen Realakt darstellen muss. Also kann nach dem Online Check-In und vor der Gepäckaufgabe die Reiserücktrittsversicherung in Anspruch genommen werden.

Tenor:

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 764,98 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.07.2013 zu bezahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Beschluss:

5. Der Streitwert wird auf 764,98 € festgesetzt.

Tatbestand:

6. Die Parteien streiten über Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte aus einem Versicherungsvertrag, der Risiken in Verbindung mit einem Reiserücktritt abdeckt.

7. Am 03.04.2013 buchte der Kläger bei der Firma … Flugdienst GmbH eine Flugreise für den Zeitraum zwischen dem 28.04.2013 und dem 17.05.2013 zu einem Gesamtpreis von 859,98 Euro (Anlage K1). Am Vormittag des 28.04.2013 nutzte der Kläger das Angebot der Fluggesellschaft zum sogenannten Online-​Check-​in. Im weiteren Verlauf des 28.04.2013 erkrankte der Kläger vor dem Abflug der Flugmaschine. Er war nicht mehr flugfähig und stornierte den Beförderungsvertrag mit der Firma … . Diese rechnete mit Stornorechnung vom 28.04.2013 dem Kläger gegenüber einen Betrag von 764,98 Euro ab (Anlage K2).

8. Die allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten für die Reiseversicherung lauten auszugsweise unter Ziffer 2 Unterziffer 2.1 (Anlage B1):

9. Der Versicherungsschutz für die einzelne Reise beginnt mit Buchung der Reise und endet mit dem Antritt der Reise, spätestens mit vereinbartem Ende des Versicherungsvertrags.

10. Der Sachverhalt ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Parteien streiten lediglich über die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts.

11. Der Kläger argumentiert, er habe den Flug aus medizinischen Gründen nicht in Anspruch nehmen können. Der Kläger habe die Reise durch den Online-​Check-​in nicht angetreten im Sinne der Versicherungsbedingungen.

12. Der Kläger beantragt daher, die Beklagte zur Zahlung von 764,98 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Punkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu verurteilen.

13. Die Beklagte beantragt Klageabweisung.

14. Die Beklagte argumentiert, daß der Kläger durch Vornahme des Online-​Check-​in am Vortag der Abreise die Reise angetreten habe. Eine Flugreise werde grundsätzlich mit dem Einchecken angetreten.

15. Das Gericht hat keine mündliche Verhandlung und keine Beweisaufnahme durchgeführt, vielmehr mit Zustimmung der Parteien im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs.2 ZPO entschieden.

16. Dabei hat das Gericht die folgenden Schriftsätze bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt: Auf Seiten des Klägers die Schriftsätze vom 15.07.2013, 06.09.2013 und 23.09.2013, auf Seiten der Beklagten die vom 22.08.2013, 12.09.2013 sowie 04.10.2013.

17. Wegen des weiteren Sachvortrags und der rechtlichen Argumentation der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

18. Die zulässige Klage erweist sich als vollumfänglich begründet.

19. Letztlich muss das Gericht darüber befinden, was unter dem Begriff Reiseantritt … im Rechtsverhältnis zwischen den Parteien zu verstehen ist. Das Gericht kann sich der Rechtsansicht der Beklagten nicht anschließen.

20. Das Gericht nimmt zur Kenntnis, daß die Rechtsprechung und die herrschende Meinung in der Literatur von dem Grundsatz ausgeht, daß mit der Durchführung des Check-​ins von einem Antreten der Reise durch den Reisenden auszugehen ist. Das Gericht kann sich dieser Ansicht durchaus anschließen. Das Gericht ist aber der Überzeugung, daß dieser Grundsatz nicht ohne maßgebliche Modifikationen auf die Situation des Online-​Check-​ins übertragen werden kann.

21. Der Online-​Check-​in ist eine relativ neue Option, die durch die technische Entwicklung des Internets geschaffen worden ist. Die von der Beklagten angeführten Entscheidungen entstammen einer Zeit, in der ein Online-​Check-​in schlicht noch nicht existierte. Insbesondere die Entscheidung des OLG Dresden vom 28.08.2011 (3 U 1338/01) hatte übereinen abweichenden Sachverhalt zu befinden. Der damalige Kläger befand sich bereits im Flughafen und war unmittelbar mit dem Vorgang des Eincheckens befasst. Die Entscheidung ist daher entgegen der Auffassung der Beklagten nicht einfach zu übertragen.

22. Um eine Entscheidung treffen zu können, ist es auch Sicht des Gerichts notwendig, sich mit dem Sinn und Zweck und den Hintergründen des Vorgangs Check-​in bei Flugbeförderungen zu befassen.

23. Der klassische Check-​in am Schalter im Abfertigungsgebäude eines Flughafens dient mehreren Zwecken. Vorrangig dient er der Gepäckaufgabe und der Übergabe einer Bordkarte (boarding pass). Diese Bordkarte benötigt der Reisende im weiteren Verlauf zunächst, um die Sicherheitskontrolle passieren und in den Sicherheitsbereich des Abflugterminals zu gelangen. Die Bordkarte wird ein weiteres Mal am Flugsteig (Gate) benötigt, um an Bord des Fluggerätes gelangen zu können. Weiterhin dienst der Check-​in am Schalter unter Umständen der Kontrolle diverser Unterlagen des Reisenden, wie zum Beispiel Reisepass und Visum.

24. Es handelt sich bei diesen Vorgängen zum einen um Maßnahmen, die notwendig sind, um eine Flugreise in einem Passagierflugzeug überhaupt faktisch durchführen zu können. Die Aufgabe von Gepäck ist unabdingbar, da das Gepäck in den Frachtraum der Maschine verbracht und fachmännisch verstaut werden muss, nicht zuletzt um die Sicherheit der Maschine gewährleisten zu können. Die Kontrolle der Identität und der Dokumente des Reisenden sowie die Aushändigung einer Bordkarte dienen der Befriedigung des gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses des Flugverkehrs, der in der Vergangenheit bedauerlicherweise wiederholt das Ziel terroristischer oder anderer krimineller Angriffe war. Der Vorgang des Eincheckens weist aber keine Inhärenz zur Durchführung einer Beförderung mittels einer Passagiermaschine auf. Er ist schlicht den Gegebenheiten des modernen Luftverkehrs geschuldet.

25. Das Gericht erachtet es als nicht statthaft, wegen dieser Besonderheiten des Luftverkehrs einen maßgeblich anderen Begriff des Reiseantritts zu schaffen. Bei Busverkehr oder Zugverkehr ist es anerkannt, daß die Reise mit dem Betreten des Beförderungsmittel oder spätestens mit der Einnahme eines Platzes angetreten wird. Es wird bislang nicht vertreten, daß bei einer Zugreise der Reiseantritt bereits mit dem Ausdrucken des Tickets und der Durchführung einer Sitzplatzreservierung erfolgt. Aber auch diese Schritte sind notwendig, um eine Zugreise ordnungsgemäß durchführen zu können. Nur weil eine Maßnahme notwendig ist, um eine vertraglich zugesagte Leistung in Anspruch nehmen zu können, bedeutet dies noch lange nicht, daß mit der Durchführung dieser Maßnahme bereits ein Teil der zugesagten Leistung in Anspruch genommen wird.

26. Der Online-​Check-​in dient maßgeblich den wirtschaftlichen Interessen der Fluggesellschaften. Diese können nämlich entsprechend Personal einsparen, wenn die Reisenden den Vorgang des Eincheckens in Eigenregie durchführen. Aus diesem Vorgang können nicht zwangsläufig Konsequenzen für das anderweitige Rechtsverhältnis zwischen dem Reisenden und seinem Versicherer abgeleitet werden. Mit dem Online-​Check-​in erklärt der Reisende der Fluggesellschaft gegenüber, daß er konkret beabsichtigt, die ihm vertraglich zustehende Beförderungsleistung auch abzurufen. Von einem faktischen Antritt der Reise kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß man bei diversen Fluggesellschaften (bspw. Easyjet) schon Wochen vor der Abflugzeit im Internet einchecken kann. Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß es angesichts der technischen Entwicklung keinen Sinn machen kann, die Definition des Begriffs Reiseantritt schematisch von dem Vorgang des Eincheckens abhängig zu machen. Angesichts der heutigen Möglichkeiten ist eine differenzierte Herangehensweise erforderlich. Das Gericht ist daher der Ansicht, daß der Reisende zumindest auch faktisch Leistungen der Fluggesellschaft in Anspruch genommen haben muss, die unmittelbar mit der Beförderung durch ein Fluggerät verbunden sind. So nimmt ein Reisender mit der Aufgabe von Gepäck am Flughafenschalter eine solche Leistung der Fluggesellschaft in Anspruch, da dieses Gepäck zum Zwecke der Beförderung in den Frachtraum transportiert wird. Weiterhin wird man von einem Reiseantritt ausgehen müssen, wenn der Reisende unter Vorlage seiner Bordkarte den Flugsteig passiert, um das Flugzeug betreten zu können. Ob man bereits von einem Reiseantritt sprechen kann, wenn unter Vorlage der Bordkarte die Sicherheitskontrolle zum Abflugbereich passiert wird, will das Gericht ausdrücklich offen lassen. Dies könnte auch eine interessengerechte Lösung darstellen, die bereits von einem Reiseversicherer in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgesehen ist. Das Gericht muss aber über diese Frage letztlich nicht abschließend befinden.

27. Das Gericht ist der Überzeugung, daß die Interpretation des Begriffs Reiseantritt, die die Beklagte ins Feld führt, nicht interessengerecht ist. Wenn die Beklagte diese Interpretation vertreten möchte, dann ist sie gehalten, diese Interpretation mit ihren Kunden vertraglich zu vereinbaren. Ob eine solche Vereinbarung auch formularmäßig durch Allgemeine Geschäftsbedingungen geschehen kann, kann dahingestellt bleiben.

28. Ein verständiger Kunde muss angesichts der Formulierung, die die Beklagten in ihren Allgemeinen Versicherungsbedingungen in Ziffer 2 Unterziffer 2.1 vorsieht, nicht damit rechnen, daß er durch bloße Durchführung des Online-​Check-​ins seinen Versicherungsschutz verliert.

29. Der Kläger kann zudem nach §§ 288, 291 BGB Prozeßzinsen ab Zustellung der Klageschrift geltend machen.

30. Die Kostenentscheidung wurde nach Maßgabe von § 91 Abs.1 ZPO getroffen.

31. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kostenentscheidung erging gemäß §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

32. Der Streitwert wurde gemäß § 3 ZPO und § 63 Abs.2 GKG auf 764,98 Euro festgesetzt.

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